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FAZ.NET-Faktencheck: Braucht Wikipedia unser Geld?

Voller Durchblick, volle Kassen?

Donald Trump dürfte den meisten Menschen spätestens seit dem 8. November ein Begriff sein. Aber wer ist eigentlich Gouverneur Chris Christie, wie funktioniert nochmal schnell das amerikanische Wahlsystem  und was hat Trumps Schwiegersohn in seinem Leben so getrieben? Für eine Antwort auf derlei Fragen landet man oft intuitiv auf Wikipedia; wie auch unzählige Schüler, trotz der obligatorischen Lehrer-Warnung, doch bitte kein Referat allein auf Wikipedia-Basis abzuliefern.


Wer nun dieser Tage das Online-Lexikon aufruft, dem schiebt sich ein unübersehbarer Balken von oben herab ins Bild – der traditionelle Wikipedia-Spendenaufruf. Jedes Jahr zur Vorweihnachtszeit bittet Wikipedia seine Leser, doch ein kleines Sümmchen zu spenden, schließlich sei Wikipedia kostenlos und werde nur von Freiwilligen geschrieben. „Wenn alle, die das jetzt lesen, einen kleinen Beitrag leisten, ist unsere Spendenkampagne in einer Stunde vorüber“, heißt es in dem Balken. Der Preis einer Tasse Kaffee reiche schon aus und 8,6 Millionen Euro wären im Sack.


8,6 Millionen Euro, so viel will die deutschsprachige Wikipedia dieses Jahr einstreichen. Um dem geneigten Leser das Spenden zu erleichtern, ist rechts am Balken auch gleich ein Tastenfeld integriert, mit dem sich das Geld im Handumdrehen auf die Reise schicken lässt.

Bei Wikipedia sitzen absolute Spendenprofis, die das Spiel mit dem schlechten Gewissen längst perfektioniert haben. An jedem Wort im Spendenaufruf wird gefeilt. Der finale Text und die Balkenfarbe werden dann in A/B-Tests aufwendig darauf geprüft, wie sie der Zielgruppe ankommen. Alles muss passen, immerhin sehen bis zu 10 Millionen Menschen täglich das Banner auf der deutschen Wikipedia-Seite.


Vermögen von stolzen 92 Millionen Dollar

Hinter den Giganten GoogleYoutube, Facebook und Chinas führender Suchmaschine Baidu ist Wikipedia laut dem Online-Dienst Alexa die fünftgrößte Webseite der Welt. Über 40 Millionen Artikel in 290 Sprachen fasst die Online-Enzyklopädie. Da kommt ein handelsübliches Lexikon kaum gegen an. Allein in Deutschland sind es mittlerweile mehr als 2 Millionen Einträge. Zudem gelten gerade in Zeiten von „fake news“ trotz einiger Probleme traditionell strenge Qualitätsregeln auf Wikipedia - und all das im Gegensatz zur Konkurrenz auf den vorderen Plätzen ohne lukrative Werbung. Damit der Laden weiter läuft, braucht es daher spendenfreudige Nutzer, so die Logik in Kürze.


Bislang funktioniert das prächtig. Die Wikimedia Stiftung in Amerika, Wikipedias Muttergesellschaft, die etwa für die technische Infrastruktur und Entwicklung der Webseite verantwortlich ist, sitzt mittlerweile auf einem Vermögen von stolzen 92 Millionen Dollar. 2010 waren es noch rund 24 Millionen. Braucht Wikipedia also wirklich so dringend Geld, wie uns das Spendenbanner weis machen will?

 

Für Christian Rickerts, den Chef des deutschen Wiki-Ablegers Wikimedia e.V., ist die Sache klar: „Die Wikimedia Foundation trägt die Verantwortung für ein globales Ehrenamtsprojekt. Da halte ich eine gewisse Absicherung für notwendig, es können ja auch mal Gelder ausbleiben.“ Außerdem stünden dem Vermögen auch Ausgaben von im Jahr über 60 Millionen Dollar gegenüber. Die amerikanische Stiftung kümmert sich allerdings nicht nur um Wikipedia:


Es gibt 12 weitere Webseiten, wie zum Beispiel Wikivoyage oder Wikidata, die betreut werden wollen, und da sind auch noch Projekte wie Wikizero. Zero zielt darauf ab, Menschen in Entwicklungsländern kostenlos Zugriff auf Wikipedia zu ermöglichen. Dafür versucht man Mobilfunkgesellschaften ins Boot holen. Alles für das hehre Ziel der Wikis: Freies Wissen muss bewahrt werden und überall zugänglich sein.


Gut 80 Prozent der Mittel aus Spendenrunde

Der Weg des Geldes, mit dem das bewerkstelligt werden soll, ist immer gleich: Alle Spenden, die wie in Deutschland bei den Landesgruppen eingehen, fließen zunächst geschlossen nach Amerika und werden von dort aus verteilt. Deutsche Spender überweisen ihr Geld auf das Konto der Wikimedia Fördergesellschaft. Nutznießer ist wiederum der Wikimedia-Verein.

Mit Sitz in Berlin ist er der weltweit größte Wikipedia-Außenposten nach der Mutter in Amerika. Rund 36.000 Menschen sind Mitglied. Wikimedia-Deutschland hat für 2016 ein Budget von 6.200.596 Euro eingeplant - über eine Million mehr als noch letztes Jahr. Gut 80 Prozent der Mittel stammen aus der alljährlichen Spendenrunde.


Die höchste Gabe seien bisher 10.000 Euro gewesen, sagt Rickerts. Der Großteil kommt aus Kleinspenden um die 20 Euro – wie auf dem Banner erbeten. Dieses erfüllt seinen Zweck offenbar: Die Zahl der Spender ist über die letzten Jahre stark gestiegen, wie im Übrigen auch das Spendenziel. 2011 waren es noch 4,1 Millionen, heute sollen es 8,6 Millionen werden. Rickerts begründet das mit dem stetigen Wachstum des Online-Lexikons: Das System wird größer, die Artikelzahl steigt und damit nicht zuletzt auch die Erwartungen an Wikipedia – und die wolle man ja nicht enttäuschen. Wofür verwendet Wikimedia-Deutschland nun aber die über 6 Millionen Euro genau?


Drohne gefällig?

Der naheliegendste Posten ist wohl die IT-Abteilung. In Softwareentwicklung und Support fließen rund 1,6 Millionen Euro. Aber die Wiki-Welt existiert nicht nur im Netz, ganz im Gegenteil, offline frisst sie das meiste Geld. Das fängt beim Gehalt an: Wikimedia-Deutschland hat 82 hauptamtliche Mitarbeiter. Das große Freiwilligen-Projekt arbeitet längst wie ein durchaus professionelles Medienunternehmen. Neben dem Heer an Software-Spezialisten reicht die Liste von den Empfangsdamen über Spendensammler und PR-Strategen bis hin zu sechs Werksstudenten.


Beim Posten „Ideenförderung“ wird es da schon interessanter: Autoren können nämlich bei Wikimedia anklopfen und für ein geplantes Projekt um Unterstützung bitten. Flugticket, Tankfüllung und das Abendessen oben drauf – alles ist möglich und obendrein nicht an Landesgrenzen gebunden. Die Hilfe für den Dienst an der Wikipedia endet allerdings nicht bei profanen Reisekosten. Wikimedia verleiht auch Technik. So hat der Verein Kameras, Laptops oder Mikroskope auf Lager und mittlerweile sogar Drohnen angeschafft. Um Aufstiegsgenehmigung und Versicherung des kostspieligen Geräts kümmert sich Wikimedia übrigens gleich mit.


Für so viel wertvollen Service muss man nicht einmal einer der 6000 aktiven Autoren der deutschen Wikipedia sein. Jeder könne all dies anfragen, so Rickerts. Beispielsweise für die Dokumentation von Denkmälern sei gerade eine Drohne durchaus hilfreich. Einen sinnvollen Plan für sein Unterfangen sollte man bei seinem Antrag freilich mitliefern. Den prüfe dann das Team in Berlin. Grundsätzlich steht die große Projekt-Reise auf Wikipedia-Rechnung so aber jedem offen.


Im Kern sei Wikipedia eben eine Bewegung, die sich um Wissen in jeglicher Form kümmert, sagt der Wikimedia-Deutschland-Chef. Das schließt auch Kooperationen mit Hochschulen oder Museen ein. Für den gesamten Bereich „Bildung, Wissenschaft und Kultur“ sind 2016 gut 600.000 Euro eingeplant. Konkret veranstaltet Wikimedia etwa Workshops, um Institutionen und Wikipedianer zusammenzubringen. So werden dann beispielsweise Museumsbestände bei Wikipedia eingepflegt, Archive durchforstet oder Galerien abgelichtet.


Spendensammlerei wird in Community heiß diskutiert

Damit all das weiter möglich bleibt, betreibt Wikimedia ganz klassisch Lobbying. „In Debatten über das Urheberrecht wird oft nur die kommerzielle Sicht betrachtet “, sagt Rickerts. Der Verein bringe hier die Wikipedia-Perspektive ein. Rickerts weiß nur zu gut, neue Hürden in diesem Feld können die Arbeit seines Vereins schnell äußert kompliziert machen. Also hat Wikimedia auch den Posten „Politik & Recht im Budget bedacht.


Über dieses Budget und die Spendensammlerei wird in der Wikipedia-Community heiß diskutiert. Gerade das satte Vermögen der amerikanischen Stiftung kommt gar nicht gut an und so manch besonders idealistischer Verfechter des freien Wissens will von Geld rein gar nichts wissen. In einer derart diversen Community habe man eben alle Meinungen, sagt Christian Rickerts. Wikimedia reagiert derweil auf die Kritik am Geld mit Geld - und zwar mit einem ordentlichen Batzen:


420.000 Euro sind für die „Verbesserung des Verhältnisses zwischen Verein und Community“ reserviert. Gelingen soll das vor allem mit verschiedensten Veranstaltungen. Man will ins Gespräch kommen und das auch mal offline. Einmal im Jahr findet eine große Wikipedia-Konferenz statt, „WikiCon“ genannt, wo sich die aktivsten Wikipedianer treffen und munter drauflos diskutieren. Geplant und durchgeführt wird auch die Konferenz von einem Team aus Ehrenamtlern. Alle Kosten, von Anfahrt, über Verpflegung bis zur Raummiete übernimmt aber der Wikimedia-Verein.


Zu bereden dürfte es weiterhin genug geben. Auch die Wikimedia Foundation startet bald ihre Spendenkampagne. Um die 20 Millionen Dollar werde die schwer sein, teilen die Amerikaner mit. Damit dürfte das Vermögen in absehbarer Zukunft die 100 Millionen Dollar knacken. Ganz schön viele Tassen Kaffee.

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