Bernd Schlupeck

Freelance Journalist, Munich

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Der digitale Einfluss - Wo Wasser fließt, fließen bald jede Menge Daten

Ohne Mike geht in der dänischen Stadt Århus kaum etwas. Mike sorgt dafür, dass die knapp 300.000 Einwohner im Hafenbereich baden können, ihr Abwasser problemlos aufbereitet wird und trotz Regen der innerstädtische Fluss sauber bleibt. Mike ist kein Mensch, sondern eine Modellierungssoftware, und es sind eigentlich vier verschiedene, gekoppelte Lösungen mit diesem Namen im Einsatz. Sie bilden den Kern eines innovativen Entwässerungssystems, das seit 2013 seinen Dienst verrichtet.


„Stellen Sie sich Folgendes vor: Es ist übermäßig viel Regen angekündigt und wir können das Entwässerungsystem von zentraler Stelle in Echtzeit steuern", sagt Richard Vestner, Digital-Chef des Softwareentwicklers und Ingenieurdienstleisters DHI. „Mit den Niederschlagsdaten wissen wir, wie viel Wasser kommt. Und lenken es dann gezielt in ausgewählte Speicherbecken." Schließlich werde das zusätzliche Volumen in optimalen Portionen zu den Klärwerken geleitet. Ohne die Flüsse zu verunreinigen.


Was Vestner damit zeigen will, folgt dem Konzept „Wasser 4.0" und hält auch hierzulande Einzug. Gemeint ist die Digitalisierung von Wasserversorgung und -entsorgung, sowohl auf kommunaler als auch industrieller Ebene. Reale und virtuelle Welt verschmelzen - wie in einer Fabrik im Sinne der Industrie 4.0. Ziel ist ein zentrales Wassermanagement in Echtzeit, das ausfallsicherer, günstiger, und vor allem energieeffizienter als bisher funktioniert.


Kommunen und Unternehmen müssen dabei unterschiedliche Aufgabe meistern. So kämpfen Städte aufgrund des Klimawandels mit spontanen Starkregenereignissen, die in weniger als einer Stunde Regenwasserrückhaltebecken zum Überlaufen bringen oder Kläranlagen mit zu viel Schmutz überfordern. Hinzu kommt, dass die Wasserinfrastruktur mehr belastet wird als früher, weil zunehmend mehr Menschen in Städten wohnen und mit Wasser versorgt werden wollen. Und meist hängen noch in der Region ansässige Unternehmen am Netz.


Die Industrie muss ihrerseits die Versorgung mit Wasser an die Produktion anpassen. Diese soll schließlich „4.0" sein. Wird flexibel produziert, muss auch flexibel Wasser zum Kühlen, Spülen oder als Lösemittel zur Verfügung stehen. Zudem verwenden die chemische und biotechnologische Industrie teilweise Wasser in Produkten, eine hohe Wasserqualität ist da unerlässlich. Fast noch wichtiger ist die flexible Abwasserentsorgung, gerade hier müssen Stillstände vermieden werden. Eine Vision ist auch, Wertstoffe oder gar Energie aus dem Hilfsstoff zurückzugewinnen.


Momentan steckt die Wasserwirtschaft aber noch in den Kinderschuhen beim Thema Digitalisierung. Laut „Monitoring-Report Wirtschaft Digital 2017" im Auftrag des Bundesministeriums für Wirtschaft gehört die Wasserversorgungsbranche zu den mittelmäßig digitalisierten Wirtschaftszweigen. Allerdings bescheinigt eine Studie der Universität Hof unter 450 Unternehmen, dass die Branche „überwiegend bereit" ist, sich Neuem zu öffnen. Wie stark die kommunale Wasserwirtschaft in Deutschland bereits digitalisiert ist, wird aktuell im Projekt „Kommunal 4.0" untersucht. Erste Ergebnisse deuten darauf hin, das es überwiegend Insellösungen gibt. Werkzeuge zum Modellieren und Simulieren von Prozessen aber noch wenig verbreitet sind.


Ob Unternehmen oder Kommune, vieles funktioniert schon digital. „Wir haben heute schon vereinzelt intelligente Wasserzähler oder Pumpen mit Sensoren, die anzeigen, wenn sie gewartet werden müssen", sagt Günter Müller-Czygan, Projektleiter von „Kommunal 4.0". „Wir wollen mehr und mehr das Kanalnetz mit Hilfe von Sensoren überwachen. Werden Lecks gemeldet, können die betroffenen Bereiche automatisch abgesperrt werden." Zudem arbeiten Kläranlagen standardmäßig mit Prozessleitsoftware, um Betriebsabläufe effizient und wirtschaftlich zu gestalten, „aber noch nicht vorausschauend".


Letzteres ist auch bei produzierenden Unternehmen Standard, weiß Thomas Track. Er ist bei der Dechema (Gesellschaft für Chemische Technik und Biotechnologie) zuständig für den Bereich Wasser: „Wasserversorgungs- und Abwasserbehandlungsanlagen der Prozessindustrie werden bereits miteinander verknüpft. Dabei werden Parameter wie Füllstand, Durchfluss, Temperatur und Schadstoffbelastung via Sensoren kontrolliert." Außerdem kämen frequenzgesteuerte Pumpen zum Einsatz, um das System im optimalen Wirkungsbereich zu fahren.


4.0 ist das aber noch alles nicht. Keine Frage, mit den anfallenden Daten sind effizientere Abläufe als früher möglich. Allerdings werden sie teilweise eher gesammelt als umfassend genutzt. Das Gesamtsystem bleibt starr. Thomas Track vergleicht es mit einem Auto-Motor, der hochdreht, abbremst und wieder hochdreht. „Wir müssen wegkommen von der reinen Zustandsüberwachung hin zu einem dynamischen Betrieb des Gesamtsystems, abhängig vom Bedarf", ergänzt Peter Gebhart vom Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau (VDMA), Fachabteilung Wasser- und Abwassertechnik. Gerade im industriellen Wassersektor gelte es, eine Vielzahl unterschiedlicher Prozessströme integriert zu betrachten.


Was es dazu braucht, sind vernetzte Komponenten, etwa Pumpen, die nicht nur Daten sammeln, sondern empfangen können. Schritt zwei ist, die entsprechenden Komponenten in Leitsysteme zu integrieren, um Betriebszustände in Echtzeit zu charakterisieren und anzupassen. Darüber hinaus braucht es je nach Anwendung zusätzliche Signale: Für die Industrie können das Informationen optischer, akustischer oder Geruchssensoren sein. Für die Kommune sind Daten zu Wetter, Regen, Gezeiten oder Boden wichtig. Außerdem wird Software benötigt, um die Daten zu verknüpfen, darin Muster zu erkennen und zu visualisieren; vielleicht in Form eines „digitalen Zwillings", an dem Betriebsabläufe vorab durchgespielt werden können.


„Es geht um die Wassereffizienz, also darum, wie wir die knappe Ressource möglichst ohne Verluste nutzen und verteilen", so Oliver Hermes. Wie das aussehen könnte, erläutert der Vorstandsvorsitzende des Pumpenherstellers Wilo anhand der Abwasserentsorgung in einer Wohnsiedlung: „Bislang hatten wir dort Hauptpumpen, die unabhängig vor sich hingearbeitet und ab einem fixierten Füllstand Wasser bewegt haben. Wir haben dann ein zentrales System aufgesetzt mit vernetzten Pumpen der neuesten Generation, die sich untereinander absprechen." Unterm Strich arbeiteten die Pumpen je nach Abwasseranfall - mit dem Ergebnis, dass weniger Energie verschwendet wird und die Pumpen länger halten.


Kommunikation steht auch im Mittelpunkt einer Lösung, die im Projekt „Kommunal 4.0" auf der niedersächsischen Kläranlage Söllingen erprobt wird. Damit der Betreiber bei Starkregen besser auf zusätzliche Wassermengen vorbereitet ist, greift er auf eine Web-Plattform namens NiRA.web zurück. Sie sammelt lokale, bis auf einen Quadratkilometer genaue Regendaten, gleicht sie mit vergangenen Ereignissen ab und erstellt eine Prognose. „NiRA.web ist unser Regensensor in den Wolken, wenn man so will. Die Daten gehen an den Betreiber, der sie mit Pumpen von Rückhaltebecken verknüpft, die dann entsprechend tätig werden", so Günter Müller-Czygan.


Wie die zeigen, sind die Ansätze individuell. Um so wichtiger ist es, dass Komponenten unterschiedlicher Hersteller künftig in unterschiedlichen Systemen funktionieren. Dafür müssen sie sich zu erkennen geben, die gleiche Sprache sprechen und sich ausreden lassen. Deshalb arbeitet der VDMA aktuell an einem offenen Standard für Maschinenkommunikation von Pumpen. Dazu kommt ein weiterer Aspekt. „Viele Unternehmen fragen auch nach dem wirtschaftlichen Nutzen, der Sicherheit und wo die Mitarbeiter herkommen sollen", Peter Gebhart vom VDMA.


Zahlen zum wirtschaftlichen Nutzen sind schwer zu bekommen. Thomas Track von der Dechema sieht für die Prozessindustrie mit dem aktuell praktizierten integrierten Wassermanagement ein Einsparpotenzial von 20 bis 30 Prozent. „Das steigt, wird das Thema gemäß unseres Konzepts ‚IndustrieWasser 4.0' digital umgesetzt." Für sein Beispiel der Abwasserentsorgung in Siedlungen rechnet Oliver Hermes mit einer hohen Anfangsinvestition. „Diese hat sich aber durch Energieeinsparungen von bis zu 20 Prozent und höherer Betriebssicherheit gegenüber einem herkömmlichen, ungeregelten System nach drei bis fünf Jahren amortisiert."


Robert Holländer, Professor für Umwelttechnik in der Wasserwirtschaft an der Universität Leipzig, ist skeptischer: „Hinter das Versprechen der Industrie, dass alles nun billiger und effizienter wird, setze ich ein Fragezeichen. Mehr Aggregate mit mehr Elektronik könnten künftig auch mehr Wartung bedeuten." Aus seiner Sicht besteht der Mehrwert der Digitalisierung darin, wasserwirtschaftliche Systeme besser zu beherrschen und so eine zusätzliche Qualität im Gesamtsystem zu verankern.


Auch die Forderung nach Sicherheit ist Robert Holländer zufolge nicht zu unterschätzen. Denn durch die Digitalisierung sind Systeme mit einem Netzwerk verbunden. Laut Lagebericht zur IT-Sicherheit 2017 des Bundesamts für Sicherheit in der Informationstechnik waren 2017 aber auch Wasserwerke Ziele von Hackerangriffen. Mehrere Steuerungssysteme seien offen und aus dem Internet einsehbar gewesen. Die Betreiber hätten dies nicht bemerkt, sagen die Experten. Seit Juni 2017 gibt es den Branchenstandard ISO 27001, der präzisiert, wie ein sicheres IT-Managementsystem in Organisationen aussehen muss.


Womit man bei den Fachkräften wäre. Weil die erst einmal gefunden werden müssen, lohnt es sich, vorhandenes Personal weiterzubilden und so die Kompetenz schon im Haus zu haben. Das Einbinden und Weiterbilden von Mitarbeitern spielte auch in Århus eine wichtige Rolle. „Sie müssen das System letztendlich verstehen", betont Richard Vestner. Er ist davon überzeugt, dass die Umsetzung eines ähnlich vollständigen Konzepts auch bei den deutschen Nachbarn nur eine Frage der Zeit sei.

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