Der Tübinger Forscher Hans-Georg Rammensee testet einen Corona-Impfstoff an sich selbst. Der Versuch zeigt, wie die Wissenschaft derzeit auf Rekordtempo läuft. Was kann er erreichen?
"Not for use in humans" - der Aufkleber sieht aus wie die kleinen Schildchen, die der Arzt nach einer Impfung von der Glasampulle zieht und in den Impfpass klebt. Bis auf diese letzte Zeile, hinzugefügt aus juristischen Gründen: nicht für den Gebrauch im Menschen bestimmt. Der Kleber stammt von einer Impfdosis gegen das Coronavirus, die Hans-Georg Rammensee in seinem eigenen Labor hat herstellen lassen. Am 6. März hat er sie sich in den Bauch gespritzt.
Rammensee ist Professor für Immunologie an der Universität Tübingen, spezialisiert auf die Krebs-Immuntherapie und das Design künstlicher Eiweißbausteine, die für Impfungen verwendet werden können. Eine Koryphäe, sagen auch Kollegen, die nicht mit ihm zusammenarbeiten. Ein Wissenschaftler durch und durch, sagt sein Erscheinungsbild: kurzärmeliges Karohemd, Schnauzbart, weiße Wuschelmähne. Ein Erfinder und Macher, sagt sein Lebenslauf, der etliche wissenschaftliche Veröffentlichungen, jede Menge Patente und verschiedene Firmengründungen aufzählt - unter anderem der Impfstoffentwickler CureVac ging aus seinem Team hervor. Auf jeden Fall ist Hans-Georg Rammensee keiner, der sich gern mit dem gemächlichen Lauf der Dinge arrangiert.
Manchmal aber geht es in der Wissenschaft gemächlich zu. Vor allem in Deutschland, wo die Regularien strenger sind als in den meisten Ländern, wo Behörden und Ethikkommissionen so ausführlich prüfen, dass schon so mancher Forscher oder Pharmakonzern für geplante Studien genervt in andere Länder ausgewichen ist. Insofern trifft sich die Stimmung in der Coronakrise ganz gut mit dem Tatendrang von Hans-Georg Rammensee: Sie beide verbindet der Ruf nach einem Wissenschaftsbetrieb, der deutlich schneller zu Ergebnissen kommen soll.
Beschleunigung für ein behäbiges SystemUm dem auf die Sprünge zu helfen, griff Hans-Georg Rammensee zu einer etwas aus der Mode gekommenen Methode: dem Selbstversuch. Der 67-Jährige und seine Arbeitsgruppe in Tübingen sind überzeugt, dass sie einen interessanten Ansatz gefunden haben, um das Immunsystem von Covid-19-Patienten anzuregen; falls er funktioniert, könnte er den Verlauf der Krankheit lindern. Der Professor selbst ist putzmunter, er scheint den Versuch gut verdaut zu haben. "Der Selbstversuch dient uns zur Formulierung von Hypothesen", erklärt er, "und er spart eine Menge Zeit und Geld für Vorversuche." Doch für aussagekräftige Ergebnisse braucht es mehr als eine Versuchsperson: So schnell wie möglich wollen die Tübinger daher eine klinische Studie mit Covid-19-Patienten durchführen. Dafür brauchen die Forschenden eine Genehmigung von der zuständigen Behörde, dem Paul-Ehrlich-Institut (PEI). Dieses Bundesinstitut für Impfstoffe und biomedizinische Arzneimittel sitzt im hessischen Langen, und im Normalfall dauert es schon Monate, bis Wissenschaftler dort einen Termin für ein erstes Beratungsgespräch bekommen. In diesem Fall, in diesen Zeiten, waren es zwei Wochen.
Schon im Januar hat sich die Arbeitsgruppe Rammensee eingehend mit dem Erbgut des Coronavirus beschäftigt. Die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler fütterten ein selbst entwickeltes Computerprogramm mit den Gensequenzen von SARS-CoV-2. Das Programm lieferte daraufhin eine Auswahl an Peptidsequenzen - also kurzen Eiweißbauteilen -, die im Virus vorkommen. Diese Sequenzen, so die Vorhersage, könnten besonders gut geeignet sein, um das menschliche Immunsystem gegen das Coronavirus zu aktivieren. Sie würden von Immunzellen als fremd erkannt und eine Immunantwort auslösen. Der Vorteil einer solchen Peptidimpfung: Es muss nie mit dem gefährlichen Erreger an sich hantiert werden. Als Impfstoff dienen einzig winzige Bestandteile des Virus, die künstlich im Labor erzeugt werden. "Eigentlich nutzen wir das Prinzip in der Krebsimmuntherapie", erklärt Hans-Georg Rammensee. "Im Januar haben wir dann gesehen: Wir könnten es auch für Covid-19 ausprobieren."
Ein neuer Ansatz: Impfen nach der InfektionZunächst hatte Rammensee die Arbeit an dem Projekt mit dem Gedanken an eine prophylaktische Impfung begonnen: eine Impfung also, die von vornherein gegen eine Infektion schützt, ähnlich wie sie etwa bei Masern oder Grippe zum Einsatz kommt. Im Laufe seiner Versuche aber schien ihm auch ein anderer Ansatz vielversprechend: eine therapeutische Impfung. Bei Krebs werden therapeutische Impfungen zwar seit 30 Jahren erprobt, mit mäßigem Erfolg. Hier aber würden Menschen geimpft, kurz nachdem sie sich mit dem Coronavirus infiziert haben - in der Hoffnung, dass die Behandlung deren spezifisches Immunsystem ankurbelt und so dafür sorgt, dass die Erkrankung kürzer und weniger schwer verläuft. Die Impfmethode würde also eher wie ein Medikament funktionieren - und kam bei Infektionen bisher nie zum Einsatz.
"Spritze aufgezogen, Nadel drauf, und dann hier rein. Fertig. Tut überhaupt nicht weh."
An Hans-Georg Rammensees Bürotür hängt eine Urkunde, verpackt in Klarsichtfolie und ausgestellt vom Regierungspräsidium Tübingen: eine Herstellungserlaubnis, gültig für das Wirkstoffpeptidlabor der Arbeitsgruppe. Sie berechtigt die Tübinger Immunologen, Peptide als Arzneimittel selbst herzustellen, unter strengen Auflagen. So dürfen die Substanzen zwar in klinischen Studien, aber nicht in Heilversuchen verwendet werden - juristisch ein wichtiger Unterschied. Die letzte Zeile auf den Aufklebern soll das klarstellen. "16 Jahre lang haben wir darauf hingearbeitet, bis wir die Erlaubnis bekommen haben", sagt Rammensee. "Da bin ich sehr stolz darauf. Außer uns gibt es keine einzige Uni, die so eine Erlaubnis hat." In ihrem Labor können die Forschenden neue Wirkstoffe in einer Qualität herstellen, die so hoch ist wie in der Pharmaindustrie - so auch die verschiedenen Coronavirus-Peptide, die Rammensee als Impfstoff-Kandidaten identifiziert hatte. Mit dem Unterschied, dass die Produktion hier deutlich schneller geht - und billiger.
Der Professor kramt in einem kleinen grünen Kästchen. Steril verpackte Einmalspritzen sind darin, Nadeln, Desinfektionsmittel. Die Wirkstoffpeptide werden ergänzt durch ein Adjuvans, einen Impfverstärker, wie er in vielen modernen Impfstoffen enthalten ist. Auch dieses Adjuvans - mit dem Namen XS15 - hat Rammensee entwickelt und bereits vor fünf Jahren in einem Selbstversuch getestet. In diesem Jahr soll es für erste klinische Studien mit Krebspatienten zum Einsatz kommen; zuvor allerdings war es nie für Studien zugelassen.
An seinem Schreibtisch hat er seine Impfdosis vorbereitet: In zwei Spritzen müssen die Peptide, das Adjuvans und ein weiterer Stoff, Montanid, gemischt werden, erklärt Rammensee. "Dann habe ich die eine Spritze damit aufgezogen, Nadel drauf, und dann", er zeigt auf seinen Bauch, "hier rein. Fertig. Subkutan, das tut überhaupt nicht weh." Was fühlt man in so einem Moment? Nervenkitzel, Angst? Erhabenheit? "Nichts", sagt der Professor. "Ich wusste ja, dass es sicher ist. Ich wollte nur mal sehen, ob mein Immunsystem auch T-Zellen gegen Corona macht" - also jene Zellen, die eine zentrale Rolle in jeder Immunantwort einnehmen. Einem Forscher, sagt Rammensee, mache das Spaß: ein neues Experiment, das vorher noch nie jemand durchgeführt hat.
Was fühlt man in so einem Moment? Nervenkitzel, Angst? Erhabenheit? "Nichts."
Am 6. März verabreichte er sich eine erste Dosis, 0,5 Milliliter, unter die Haut.
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