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Doktor - Den Titel verteidigt

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Vom damaligen Bundeskanzler Helmut Kohl, berüchtigt für seine Bescheidenheit und sein heiteres und nahbares Wesen, ist der folgende kleine Ausfall dokumentiert.

Auf einer Pressekonferenz möchte ein Journalist eine Frage stellen: "Herr Kohl..."

Herr Kohl unterbricht sogleich.

"Für Sie bin ich nicht der Herr Kohl."

"Herr Dr. Kohl."

"So", sagt, halbwegs besänftigt, der Herr Dr. phil. Dr. h.c. mult. Helmut Josef Michael Kohl. Ordentlich muss es zugehen in einem Gespräch zwischen Herr und Knecht.

Es sind Szenen, die wie aus einer anderen Zeit wirken. Von Franziska Giffey sind derlei Beharrungen auf ihren Titel nicht bekannt. Dass die Familienministerin in einem früheren Leben einmal promoviert hat, dürfte vielen Menschen nicht einmal bewusst gewesen sein, ehe die Freie Universität Berlin erklärte, sie wolle die Doktorarbeit auf Plagiate untersuchen.

Erstaunlich ist aber vor allem, wie ruhig es selbst danach noch blieb. Die Hoffnungsträgerin der Sozialdemokratie hat womöglich abgeschrieben? Falsch zitiert? Kopiert? Plagiiert? Was soll's. Seit Karl-Theodor zu Guttenberg gab es diverse Doktoraffären, über die reihenweise Politiker stürzten, doch bei Giffey schien der mutmaßliche akademische Schummel keinen rechten Skandal mehr herzugeben. Der Verdacht hielt diesmal selbst manche Beobachter nicht davon ab, Giffey freimütig als SPD-Vorsitzende ins Gespräch zu bringen. Die nun erteilte Rüge, eine Rüge immerhin und nicht nichts, scheint keinerlei Karrierehemmnis darzustellen. Ist man in Deutschland inzwischen so gleichgültig geworden, was akademisches Fehlverhalten angeht? Sollte man sich Sorgen machen?

Eine sämtliche Lebensbereiche umfassende Würde und Erhabenheit

Man könnte auch auf die Idee kommen, dass sich die Ruhe als Zeichen des Fortschritts deuten ließe: Der erschummelte Doktor eignet sich nicht mehr als Aufreger, weil sich auch der echte Doktor als gesellschaftliches Abgrenzungsmerkmal abgenutzt hat. Die Affären von Guttenberg bis Schavan bezogen ihre Wucht noch aus der Glorifizierung der Promotion als Zeichen einer vermeintlich sämtliche Lebensbereiche umfassenden Würde und Erhabenheit. Inzwischen wäre der Doktormensch womöglich schlicht entzaubert, seine Insignien der Überordnung wären ermattet und Deutschland hätte sich zu Beginn des 21. Jahrhunderts endlich von einem Relikt des mittelalterlichen Ständestaates verabschiedet. Innerakademisch mag jedes Plagiat ein Krisenfall bleiben. Außerhalb würde ein Doktortitel und sein Entstehungshintergrund so viel Ehrfurcht und Empörung auslösen wie die Frage, im wievielten Anlauf eine Familienministerin die Führerscheinprüfung bestanden hat.

So könnte man sich einen Reim auf die Nicht-Aufregung im Fall der Familienministerin machen. Aber in Wirklichkeit steht die Ruhe vielleicht sogar für die gegenteilige Entwicklung: Subtil hat sich der Doktor immunisiert gegen die Vorhaltungen, die man ihm nach all den Affären und Skandalen und übertriebenen Anbetungen machen kann. Die Titelhuberei tritt zurückhaltender auf, ihr ist dafür aber umso schwerer beizukommen. Doctor aeternitas.

Der deutsche Kult um den Grad ist grotesk. Jenseits des Wissenschaftskosmos, in dem die Promotion vor allem als Karriereetappe auf dem Weg zur Professur dient, hat der Doktor keinen beruflichen Eigenwert. Es gibt kaum einen Posten außerhalb der Hochschule, der eine Promotion als formale Zugangsvoraussetzung verlangt. Im Kern unterscheidet den Doktor nichts von anderen Abschlüssen und Prüfungsnachweisen. Wer an einer Schule unterrichten will, muss erst durchs Referendariat. Wer etwa im Frisörhandwerk die Meisterprüfung antreten will, benötigt erst einmal den Gesellenbrief. Niemand wird dadurch zu jemandem, der sich von anderen als der Herr Frisörmeistertitelträger anreden ließe.

Der Könige und sein Hofstaat

Die deutschen Universitäten lassen zehn- bis fünfzehnmal mehr Menschen promovieren, als sie selbst dauerhaft brauchen, rund 28 000 Promotionsurkunden stellen sie mittlerweile Jahr für Jahr aus, eine im internationalen Vergleich wahnwitzige Zahl. Was soll diese Verschwendung? Was ist ihr Sinn? "Der Sinn des heutigen Doktorats", schrieb schon 1930 der Berliner Wirtschaftsprofessor Ignaz Jastrow, "liegt in seiner Überflüssigkeit."

Im Wissenschaftsbetrieb werden die allermeisten Doktoranden auf Dauer nicht gebraucht und das trägt dazu bei, dass die deutsche Universität das starre hierarchische Gebilde bleibt, das sie seit Jahrhunderten ist. Da gebieten Könige mit Lebenszeitverbeamtung über einen Hofstaat prekär beschäftigter Promovierender. Oben stehen mit allen Privilegien des akademischen Lebens bis zum Ruhestand die wenigen, und unten werden immer aufs Neue die vielen ihnen Untergebenen durchgeschleust. In angloamerikanischen Hochschulen sind die Verhältnisse egalitärer, es gibt viele Professoren und einige Menschen, die bald Professorinnen sein werden, aber kaum dieses Heer der Doktoranden, die der Wissenschaft mangels Perspektive irgendwann den Rücken kehren müssen.

Dass der Doktor hierzulande exzessiv die Klingelschilder und Briefbögen ziert, kann man natürlich als versnobte Unsitte abtun, als einen persönlichen Charaktermangel. Aber es ist auch schlicht eine Folge dieses Systems: Dass die Doctores wie kleine Könige in der weiten Welt der Nichtpromovierten stolzieren, hängt damit zusammen, dass die Königsposten in der Universität den meisten vorenthalten bleiben müssen, damit die steilen Hierarchien gewahrt werden können. So mittelalterlich die deutsche Universität im Innern funktioniert, so mittelalterlich ist auch der Umgang mit dem Doktor außerhalb, beides bedingt einander.

Der Nimbus des Titels speist sich auch aus seiner Jahrhunderte alten Tradition: Der Doktor ist der einzige akademische Grad, der seit der Gründung der ersten Universitäten überlebt hat, ein Überbleibsel aus längst vergangenen Tagen. Die Diplomverwaltungswirte und Diplomingenieure, die Staatsexamen in Medizin und Jura, die Bachelor of Science und Master of Arts sind alle jüngeren Datums und wirken damit eher menschengemacht und zweckrational. Wer den Doktortitel in grauer Vorzeit erfunden hat und wofür genau, das kann niemand mehr so recht erklären. Fußt die Tradition auf den Offenbarungen irgendeines vergessenen Propheten? Haben außerirdische Besucher den Titel dereinst ins mittelalterliche Mitteleuropa gebracht? War es Gott selbst? Der vernebelte Ursprung macht den Doktor zum Mythos und damit auch so geeignet als Symbol der Ungleichwertigkeit.

Mysteriös ist für die Uneingeweihten ja auch, was der Doktortitelträger da eigentlich jahrelang getrieben hat. Diese Vergeudung von Lebenszeit für eine Promotion ist rational niemandem erklärlich und der Inhalt für Außenstehende unverständlich, solange sie sich nicht selbst zu einer Promotion zum gleichen Thema entschließen. Da beschriftet jemand hunderte Seiten mit vorsichtigen Antwortansätzen und unlösbaren Folgefragen zu einer Unterfrage eines Teilaspekts einer Spezialfrage eines Nischenproblems, dessen Lösung ansonsten nur einem darüber einsam und verrückt gewordenen Gelehrten im verstaubten Büro eines Hinterhofinstituts irgendwo im nirgendwo noch ein ernsthaftes Anliegen ist. Es ist fast so, als müssten die Abwegigkeit und Profanität des ganzen Unterfangens einer Promotion verschleiert und überkompensiert werden durch eine fast religiöse Verehrung des dafür verliehenen Grades. Je weniger Mitmenschen die Früchte jahrelanger Forschungsarbeit lesen, desto mehr Mitenschen sollen doch bitte die daraus resultierenden zwei Buchstaben vor dem Namen zur Kenntnis nehmen.

Vorname Dracula?

Es gibt Untersuchungen zur Frage, ob Doktoren immer noch mehr verdienen als Nichtpromovierte ( tun sie), ob sie häufiger in Elite- und Führungspositionen gelangen ( tun sie) und ob ihr Job bei derartigen Privilegien wenigstens inhaltlich an das Dissertationsthema anknüpft (bei mehr als der Hälfte der Beschäftigten außerhalb des Wissenschaftsbetriebs: überhaupt nicht). Empirisch belastbare Zahlen darüber, wie häufig im gesellschaftlichen Umgang mit dem Doktortitel geklappert und wie viel Ehrerbietung ihm im Alltag entgegengebracht wird, fehlen dagegen weitgehend. Die Beschwörung des Titels in der Anrede, auf Türschildern, Visitenkarten, Briefköpfen wird statistisch nicht erfasst. Kein Doktorand hat sich bisher die Mühe gemacht, sie zu erforschen. Aber es gibt Indizien.

Das Karrierenetzwerk LinkedIn, für viele eine Art digitale Visitenkarte, stellt nach einem Blick in seine Mitgliedsdaten fest, man könne für die letzten Jahre "keine signifikante Veränderung feststellen, was die Nutzung von Doktortiteln anbelangt", allen Plagiatsdebatten zum Trotz. Und unverändert dürfen die Promovierten in Deutschland mit ihrer Promotionsurkunde direkt ins nächste Bürgeramt marschieren und den Doktor in die Ausweispapiere eintragen lassen. Es ist nicht ganz leicht zu ermitteln, wie viele Menschen das tatsächlich tun, das Risiko in Kauf nehmend, bei einer Grenzkontrolle für eine Person mit einem rätselhaften Vornamen gehalten zu werden ("What does Dr mean? Dracula?"). Immerhin der Berliner Senat kann auf Anfrage mitteilen, dass im dortigen Personalausweisregister derzeit 6 071 Personen mit einem Doktorgrad erfasst sind. Bei 66 000 Promovierten in der Stadt wollte also gut jeder Zehnte den amtliche Vermerk. Als hätten die Beschäftigten der Meldeämter nicht schon genug zu tun.

Keine andere Prüfungsleistung kann im Personalausweis aufgeführt werden. Wozu auch? Diese Vorzugsbehandlung, die ähnlich mühevollen beruflichen Verdiensten vorenthalten bleibt, selbst dem Professor, widerspricht nicht nur jeder meritokratischen Logik. Sie nährt auch die Illusion, der Doktor sei tatsächlich ein Titel. Gerichte mussten in lächerlich anmutenden Verfahren wiederholt feststellen, dass er das dem Anschein zum Trotz eben nicht ist und auch niemand einen einklagbaren Anspruch hat, als Doktor angeredet zu werden. In den 60er-Jahren brachte ein Arzt seinen Wunsch, mit Doktorgrad in der Geburtsurkunde seines Kindes genannt zu werden, bis vor das Bundesverwaltungsgericht - und unterlag.

Versuche, den irreführenden Doktor aus den Pässen zu verbannen, scheiterten mehrfach. Schon 2007 wollte Wolfgang Schäuble als damaliger Bundesinnenminister das Gesetz entstauben, wogegen sein bayerischer Amtskollege Günther Beckstein heftig intervenierte; das Ansinnen "wäre ein falsches bildungs- und gesellschaftspolitisches Signal" und ein Schritt zur "Nivellierung und Egalisierung im Bildungsbereich". Zuletzt brachten 2012 die Grünen einen entsprechenden Antrag im Bundestag ein, vergebens. Fast ein halbes Dutzend weiterer Politiker gerieten seitdem mit ihren Dissertationen unter Verdacht. Trotzdem kam kein Vertreter des Berufsstandes mehr auf die eigennützige Idee, die Sprengkraft des Doktors zu entschärfen, indem die Möglichkeit zur Eintragung im Pass gestrichen wird.

Gestorben wird promoviert nobilitiert

In welch hohen Ehren der Doktor bis in die Gegenwart gehalten wird, zeigt sich vielleicht am deutlichsten in den letzten Dingen: in Todesanzeigen. Ahnenforscher erfassen und digitalisieren die Annoncen inzwischen tausendfach, in der Datenbank des Vereins für Computergenealogie finden sich allein für den Zeitraum von Beginn der 60er Jahre bis heute zwei Millionen Anzeigen, eine einigermaßen große Stichprobe, um zumindest einen Trend erkennen zu können.

Aber es gibt ihn nicht, diesen Trend weg vom Titel. In 1,45 Prozent der seit 2011 gesammelten Todesanzeigen der Doktor aufgeführt, in den Jahrzehnten davor tauchte er ähnlich häufig in den Annoncen auf. Kein Bedeutungsrückgang also auch hier, kein Umdenken, keine Hinwendung zur Moderne. In sämtlichen Traueranzeigen für den 2017 verstorbenen Bundeskanzler a.D. wird Helmut Kohl ebenfalls durchgängig als Dr. tituliert. Dabei würden wohl selbst die schärfsten Kritiker nie behaupten, die größte Lebensleistung Kohls wären seine im Jahr 1958 an der Universität Heidelberg eingereichten 161 Schreibmaschinenseiten über die "politische Entwicklung in der Pfalz und das Wiedererstehen der Parteien nach 1945".

Wenn die Anrede als Doktor von den heutigen Eliten nicht mehr so breitbeinig und brachial eingefordert wird wie von Bundeskanzlern der alten Bonner Republik, heißt das keineswegs, dass der Titel als Abgrenzungsmerkmal unwichtiger geworden wäre. Elitenforscher kennen das Phänomen der "demonstrativen Bescheidenheit", die Prahlerei durch Zurückhaltung, die umso effektvoller ausfällt, je weniger Zurückhaltung sich tatsächlich im Umgang mit dem Doktor eingestellt hat. Gönnerhaft auf etwas zu verzichten, das sich weiterhin so unumstößlich in Pässen, E-Mail-Signaturen und Todesanzeigen zu finden ist, macht oft erst recht die Rangordnung klar.

"Herr Dr. ..."

"Sie können ruhig Herr zu mir sagen."

Original