Ganz am südlichen Stadtrand von Delhi steht eine Klinik, genau so, wie man sich eine Klinik wünscht: sauber, hell und modern, mit bunten Blumentöpfen im Innenhof und blühenden Büschen. Im Wartebereich tragen viele Patienten traditionelle indische Kleidung, farbige Saris etwa oder kragenlose Nehru-Westen. Niemand muss auf dem Boden sitzen oder in den Fluren liegen. Doch es ist nicht die reiche Oberschicht der Hauptstadt, die sich hier in einer teuren Privatklinik behandeln lässt. Die Klinik ist in öffentlicher Hand - sie gehört zum All India Institute of Ayurveda (Aiia), einer Heil- und Forschungseinrichtung in der Tradition der indischen Heilkunst Ayurveda.
Plakate an den Wänden erklären die Wirkung von Heilpflanzen: Kurkuma lindert allergische Störungen der Atemwege, Knoblauch hilft gegen Ohrenschmerzen, und Granatapfel ist gut für das Herz. Schilder weisen zum Computertomografen, zum Röntgen oder zum Panchakarma-Raum, in dem Patienten mit Kräutertinkturen, Einläufen oder Aderlässen ihre Körper reinigen wollen.
Das Aiia will indische Medizin mit der westlichen, wissenschaftlichen Medizin verbinden. Damit liegt das Institut im Trend: Seit einigen Jahren besinnt sich Indien zurück auf traditionelle Heilmethoden - oder das, was eben das Etikett "traditionell" trägt. Koordiniert wird dieser Trend von einem Unionsministerium auf höchster Ebene, dem Ministry of Ayush. Das Akronym steht für eine bunte Sammlung alternativer Methoden: dem indischen Ayurveda und Yoga; der auf der antiken griechischen Medizin basierenden, arabischen Heilkunde Unani; dem südindischen Siddha und der aus Deutschland stammenden Homöopathie. Das Ministerium will laut eigener Aussage hauptsächlich Ausbildung und Forschung auf diesen Gebieten fördern.
Bis 2014 war Ayush als eine von vielen Abteilungen im indischen Gesundheitsministerium angesiedelt. Doch bald nach der Wahl der hindunationalistischen BJP-Regierung im Mai 2014 wurde Ayush zum Ministerium befördert - ganz im Einklang mit den indischen oder scheinbar indischen Werten, welche Premierminister Narendra Modi und seine Parteikollegen fortwährend propagieren.
Fragwürdige MethodenPrinzipiell kann dies eine gute Sache sein: wissenschaftsbasierte Behandlungen mit ausgewählten Methoden zu kombinieren, die ganzheitlicher sind, mehr Raum für Gespräche und Selbstheilungskräfte des Körpers lassen. Doch in den indischen Sphären des Ayush geistert, ministeriell abgesegnet, auch viel Fragwürdiges herum. Viele der propagierten Methoden sind nicht wissenschaftlich belegt oder belegbar, andere unwirksam. Und manche gefährlich.
Im vergangenen Jahr beispielsweise bewarb das Ministerium ein Ayurveda-Medikament, das von Indiens grösster Forschungsorganisation mitentwickelt worden war, dem Council of Scientific and Industrial Research (Csir). Das Diabetesmittel BGR-34 sei die erste neu entwickelte ayurvedische Medizin, die wissenschaftlich validiert sei und die Standards der Schulmedizin erfülle, erklärte dessen Vertreiberfirma. Doch im indischen Register für klinische Studien war BGR-34 nie gelistet, und auch in von Experten begutachteten wissenschaftlichen Fachjournalen tauchte es nie auf.
Auf Kritik reagiert das Ministerium dünnhäutig. Sowohl dem Nobelpreisträger Venkatraman Ramakrishnan als auch der australischen Regierung schickten die Beamten auf Homöopathie-skeptische Aussagen hin einen mahnenden Brief. Im August dieses Jahres setzte das Ministerium für Ayush ein Komitee ein, das sich mit "falscher Propaganda gegen Homöopathie" beschäftigt. Und im November 2016 betonte der Minister für Ayush, Shripad Naik, die gute Wirkung von Kuh-Urin gegen Infektionskrankheiten und Krebs. Überhaupt spielt die Kuh eine herausragende Rolle im Bereich Ayush - beziehungsweise ihre Produkte. Panchagavya etwa ist eine Mixtur von Zutaten, die verschiedene Anwendungen findet, zum Beispiel als Dünger in der Landwirtschaft. Die Hauptbestandteile sind Kuhdung, Kuh-Urin, Milch, Joghurt und Butterschmalz. Oft werden dem Panchagavya geradezu magische Fähigkeiten zugesprochen, auch weit über dessen nachvollziehbaren Nutzen als Dünger hinaus.
So erklärte die Agricultural University des südindischen Bundesstaates Tamil Nadu auf ihrer Homepage bis vor kurzem, wie Panchagavya, oral eingenommen, auch der menschlichen Gesundheit zuträglich ist: Arthritis würde innerhalb von zwei Monaten kuriert, Parkinson-Patienten würden dank des Kuhcocktails weniger zittern, und HIV-infizierte Menschen würden zwar noch einen positiven Bluttest zeigen, doch keinerlei Symptome einer Aidserkrankung. Auch die offizielle Website des Ministeriums für Ayush verlinkt etwa auf die Fallbeschreibung einer 21-Jährigen, deren Kinderwunsch sich erst nach einer Gebärmutterbehandlung mit Panchagavya erfüllte. Nicht nur beachtet der Bericht keinerlei Kriterien einer wissenschaftlichen Studie; er ist auch in einer Publikation erschienen, die auf der schwarzen Liste für zweifelhafte Fachjournale des US-amerikanischen Bibliothekars Jeffrey Beall stand. Die Beispiele zeigen: Seriöse Wissenschaft und transparente Aufklärung stehen im Ministry of Ayush nicht an oberer Stelle der Prioritätenliste.
Cleveres Ablenkungsmanöver"Die häufige Kritik, dass hier mit nicht evidenzbasierten Methoden gearbeitet wird, greift meiner Meinung nach aber zu kurz", sagt Anja Kluge. Die an der Ruhr-Universität Bochum angestellte Politikwissenschaftlerin hat 2015 ihre Doktorarbeit zum Thema "Gesundheitspolitik in Indien" verfasst - und sieht in Ayush auch ein geschickt orchestriertes Ablenkungsmanöver von den Missständen des indischen Gesundheitssystems. In kaum einem anderen Land der Welt ist der Anteil an Privatausgaben für die Krankenversorgung so hoch wie in Indien; der Staat übernimmt dort nur 31 Prozent aller Behandlungskosten, wie eine Studie des renommierten Medizinjournals "The Lancet" im Mai 2017 zeigte. Der weltweite Durchschnitt liegt bei 55 Prozent. Den Rest müssen die Patienten aus eigener Tasche bezahlen, trotz teilweise gravierender Armut im Land. Nur fünf Länder weltweit haben eine noch schlechtere Quote, darunter Mali, Nigeria und Sierra Leone. Knapp 1,2 bis 1,4 Prozent des Bruttoinlandprodukts (BIP) gibt der indische Staat für die Gesundheit aus, schätzen die Weltbank und "The Lancet". In der Schweiz sind es 7,7 Prozent, und die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfiehlt 5 Prozent für ein gutes Gesundheitssystem.
Eine Folge dieser Unterfinanzierung ist der eklatante Ärztemangel im öffentlichen Gesundheitssektor. Mit der "National Ayush Mission" will das Ministerium nun besonders in ländlichen Gebieten westliche und traditionelle Heilmethoden kombinieren und etablierte alternative Heilpraktiker mit in das öffentliche System integrieren. "Das schafft dort eine Art Scheinwelt an Personal, um die chronische Unterversorgung mit Ärzten zu stopfen", erklärt Anja Kluge.
Zwar gibt es in der indischen Bildungslandschaft durchaus anspruchsvolle und hochwertige Ausbildungen in den verschiedenen Ayush-Disziplinen. Doch gerade in abgelegenen Regionen könnten so auch Scharlatane plötzlich vom Staat finanziert werden. Billiger als richtige Ärzte sind sie allemal. Eine Chance sieht Anja Kluge dennoch in diesem Ansatz: Oft würden die Menschen ihren traditionellen Heilern grosses Vertrauen entgegenbringen - die im Zuge der Ayush-Mission möglicherweise auch neu erlangte, wissenschaftlich gestützte Methoden anwenden. "Aber eigentlich ist Ayush ein Luxusprodukt", sagt Kluge. Zur Unterstützung eines bewussten Lebenswandels oder für Medizintouristen, die auch wegen Ayush zu Tausenden ins Land kommen. "Und das könnte sich Indien für die breite Masse nur leisten, wenn es schon eine funktionierende öffentliche Gesundheitsversorgung hätte."
Bessere HeilpraktikerManche der mit Ayush aufgegriffenen, in Indien verwurzelten Behandlungspraktiken können gerade bei chronischen Krankheiten durchaus helfen, findet Rolf Schmachtenberg. Der Ministerialbeamte leitete drei Jahre lang ein gesundheitspolitisches Projekt der deutschen Gesellschaft für internationale Zusammenarbeit (GIZ) in Indien. Doch sieht er in Ayush auch Symbolpolitik und ein kostengünstiges Manöver der indischen Regierung. Dass es dem Gesundheitssystem wichtige Gelder abzweigt, glaubt er jedoch nicht. Mit einem Jahresbudget von umgerechnet rund 140 Millionen Franken ist das Ayush-Ministerium eher ein Leichtgewicht. "Was der indischen Gesundheitspolitik im internationalen Vergleich fehlt, sind doch einige Prozentpunkte des Bruttoinlandproduktes. Wir reden also über zig Milliarden. Ein paar Millionen für Ayush fallen da kaum ins Gewicht", sagt Schmachtenberg. Wenn das Ministerium dafür erreichen könne, dass die Heilpraktiker besser werden, dass unterschieden werden kann zwischen guten Ayush-Behandelnden und Scharlatanen, das könnte Patienten durchaus nützen, meint Schmachtenberg.
Mehr Transparenz in einen unübersichtlichen Markt zu bringen, bessere Qualitätssicherung - diese Idee hinter dem Ministerium für Ayush wäre an sich keine schlechte. Mit der seriösen Umsetzung stehen die Beamten aber noch ganz am Anfang ihrer Mission.
(Tages-Anzeiger)
Erstellt: 27.12.2017, 17:32 Uhr