Frau Ballmann, Ihren Buchtitel „Seelenprügel" fand ich als Vater ziemlich überspitzt. Fast habe ich den Eindruck, ich müsste nun ein schlechtes Gewissen haben, meinen Sohn heute morgen in die Kita gebracht zu haben.
Nein, die meisten Erzieherinnen und Erzieher machen einen tollen Job, der viel Anerkennung verdient. Mir geht es vielmehr um die schwarzen Schafe, die die Kinder beschimpfen, demütigen und damit geradezu quälen. Sie schaden mit ihrem Verhalten den Kindern und ihren Kollegen - und zwar massiv. Mein Buch ist kein Pauschalurteil gegenüber Kitas oder Pädagogen. Deshalb zu Ihrer Frage: Nein, Sie müssen kein schlechtes Gewissen haben, Ihr Kind in die Kita zu geben. Dort ist es gut aufgehoben, jedenfalls wenn der Betreuungsschlüssel stimmt und dort Menschen arbeiten, die ihren Beruf lieben.
Was genau verstehen Sie unter Seelenprügel?
Seelenprügel sind tiefe psychische Verletzungen wie ständige Demütigungen, Isolation, gewaltvolle Worte, erniedrigendes Verhalten und Ausüben von Druck. Dazu zählt auch das Anschreien von Kindern, abschätzende Blicke, der Zwang zum Essen, zum Schlafen und auch zur Teilnahme an Angeboten, an denen ein Kind nicht interessiert ist.
Haben Sie dafür ein paar Beispiele, die Sie erlebt haben?
Ich war in den vergangenen 10 Jahren in über 500 Kitas und habe sehr oft erlebt, dass Kinder zum Essen probieren und zum Essen gezwungen wurden oder auch nicht so viel essen durften, wie sie wollten. Kindern wurde, wenn sie etwas nicht konnten, erklärt, dass „nie etwas aus ihnen wird", sie mussten im Flur „Strafe sitzen" und beispielsweise auch alleine im Schlafraum sein. Oft wurden sie vor einer ganzen Gruppe gedemütigt mit Worten wie „das ist ja wieder typisch Hans, der wird es nie lernen!".
Woran können Eltern eine gute Kita erkennen?
Eltern sollten sich auf ihr Gefühl verlassen. Wie ist die Stimmung innerhalb der Kita, treffen sie auf fröhliche Erzieherinnen und Erzieher? Hätte man selbst Lust, dort mehr Zeit zu verbringen? Sind die Kinder fröhlich und spielen ausgelassen oder hört man viel Geschrei und Weinen? Ich persönlich achte auch auf Pflanzen oder das schwarze Brett. Sind diese Sachen gepflegt, ist das für mich ein Zeichen dafür, dass die Pädagogen genug Zeit haben, um sich auch um die Kita zu kümmern und nicht völlig am Limit arbeiten müssen. Solche Kleinigkeiten geben erste Hinweise auf die Qualität.
Zur Person: Anke Elisabeth Ballmann setzt sich seit über 25 Jahren für kindgerechtes Lernen und gewaltfreie Pädagogik ein. 2007 gründete sie das Institut Lernmeer für die Fort- und Weiterbildung pädagogischer Fachkräfte. © Quelle: Hannelore Kirchner
Wann beginnt aus Ihrer Sicht psychische Gewalt und wann ist es „nur" ein pädagogischer Ausrutscher? Manchmal schimpfe ich ja auch als Vater unbegründet mit meinem Sohn, weil ich es morgens eilig habe oder abends müde werde.
Solche Situationen sind sehr menschlich, auch für Pädagogen. In Zeiten des Fachkräftemangels arbeiten viele Kolleginnen und Kollegen am Rande der Belastungsgrenze. Gerade unter Stress reagieren wir alle nicht immer pädagogisch angemessen. Aber dann entschuldigt man sich und ist sich seines Fehlers bewusst. Das ist ein klarer Unterschied zu Seelenprügeln. Psychische Gewalt wird es immer dann, wenn die „Ausnahme" zur Regel wird, wenn ich tagtäglich Kinder demütige, anschreie oder vor die Tür setze. Das ist vor allem eine Frage der Haltung. Es kann nicht sein, dass Pädagogen von oben herab auf die Kinder blicken, ihnen unsere Regeln aufdrücken wollen und sie dann hart und unangemessen bestrafen, wenn sie diese nicht befolgen. Pädagogische Arbeit in der Kita braucht keine Strafen.
Psychische Gewalt wird es immer dann, wenn die „Ausnahme" zur Regel wird, wenn ich tagtäglich Kinder demütige, anschreie oder vor die Tür setze.
Ist diese Haltung eine Frage von Alter und Sozialisierung? Ich habe das Gefühl, dass an vielen Fachschulen den Kindern auf Augenhöhe zu begegnen ein zentrales Thema ist.
Das dachte ich auch zuerst. Allerdings erlebe ich in meinen Fortbildungen und bei Besuchen in Einrichtungen auch immer wieder junge Pädagoginnen und Pädagogen, die sich ihres Fehlverhaltens nicht einmal bewusst sind. Sie kennen einfach keine Alternative zum Anschreien oder Vor-die-Tür-Setzen. Ein weiteres großes Problem: Viele Berufseinsteiger haben nicht gelernt, ihr Handeln und das ihrer Kolleginnen ausreichend zu reflektieren. Sie kommen in eine neue Einrichtung und nehmen es als „gegeben" hin, dass Kinder gedemütigt, angeschrien oder beim Essen mit einem auf das Lätzchen gestellten Teller fixiert werden. Über die Folgen solch psychischer Gewalt wird in der Ausbildung einfach viel zu wenig gesprochen.
Viele Berufseinsteiger haben nicht gelernt, ihr Handeln und das ihrer Kolleginnen ausreichend zu reflektieren.
Woran merken Eltern, dass ihr Kind psychischer Gewalt ausgesetzt ist?
Vor allem am Verhalten der Kinder. Und dafür haben die meisten Eltern ein sehr gutes Gespür. Wenn sich Kinder zurückziehen, ängstlicher werden oder morgens gar nicht mehr in den Kindergarten wollen, sind das Alarmzeichen, denen man nachgehen sollte - gerade, wenn es in der eigenen Familie keine größeren Umbrüche gab. Manche Kinder zeigen auch körperliche Symptome, klagen häufig über Bauch- oder Kopfschmerzen. Außerdem sollten Eltern genau hinhören, was ihre Kinder von der Kita erzählen, und im Zweifel am nächsten Tag bei den Erzieherinnen nachfragen.
Was müsste sich ändern, um psychische Gewalt effektiver zu verhindern?
Es muss bessere Schutzkonzepte geben. Man muss zum Beispiel stärker auf die „Gefahrensituationen" schauen und neue Strategien entwickeln. Die Klassiker sind Essen, Schlafen, Wickeln. Hier braucht es positive Ansätze, um die Abläufe möglichst kindgerecht und entspannt zu gestalten. Auch einen gemeinsam entwickelten Verhaltenskodex für den Umgang mit Kindern, Eltern und Kollegen sollte jede Einrichtung haben. Dazu kommt eine aktive Feedback-Kultur, in der die Teams offen über ihre Arbeit sprechen können. Zusätzlich ist ein Beschwerdemanagement wichtig. So können Kolleginnen, die etwas beobachten, das anonym ansprechen. Auch für Kinder sollte es dieses Angebot geben. Außerdem müssen wir die Erzieherinnen und Erzieher viel stärker über psychische Gewalt und ihre Folgen aufklären. Das alles würde helfen, um Seelenprügel zu verhindern.
Wenn nur eine halbe Stunde für das Essen bleibt, kocht die Stimmung schnell mal hoch. Dann wird mal schneller gefüttert, auch gegen den Willen, zum Probieren gezwungen, viel geschimpft.
Buchtipp: Anke Elisabeth Ballmann: „Seelenprügel". Kösel-Verlag. 288 Seiten, 20 Euro. © Quelle: Kösel-Verlag
In ihrem Buch fällt immer wieder das Wort „kindgerecht". Wie lässt sich denn der Kita-Alltag kindgerecht gestalten?
Wir sollten viel häufiger die Kinder nach ihrer Meinung und ihren Wünschen fragen. Stattdessen haben immer mehr Kindertagesstätten einen straffen Zeitplan, wann was zu geschehen hat, ist streng vorgeschrieben. Das erinnert mich mehr an Stundenpläne aus der Schule als an freie und kreative Entfaltung für Kleinkinder. Genau das erzeugt Stress für Pädagogen und für die Kinder. Wenn nur eine halbe Stunde für das Essen bleibt, kocht die Stimmung schnell mal hoch. Dann wird mal schneller gefüttert, auch gegen den Willen, zum Probieren gezwungen, viel geschimpft. Das alles ist Machtmissbrauch.