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Tabus sind Kacke

Ist ein lockerer Umgang mit Fäkalien geschmacklos? Nicht, wenn er dabei hilft, die Scham zu überwinden und damit vielen Menschen das Leben zu retten.

Ein neues Klo ist in Japan ein Grund zur festlichen Freude: Wird in privaten Haushalten eine Toilette eingeweiht, überreicht man sich gerne Figürchen. Dazu gibt es Reiskuchen und grünen Tee. Die Geschenke ähneln kleinen Buddha- Statuen oder kommen gleich in Form eines vergoldeten Häufchens. So oder so sind sie eine Erinnerung an die Ehrfurcht gebietenden Defäkier-Begleiter - die „Kawaya Kami". Diese Toilettengötter wachen streng darüber, dass Japaner das heilige Örtchen nicht mit Sauereien entweihen, und sei ihre Notdurft noch so dringend. Sauberkeit als oberstes Gebot. Nicht zuletzt deshalb gilt Japan, neben Südkorea, als das Land mit den höchstentwickelten Toiletten. Von der automatischen Deckelöffnung über Massage-Schüsseln samt Sitzheizung bis zu smarten Klos mit automatisch gesteuertem Wasserstrahl: WCs made in Japan haben oftmals technische Funktionen, die gängige Varianten mit westlichem Standard aussehen lassen wie stille Örtchen kurz nach der Steinzeit. „Weil der Gott der Toiletten stets an unserer Seite ist, haben wir Hightech-Toiletten entwickelt", sagt Gyoshin Nakajima, Mönch des Myotokuji-Tempels in Kyōto, in der ARTE-Doku „Das Toiletten-Tabu". „Dieser Gott hat die Macht, Schmutziges rein zu waschen." 


Gottesfurcht hin oder her - die hygienischen Standards in Japan gelten schon lang als vorbildlich. Global betrachtet aber sind sie eher Ausnahme als Regel. Mehr als ein Drittel der Weltbevölkerung hat nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) auch zu Beginn des 21. Jahrhunderts keinen Zugang zu sauberen Sanitäreinrichtungen. Rund 700 Millionen Menschen haben überhaupt keine Toiletten und erleichtern sich in der freien Natur. Besonders betroffen von diesen Missständen sind vor allem Teile Asiens, darunter Indien, Nepal und Bangladesch, sowie zahlreiche afrikanische Länder. Aber auch manchen südamerikanischen Staaten wie Peru und Bolivien mangelt es teils an standardisiertem Klo-Komfort. Die WHO schätzt, dass wegen fehlender Toilettenhygiene jedes Jahr knapp eine halbe Million Menschen allein an Durchfallerkrankungen stirbt - mehr als die Hälfte davon Kinder. Hinzu kommen Tote durch Infektionskrankheiten wie Typhus, Cholera und Hepatitis. 


Im September 2015 haben die Vereinten Nationen 17 Ziele für nachhaltige Entwicklung verabschiedet. Eines davon lautet: saubere Toiletten für alle Menschen bis 2030. Die vielleicht größte Hürde hierfür ist die Scham, die biologisch notwendige Darmentleerung zu thematisieren, die jeden Menschen auf der Welt naturgemäß ereilt. „Das ist unser letztes Tabu. Niemand will über Toiletten sprechen", sagt Jack Sim in der ARTE-Doku. Der in Singapur geborene Gründer der Welttoilettenorganisation (WTO) gilt als Vorreiter im Kampf um die Enttabuisierung des Fäkalen und hilft Staaten und Organisationen dabei, groß angelegte Sanitärprojekte zu realisieren. „Ich spreche gern über Toiletten, denn wenn wir das nicht tun, können wir sie auch nicht verbessern", sagt der Mann, der stolz zwei Spitznamen trägt: „Mr. Toilet" und „Mr. Shit". Auch der Welttoilettentag, den die UN jedes Jahr am 19. November ausrufen, geht auf Sims Engagement zurück. 


 Wie schwierig es ist, über Generationen gefestigte WC-Gepflogenheiten zu ändern, zeigte sich in den vergangenen Jahren besonders deutlich in Indien. Im Rahmen der Kampagne „Swachh Bharat" („Sauberes Indien") ließ die Regierung von Ministerpräsident Narendra Modi im ganzen Land im Hauruck-Verfahren Hunderttausende Toilettenhäuschen bauen. Bilder von Menschen, die ihre Exkremente entlang zugemüllter Bahnschienen oder an Flussufern hinterlassen, und Geschichten von Frauen, die beim Gang zur Toilette im Freien Angst vor Übergriffen haben, sollten der Vergangenheit angehören. Doch laut einer Untersuchung des Research Institute for Compassionate Economics (RICE) in mehreren ländlichen Regionen bleiben sehr viele der Toiletten ungenutzt. Viele der 1,3 Milliarden Inder empfinden ein WC als etwas zutiefst Unreines, dem ein erleichternder Gang an der frischen Luft jederzeit vorzuziehen ist. „Die neu gebauten Toiletten erfordern deshalb umfassende Aufklärung. Und wir müssen dafür mehr Reinigungs- und Service-Personal schulen", sagt Sim, dessen WTO auch die indische Regierung bei ihren Bemühungen unterstützt. „Wenn die Menschen erst einmal in den Genuss wunderbar sauberer Toiletten kommen, werden sie diese Erfahrung überall erwarten." Dass so ein Imagewandel gelingen kann, hat Sim bereits einmal erfahren - in seiner Heimat Singapur. Dort wuchs er in den 1960ern noch mit Nachttopf und Plumpsklo auf. Heute zählt die Metropole zu den saubersten Städten der Welt und kann, was die Toiletten-Hygiene betrifft, sogar mit Japan mithalten. Nicht ein Gott, sondern der Staat wacht hier streng über die Schüsseln: Wer Urin und Kot nicht spült, zahlt in Singapur umgerechnet 100 Euro Strafe.

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