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Gesichter Europas - Belgien zwischen Terror und Toleranz

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Terroristen, Gauner, Jugend ohne Perspektive - der Stadtteil Molenbeek in Brüssel gilt als hoffnungsloser Problembezirk. Aber das ist nicht alles. Wo Armut herrscht, findest du beides, Kriminalität und Kreativität, sagt Johan Lehman. Der ist so etwas wie der oberste Sozialarbeiter in Molenbeek und leitet das traditionsreiche Jugendhaus Foyer. Wie junge marokkanische Regisseure zu Stars werden, Roma-Mädchen um einen Platz in der Gesellschaft kämpfen und muslimische Frauen Männer in die Schranken weisen in Molenbeek, beschreibt in fünf Reportagen, Musik und Literaturauszügen diese "Gesichter Europas"-Sendung im Deutschlandfunk.

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Manuskript

Deutschlandfunk
GESICHTER EUROPAS
Samstag, 11. April 2015 - 11:05-12:00 Uhr
Zwischen Terror und Toleranz –
Belgien will zurück in den Alltag
Mit Reportagen von Benjamin Dierks
Redaktion und Moderation: Katrin Michaelsen
Musikauswahl: Babette Michel
Urheberrechtlicher Hinweis
Dieses Manuskript ist urheberrechtlich geschützt und darf vom Empfänger ausschließlich zu rein privaten Zwecken genutzt werden. Die Vervielfältigung, Verbreitung oder sonstige Nutzung, die über den in §§ 44a bis 63a Urheberrechtsgesetz geregelten Umfang hinausgeht, ist unzulässig.
©
- unkorrigiertes Exemplar –

„Am Anfang hatten wir mehr europäische Nachbarn, Italiener, Spanier, Griechen, aber das hat sich geändert, jetzt sind es vor allem Marokkaner und Türken, auch ein paar Osteuropäer, Afrikaner.“

„Ich habe festgestellt, dass viele Marokkaner in Belgien ein großes Problem mit ihrer Identität haben. Ich glaube auch, dass die Leute, die sich dem Islamischen Staat anschließen, sehr frustriert sind. Leute, die so instabil sind, sehen die Welt schwarz und weiß: Juden sind so und Araber sind so.“

„Aber es gibt auch eine positive Seite: Indem Leute eine schwierige Situation haben, hast du auch Kreativität. Du kannst Kriminalität haben, aber du kannst auch Kreativität haben. Das Positive ist, dass Molenbeek eine enorme Kreativität produziert.“

Zwischen Terror und Toleranz – Belgien will zurück in den Alltag. Gesichter Europas mit Reportagen von Benjamin Dierks. Am Mikrofon Katrin Michaelsen

Tote bei einer Razzia, Militär auf den Straßen, Verhaftungen von Islamisten. Ganz Belgien war in Aufruhr, nach dem vereitelten Terrorangriff einer Dschihadistenzelle, Anfang des Jahres, in der ostbelgischen Stadt Verviers. Offenbar ist die belgische Polizei nur knapp einem Anschlag entgangen. Geplant von zwei jungen Muslimen, die sich einem radikalisierten Islam zugewandt hatten. Wie so viele andere. Gemessen an seiner Einwohnerzahl, sind aus Belgien mehr junge Muslime in den Syrien-Krieg gezogen als aus jedem anderen europäischen Land. Bis zu 400 sollen es sein. Belgien gilt damit als Drehscheibe islamistischer Terroristen in Europa. Belgien, das geprägt ist vom Konflikt zwischen Flamen und Wallonen, das so viele Religionen und Kulturen beherbergt wie kaum ein anderes Land. Vor allem in der Hauptstadtregion um Brüssel. Nach dem vereitelten Anschlag will Belgien zurück in den Alltag, aber der steckt voller Schwierigkeiten, und viele Einwanderer finden sich darin nicht zurecht. Wer von der Brüsseler Altstadt Richtung Westen geht, den Charleroi-Kanal überquert, der landet in Molenbeek. Das ehemalige Industrieviertel ist schon lange die erste Station für Neuankömmlinge in der Stadt und ist berüchtigt für seine Schattenwelt. Heute ist Molenbeek vor allem geprägt durch Einwanderer aus Marokko und durch eine hohe Arbeitslosigkeit. Auch die beiden Attentäter von Verviers stammten von hier.

REPORTAGE 1
ATMO Molenbeek Straße
Die Straßen sind unscheinbar, schmucklos hier am nördlichen Rand von Molenbeek. Abgeblätterter Putz, eine Baulücke, in der die Brandmauern der benachbarten Häuser notdürftig durch ein Gerüst gestützt werden. Eine schmale Einfahrt führt auf einen Hinterhof. Kein Schild weist auf die kleine Oase hin, die sich hier befindet. Weiß getünchte Wände, moderne Glasfront.
ATMO Tür, dann ATMO Cafeteria/Halle
Dahinter das hohe, helle Foyer einer restaurierten Fabrikhalle. Adil El Arbi kommt aus der Cafeteria. Er hat die dunklen Haare kurz geschoren, nur oben auf dem Kopf hat er seine kleinen Locken etwas länger gelassen. Er ist groß und schlank, trägt Jeans, rote Turnschuhe, und eine schwarze Kapuzenjacke mit der Aufschrift „Black“. Der Titel seines neuen Kinofilms. Adil El Arbi ist auf dem Weg ins Tonstudio.
ATMO Black Trailer
Zusammen mit einem Techniker mischt der junge Regisseur den Ton für einen kurzen Kino-Trailer, mit dem er „Black“ bewerben will. Schnelle Bildschnitte, ein Schuss fällt, junge Frauen prügeln aufeinander ein, Menschen rennen, Chaos. Es ist kein besonders rosiges Bild, das El Arbi und sein Regiepartner Bilal Fallah von den Brüsseler Einwanderervierteln zeichnen.
„Molenbeek ist vielfältig, aber manchmal gibt es Probleme in Molenbeek…“
Aber rosig sei es eben auch nicht, das Leben hier, sagt Adil El Arbi. Natürlich herrsche Kriminalität. Nur sei es wie überall nicht schwarz und weiß. Doch vor allem von Marokkanern in Belgien werde stets ein einseitig negatives Bild gezeichnet.
„Wenn du Fernsehen siehst und Zeitungen liest – flämische Zeitungen, flämisches Fernsehen – siehst du nur die negativen Aspekte von Anderlecht und Molenbeek und auch über Muslime und Marokkaner. Ich glaube, 90 Prozent des Bildes über Brüssel, über Marokkaner, über Marokkaner ist negativ. Das ist ein Problem, wir haben nicht so viele gute Vorbilder.“
Adil El Arbi kommt aus Antwerpen. Seine Eltern aus Marokko. Er wandert behände zwischen den belgischen Welten, spricht Arabisch mit der Familie, Französisch mit den wallonischen und Niederländisch mit den flämischen Freunden, Englisch mit dem Rest der Welt, den er als Regisseur erobern will, und neuerdings auch Deutsch, wegen seiner Freundin, die aus Gelsenkirchen kommt.
„Ich glaube, es ist nicht gut, nur flämisch zu sein oder nur arabisch oder nur französisch, als Regisseur müssen wir alles lernen, das ist sehr interessant, und ich denke, das ist, was Kunst so reich macht.“
Ende des letzten Jahres trat El Arbi in der flämischen TV-Quizshow „De slimste Mens ter Wereld“ auf, die unter den Kandidaten den schlauesten kürt. Adil El Arbi gewann – und ist seitdem ein kleiner Star in den flämischen Medien. Und unter den belgischen Marokkanern, die seinen Aufstieg in der Gesellschaft feiern, als sei es ihr eigener.
„Ich war der erste und deswegen sieht es so aus, als sei ich eine Ausnahme. Aber das bin ich nicht, ich habe viele Freunde, die auch all diese Sprachen sprechen und wir warten nur darauf, rauszukommen und berühmt zu werden, wir alle, nicht nur ich.“
Der TV-Sieg kam gerade recht, um Werbung für „Image“ zu machen, El Arbis und Fallahs ersten Spielfilm, der gerade im Kino läuft.
Eigentlich waren sie nur mit dem Budget für einen Kurzfilm ausgestattet. Aber dann drehten sie ein kleines Epos über Molenbeek, Vorurteile und eine schwierige Liebe. Die Besucherzahlen des auf Niederländisch gedrehten Films schossen nach der Ausstrahlung der Fernsehshow in die Höhe.
„Image ist die Geschichte über eine Journalistin, eine flämische Frau, ihr Name ist Eva. Und sie machen eine Reportage über die schwierigen Quartiers von Brüssel. Dann lernt sie Lahbib kennen, einen ein bisschen kriminellen Marokkaner. Und wir sehen ein bisschen eine Liebesgeschichte.“
Nach dem Erfolg mit ihrem niederländischen Erstling wollen Adil und Bilal auch das französische Belgien für sich begeistern.
ATMO Studio Auto/Straße/Gespräch
Bilal holt Adil mit seinem Peugeot ab. Bilal hat sein Baseball-Cap ins Gesicht gezogen. Auch er hat marokkanische Eltern. Die beiden Regisseure sind gemeinsam in Brüssel zur Filmschule gegangen. Und noch immer machen sie alles gemeinsam, vom Dreh bis zum Schnitt. Dafür fahren sie ein paar Straßen weiter in ihr Studio auf ein altes Industriegelände am Kanal, der Molenbeek von der Brüsseler Innenstadt trennt. Es gibt Probleme im Studio. Das Bild funktioniert nicht.
ATMO O-Töne Schnitt
Ein Techniker muss es richten. Dann setzen Adil und Bilal sich vor vier große Bildschirme. Bilal hat die Kontrolle über Maus und Tastatur. Immer wieder lassen sie einzelne Szenen ihres Films ablaufen, springen zurück, fügen Sequenzen ein, schneiden Teile heraus.
ATMO Filmzitat
In „Black“ spielt eine junge Frau aus dem kongolesischen Viertel Matonge die Hauptrolle. Sie gehört zu einer Mädchengang und verliebt sich auf einer Polizeiwache in einen marokkanischen Kleingangster aus Molenbeek.
ATMO/O-Ton (niederl.)
Die Dreharbeiten haben sie vor kurzem abgeschlossen, aber erst jetzt bemerken die beiden Regisseure einen Fehler: Der Zettel mit der Telefonnummer, die der Molenbeeker Gangster dem Mädchen aus Matonge zusteckt, hat in einer Szene eine rote Rückseite, in der nächsten aber eine weiße. Eine Kleinigkeit, doch die Profis wollen nicht, dass das auch nur einen Kinogänger irritiert.
ATMO/O-Töne Schnitt (niederl.)
Im Herbst kommt Black in die Kinos. Der nächste Film wird dann wohl mal nichts mit Molenbeek, Muslimen und Marokkanern zu tun haben. Die beiden wollen sich nicht nur wegen ihrer Herkunft auf das Thema festlegen lassen.
„Wir sind Marokkaner und wir möchten nicht nur Storys erzählen über Marokkaner. Aber wenn wir das nicht machen, wer macht es? Aber jetzt wir haben zwei Filme gemacht über Marokkaner und Afrikaner, und wir werden andere Storys erzählen, nicht nur über diese Sachen.“
Überhaupt träumen sie nicht von Molenbeek, sondern von Hollywood – um ihrem großen Idol nachzueifern: Steven Spielberg. Und der beschränke sich ja auch nicht nur auf das Thema seiner Herkunft.
„Steven Spielberg macht nicht nur Storys über Juden, er macht Storys über alles und das ist auch, was wir machen möchten.“
ATMO Filmszenen/Musik

LITERATUR
Er hörte seine Sprache nicht mehr auf der Straße.
Dickköpfig weigerten sie sich, ihr Kauderwelsch abzulegen. Sie sprachen stur in fremdartigen Lauten und Silben weiter, die sich auf etwas zu beziehen schienen, dass es nicht gab. Eine Geheimsprache, mit der sie die Ordnung in Frage stellen konnten, ohne dass jemand etwas davon mitbekam. Eine Sprache, die ihnen helfen würde, die Macht zu übernehmen – sang- und klanglos. Worauf eine Zeit der Unterdrückung anfangen und nie wieder enden würde.
Manchmal suchte er einen Fixpunkt. Irgendetwas, das ihn beruhigte, etwas, das ihm Gewissheit gab, sich noch immer im Bus auf dem Weg ins Büro zu befinden. Und dass er, wenn er ausgestiegen war, auch wieder Leuten begegnete, die dieselbe Sprache wie er sprachen, die er verstehen und mit denen er sich unterhalten konnte.
Manchmal reichte es aus, zum Busfahrer hinzuschauen.
Einmal erschrak er so, dass er fast den roten Notrufknopf gedrückt hätte. Hinter dem Steuer des großen Busses saß eine dunkle Frau in Uniform.

In den Erzählungen von Rachida Lamrabet geht es darum, was alles passieren kann, wenn Marokkaner, Afghanen, Türken oder Roma nach Westeuropa kommen, und versuchen, ihre Träume zu leben. Was passieren kann, wenn der Alltag von mehreren Kulturen geprägt ist. Wie Liebe entsteht, aber auch Hass. In Marokko geboren, lebt Rachida Lamrabet heute in Belgien. Für ihre Geschichten bieten Stadtviertel wie Molenbeek die passende Kulisse, steht der Brüsseler Stadtteil doch exemplarisch für die klassischen Integrationsprobleme Belgiens. Für viele negative Lebensläufe. Für eine Jugend ohne Perspektive und ohne Arbeit. Molenbeek hat einen schlechten Ruf. Und dennoch zieht es viele Einwanderer zunächst hierher. Momentan kommen vor allem Roma, die aber Schwierigkeiten haben Fuß zu fassen. Das Jugendhaus „Foyer“ versucht, zumindest denjenigen eine Chance zu bieten, die weder zuhause, noch in der Schule mit Hilfe rechnen können.

REPORTAGE 2
ATMO Streichelzoo
Sania und Cassandra trotten über einen Schotterweg zum Ziegenstall. Davor steht ein großer Bottich mit Getreide. Die beiden Mädchen tauchen schwarze Plastikschalen hinein und füllen sie. Dann fischen sie noch ein paar Karotten und trockene Brötchen aus dem Eimer daneben. Die Ziegen warten schon ungeduldig und schlagen mit ihren Vorderhufen an die Holzplanken, als die zwei Mädchen den Stall betreten.
„Wir geben den Tieren Futter. Unsere Aufgabe ist, die Türe zu füttern und das alles sauber zu halten, alles, was im Bauernhof ist.“
Die Ziegen teilen sich den Stall und das angrenzende kleine Gehege mit zwei Eseln auf der Ferme du Parc Maximilien, einem kleinen Streichelzoo am Rand der Brüsseler Innenstadt. Der ist eingepfercht zwischen einer viel befahrenen Ausfallstraße und einer heruntergekommenen Hochhaussiedlung. Auch Schafe, Kaninchen und Meerschweinchen gibt es hier, dazu Hühner und zwei Ponys.
„Wenn Kinder kommen, können sie auf den Ponys reiten, wir haben zwei kleine Ponys.“
Gerade erst dazugekommen sind zwei Alpacas, wie Sania stolz berichtet. Die 16-Jährige fühlt sich schon ganz dazugehörig, obwohl sie erst ein paar Wochen hier arbeitet.
„Wir haben auch zwei neue Alpacas.“
Sania hat ein rundes Gesicht und ein paar rote Strähnen in den braunen langen Haaren. Mit Cassandra nimmt sie an einem Bildungsprogramm teil, angeboten wird es vom Integrationszentrum Foyer im Stadtteil Molenbeek-Saint-Jean. Das Programm richtet sich an Jugendliche, die an regulären Schulen nicht weiterkommen. Meistens sind es Kinder von Einwanderern. Davon gibt es im Molenbeek viele. Wie einst Marokkaner und Pakistaner kamen in den vergangenen Jahren viele Roma wie Sania und Cassandra hinzu. Roma haben am häufigsten Probleme an den Schulen.
ATMO
Sania und Cassandra kamen mit ihren Eltern bereits nach Belgien, als sie erst wenige Wochen alt waren, auf der Flucht vor dem Bürgerkrieg im ehemaligen Jugoslawien. Sie sind in Belgien aufgewachsen, haben aber immer noch keinen sicheren Aufenthaltsstatus. Sie sprechen Niederländisch, Französisch, Serbisch und sogar ein wenig Deutsch.
„Aus dem Fernsehen, Pro7, Kabel 1, Sat1 und so.“
Und doch sieht ihre berufliche Zukunft düster aus. Im Foyer-Programm werden sie keinen regulären Schulabschluss erhalten, sollen aber zumindest ein Gefühl für eine geregelte Arbeit bekommen. Wer wie Sania und Cassandra geschafft hat, einen Praktikumsplatz zu bekommen, der hat die erste Hürde schon genommen. O-Ton/Gespräch Andere Schulen
Kevin Ghekiere ist Sanias und Cassandras Betreuer.
ATMO Gespräch auf Niederländisch
„Im Bildungszentrum Molenbeek, das ist eigentlich Vollzeitunterricht. Jugendliche, die oft Rassismus begegnet sind, Jugendliche, bei denen das Schulniveau zu niedrig ist. Also letztes Jahr hatten wir zum Beispiel Analphabeten. Oder auch Jugendliche, die sich einfach nicht gut fühlen auf normalen Schulen.“
Oft litten gerade Roma unter Anfeindungen derer, die schon länger im Viertel zu Hause sind, sagt Kevin Ghekiere.
„Das passiert vier zwischen der marokkanischen Gemeinschaft und der Roma-Gemeinschaft. Man kann nicht sagen die Marokkaner gegen die Roma natürlich, aber es ist so, dass es hier in Brüssel einige schwierige Schulen, wo die Jugendlichen sagen, die Marokkaner machen das Gesetz.“
Der junge Pädagoge lässt sich von Cassandra und Sania die Krankenstation für die Tiere im Streichelzoo zeigen. Einen Hahn und zwei Kaninchen. Die Mädchen holen die Kaninchen aus den Käfigen, nehmen sie auf den Arm und streicheln sie.
ATMO Gespräch
Woran die Tiere denn litten, will Kevin Ghekiere wissen. Sie fühlten sich nicht recht wohl bei den anderen Tieren, antwortet Cassandra. Dann ruft wieder die Arbeit: Ein Zoowärter kommt hinzu und gibt den Mädchen ihre nächste Aufgabe: Die anderen Meerschweinchen und Kaninchen füttern.
ATMO/O-Ton Aufgaben
Er lobt die beiden. Sie arbeiten hart, sagt er.
Ihre Chance im Streichelzoo haben Sania und Cassandra Johan Lehman zu verdanken. Der ist Migrationsforscher und so etwas wie der oberste Sozialarbeiter von Molenbeek-Saint-Jean. Er leitet das Integrationszentrum Foyer, das seit 45 Jahren versucht, auch die noch zu erreichen, die vom Rest der Gesellschaft schon aufgegeben wurden. ATMO Foyer Pausenraum „Foyer ist eine Initiative, die an der Seite steht der Molenbeekois, der Leute in Molenbeek. Foyer ist Molenbeek.“ Lehman hat ein schlichtes und etwas in die Jahre gekommenes Büro. Nur ein bunt besticktes marokkanisches Sofa bringt etwas Farbe in den Raum. John Lehman hat das einstige
Jugendzentrum ausgebaut und unter anderem das Bildungszentrum gegründet, das Sania und Cassandra besuchen. Lehman kennt die Probleme des Viertels. „Eine große Mehrheit der Leute ist jünger als 30 Jahre, und die Hälfte der Leute hat keine Arbeit. Das ist ein Problem. Es heißt, dass die Jungen keine Beispiele haben. Sie sehen die Älteren nicht arbeiten.“ Was die Lage nicht besser macht: Die Bevölkerungszahl in Molenbeek ist seit dem Ende der 90er-Jahre von 75.000 auf rund 100.000 gestiegen. „Das heißt, viele Leute, man kann sagen 50 Prozent der Leute hier wohnen mit ihren Kindern in Apartments von weniger als 50 Quadratmetern, das heißt auch, dass die meisten Kinder auf der Straße sind.“
Lehman versucht, jede Bevölkerungsgruppe und ihre Probleme zu verstehen und einzubinden in die Arbeit im Viertel. So auch die Roma.
„Es gibt bestimmte Probleme, zum Beispiel, dass Mädchen viel zu jung heiraten. Dass es eine Kultur gibt, wo man sagt, wir sind Roma, wir sind Zigeuner und wir wissen, das ist unsere Zukunft. Sie öffnen nicht genug den Horizont für andere Sachen. Wir müssen daran arbeiten. Für uns wichtig sind die Frauen, sehr wichtig, und die zweite Generation.“
ATMO Streichelzoo
Frauen und zweite Generation, so wie Sania und Cassandra. Sania kann noch nicht sagen, ob die Arbeit im Tierpark auf Dauer etwas für sie wäre. Verkäuferin ist ihr eigentliches Ziel, wie für viele Mädchen, die Foyer betreut und für die Verkäuferinnen bei H&M und Zara zu den wenigen beruflichen Vorbildern gehören. Ein Argument immerhin hat Sania für die Arbeit in dem kleinen Zoo schon gefunden.
„Der Job gefällt mir. Für später weiß ich echt nicht, was ich sein will. Aber: Ich liebe Tiere.“

LITERATUR
Ich will wirklich arbeiten, hart arbeiten. Morgens, mittags, abends, sogar nachts. Egal, was. Hauptsache, ich kann loslegen.
Teller spülen, Tische abräumen, bedienen, Kartons packen, mit dem Gabelstapler fahren, Schwingtore einsetzen, am Fließband arbeiten, Container be- und entladen, Montagearbeiten, ganz egal, was.
Mein Niederländisch ist tadellos, mit authentischem Dialekt, und ich weiß auch, wann ich welches Sprachregister verwenden muss.
Ich mag soziale Kontakte, Ich bin verrückt nach Menschen, aber wenn es sein muss, könnte ich auch stundenlang vollkommen allein unterwegs sein, um Sachen mit einem Transporter irgendwohin zu liefern.
Harte Arbeit schreckt mich nicht, und ich würde alles dafür geben, jeden Tag müde nach Hause zu kommen. Ich durfte das bereits ein paarmal erleben, aber immer viel zu kurz. Jeden Morgen aufstehen, zu einer festen Uhrzeit, mit einem festen Ziel vor Augen. Erst dann fühlt man sich zu etwas nütze, fühlt man, dass man lebt. Das Schamgefühl, das Gefühl, überflüssig zu sein, verschwindet dann wie durch ein Wunder.

Schamgefühl, Orientierungslosigkeit, fehlende Perspektiven. Das ist der Nährboden für einen Radikalisierungsprozess. Wer sich in einer Lebens- und Identitätskrise befindet, der ist offen für neue Ideen, für neue Lebensmodelle, für neue Ideologien. Terrorismusforscher werden nicht müde, auf diese Zusammenhänge hinzuweisen. Und auf die Attraktivität eines radikalisierten Islam, der einfache Schwarz-Weiß-Antworten bietet und die Aussicht, an einem vermeintlich historischen Projekt beteiligt zu sein, dem Aufbau eines Kalifats. Auch wenn diese Zusammenhänge bekannt sind, macht es die Jugendarbeit in Molenbeek nicht leichter. Und zwar wenn es darum geht, Antworten zu finden, auf die Fragen nach der Religion und die Fragen nach dem Islam. In den Moscheen dominiert häufig die erste Einwanderergeneration, denen die aktuellen Probleme junger Männer und Frauen fremd sind. In Belgien versucht die Muslimbruderschaft dieses Vakuum zu füllen. Die islamistische Bewegung hat vor allem im Nahen Osten Einfluss. Besonders in Ägypten tritt sie in Erscheinung. Ableger gibt es aber auch in Deutschland, in den Niederlanden und in Belgien. Lange Zeit hat die Muslimbruderschaft versucht, in Belgien politisch Einfluss zu gewinnen. Nun bietet sie sich als Ratgeber an.

REPORTAGE 3
ATMO Autofahrt
Zakaria Fadlaoui setzt den Blinker und biegt nach links ab von der Hauptstraße, die Brüssels Zentrum mit Molenbeek verbindet. Hier gabelt der Weg sich in drei kleinere belebte Straßen.
„Hier haben wir Ribeaucourt, das ist wirklich die heißeste Ecke von Brüssel. Hier arten die Extreme in beide Richtungen aus, am Abend kommen die Drogendealer raus, es gibt Taschendiebe, Kleinkriminelle, und auf der anderen Seite haben wir die Jugendlichen, die sich radikalisieren.“
Beides, sagt Zakaria Fadlaoui, sei eine Folge der ärmlichen Verhältnisse im Viertel, der Ausweglosigkeit der Jugendlichen. Dazu komme der Rassismus, dem sie ausgesetzt seien.
„Aus diesem Viertel sind eine ganze Reihe junger Menschen nach Syrien aufgebrochen. Da drüben, der Friseur, zwei seiner Stammkunden haben sich radikalisiert und sind heute in Syrien.“
Zakaria Fadlaoui lenkt seinen Wagen in die Rue des Etangs Noirs. Die gleichnamige U-Bahnstation ist bekannt geworden dafür, dass Kontrolleure des Brüsseler Verkehrsunternehmens hier die Arbeit verweigert haben, aus Angst vor Dealern und Banden.
„Überall junge Leute, hinter uns, da vorn, alle auf der Straße. Die arbeiten nicht. Was tun die denn den ganzen Tag? Die tun nichts.“
Überall junge Leute, die täten nichts den ganzen Tag, sagt Fadlaoui. Er trägt einen Fünftagebart, ein hellblaues Hemd unter seiner Jacke und eine graue Stoffhose. Er ist Mitte Dreißig und kam vor elf Jahren aus Marokko nach Belgien. Für den Broterwerb arbeitet er in einem Baumarkt. Unter dem Ansatz seiner kurzen dunklen Haare zeichnet sich ein bräunlicher Fleck auf der Stirn ab. Ein Gebetsfleck, der entsteht, wenn ein frommer Muslim sich über Jahre besonders inbrünstig vor Allah auf den Boden wirft.
„Hier, all die Jugendlichen, viele viele Jugendliche mit Fragen, von denen sie nicht wissen, wem sie sie stellen sollen.“
Mit den offenen Fragen meint Fadlaoui vor allem Fragen nach der Religion, dem Islam, dem richtigen Islam. Fadlaoui glaubt, dass er Antworten hat. Er leitet das Dar al Quran, das Haus des Koran, ein Islamzentrum im benachbarten Stadtteil Anderlecht. Die Einrichtung wird der islamistischen Muslimbruderschaft zugerechnet. Muslimbrüder geben sich selten als solche zu erkennen. Aber ihre Institutionen preisen sie als die bessere Alternative zum mörderischen Dschihadismus des Islamischen Staats. Ein frommer Islam europäischer Prägung als Rüstzeug gegen extremistische Ideen.
„Es gibt viele Moscheen in diesem Viertel. Und die laden die jungen Leute ein, zu kommen. Aber die Mehrheit der Imame, die zum Beispiel das Freitagsgebet abhalten, die sprechen Arabisch und die jungen Leute sprechen Französisch. Deshalb müssen wir auch die Ausbildung der Imame reformieren, sie müssen in der Sprache dieses Landes ausgebildet werden, in der Tradition dieses Landes.“
Fadlaoui hält vor einem gelben Betonklotz, der eher an ein Parkhaus erinnert, als an ein Gotteshaus.
„Dies ist die Al-Khalil-Moschee, das ganze Gebäude…“
ATMO Moschee/Straße
Die Al-Khalil-Moschee, die größte Moschee Brüssels. Rund 2000 Menschen finden hier zum Freitagsgebet Platz. Männer kommen mit Motorrollern vorgefahren, mit dem Auto, gehen zu Fuß, allein oder in Gruppen, in Alltagskleidung, im Anzug oder in traditionellem arabischem Gewand. Eine Bettlerin bittet vor der Tür um Almosen. Und noch während die Gläubigen durch die automatische Glastür eintreten, beginnt der Imam mit dem Gebet. Auch er spricht Arabisch.
ATMO Moschee/Imam
Im Verwaltungstrakt neben der gewaltigen Gebetshalle unterhält die Al-Khalil-Moschee unter anderem eine Grundschule. Mustafa Kastit arbeitet mit an ihrem Lehrplan und ist einer der Imame an der Moschee, die im Wechsel das Freitagsgebet abhalten.
Kastit ist gebürtiger Belgier mit marokkanischer Abstammung. Ein etwas ausgedünnter Vollbart, schmales Gesicht. Der Imam hat seine Ausbildung in Medina in Saudi-Arabien erhalten, erzählt er. Lange überließ Belgien Fragen des Islam im Land weitgehend vorbehaltlos den Saudis und Katar mit ihrer fundamentalistischen Auslegung der Religion. Die Regierung akzeptierte von ihnen getragene Organisationen als religiöse Autorität.
Die Verantwortung für die jüngste Radikalisierung Jugendlicher weist Kastit aber anderen zu. Die jungen Männer, die jetzt in Syrien kämpfen, habe er in der Moschee nie gesehen. Er will, dass die Moscheen sich öffnen. So könnten sie vor allem junge Muslime vorm Abdriften in den gewalttätigen Extremismus zu bewahren.
„Wir müssen den Jungen mehr Raum geben sich zu entfalten. Es ist nicht so, dass die Moscheen ihnen den Zutritt verweigern, aber sie müssen mehr Möglichkeiten haben, sich auszutauschen.“
ATMO Auto
Ein paar Straßen weiter beginnt Anderlecht, bekannt für seinen Fußballclub und ähnlich verrufen wie Molenbeek.
O-Ton Fadlaoui „Wir sind im Herzen von Anderlecht…“ (nur franz. Original)
ATMO Tür/Dar al Quran
Im Haus des Koran von Zakaria Fadlaoui laufen Gebete vom Band. Junge Frauen mit Kopftüchern sitzen im großzügigen Foyer beisammen und diskutieren. In einer Art Klassenraum gibt eine Mitarbeiterin Schülern aus dem Viertel Nachhilfeunterricht.
Alle arbeiten ehrenamtlich hier, auch Fadlaoui. Finanziert werde das Institut von Geschäftsleuten, die nach islamischer Tradition einen Teil ihres Gewinns spenden. Spenden, mit denen Fadlaoui aus orientierungslosen Jugendlichen fromme Muslime machen will.
„Ich glaube, dass die Jugendlichen mehr denn je jemanden brauchen, der ihnen zuhört, jemanden, der sie versteht und jemanden, der ihnen Orientierung bietet.“

LITERATUR
Wie zu vermuten, war von Redouan und Hafid keine Spur. Die fuhren zu dieser Tageszeit wahrscheinlich gemütlich in der Gegend herum, in der Hoffnung, irgendwo ein paar Mädels aufreißen zu können.
Ich hingegen saß hier, in diesem von Heiligkeit stickigen Saal, und wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Alle taten enorm wichtig und weihevoll. Keiner lachte. Die mâshallâhs und alhamdullilahs nahmen kein Ende. Sogar wenn sie sich diskret räusperten, murmelten sie etwas Sakrales. Die Erlaubnis, sich räuspern zu dürfen oder so, ein Stoßgebet, damit das Räuspern ein gutes Ende nahm, oder was weiß ich. Ich weiß nur, dass sie mir ziemlich schnell auf die Nerven gingen, aber ich blieb brav dort hocken, denn ich wollte sehr gern jemand werden und was lernen.
Der Imam sprach von der Notwendigkeit, uns als Gemeinschaft zu organisieren. Über das Bündeln unserer Talente und Kräfte, um weiterzukommen.
Über die Wichtigkeit der Erziehung unserer Kinder.
Natürlich hatte er Recht, nur wie macht man das? Unsere Gemeinschaft war wie eine Flasche Quecksilber, die auf der Straße zersprungen war. Aberhundert kleine Kügelchen waren in alle Richtungen gerollt.

Wer die Jugend in Molenbeek erreichen will, der muss sich an ihre Mütter und an ihre Großmütter wenden. Mit dieser Strategie arbeitet das Frauenhaus Dar al Amal. Es bietet den überwiegend muslimischen Frauen ein Refugium an, wo sie ganz für sich sind, und nur selten fremde Besucher empfangen. Denn oft müssen sich die Frauen erst einmal selbst zurechtfinden, in einer Welt, in der vieles anders ist. In der muslimische Männer aber dennoch verlangen, dass bestimmte Traditionen eingehalten werden.

REPORTAGE 4
ATMO Markt
Es ist Markttag in Molenbeek. Die Marktschreier preisen im Wechsel ihre Ware an, singen fast, schaukeln sich gegenseitig hoch, auf Arabisch, manchmal Französisch. Frauen stehen vor den Ständen, greifen nach der ausgehängten Wäsche, prüfen die angepriesenen Avocados und Paprika. Hier ist Molenbeek eine laute Männerwelt.
ATMO
Nur ein paar Schritte weiter zeigt sich ein anderes Molenbeek. An einer schweren braunen Holztür in der Rue de Ribaucourt 51. Im Fenster daneben hängt ein Leinentuch, in roter Schrift bestickt: Dar al Amal. Das ist Arabisch und bedeutet Haus der Hoffnung. Darunter die Umrisse Belgiens und der Satz: Wir sitzen alle im selben Boot, auf Französisch und Niederländisch. Wer hinein möchte in den für Brüssel typischen schmalen Rotklinkerbau aus der Jahrhundertwende, muss klingeln. Dann kommt eine Mitarbeiterin und öffnet die doppelt abgeschlossene Tür.
ATMO Klingel/Bonjour
Zwei Frauen treten ein, werden begrüßt, gehen in den breiten Hausflur. Die Tür ist schnell wieder geschlossen und lässt den Lärm auf der Straße.
„Das Haus gibt es jetzt seit 35 Jahren. Am Anfang waren vor allem Marokkanerinnen und Türkinnen hier, weil vor allem die hier in Molenbeek wohnten, aber jetzt ist es wirklich multikulturell geworden, mit allen möglichen Kulturen und Nationalitäten.“
Sagt Zakia Zaka. Sie arbeitet im Dar al Amal. Ihre Familie stammt ursprünglich aus Pakistan. Das Haus achtet darauf, dass nicht nur seine Besucherinnen die verschiedenen Kulturen im Viertel widerspiegeln, sondern auch die Mitarbeiterinnen. Zakia kennt Molenbeek und seine Einwohner, sie verbrachte schon ihre Kindheit hier.
ATMO Treppe/Lachen
Die beiden Frauen, die gerade angekommen sind, gehen zu einer Holztreppe am Ende des Flurs. Sie wollen in den ersten Stock. Zum Nähkurs.
„Es begann als Emanzipationsprojekt. Frauen, die nur zu Hause saßen, sollten kommen und andere treffen, Informationen kriegen, einfach aus den Häusern kommen. Denn wenn sie nur da sitzen, kriegen sie ja nichts mit von dem Land, in dem sie leben. Wir sind auch gemeinsam unterwegs, besuchen das Parlament, andere Städte. Die Frauen sollen das Land kennenlernen.“
Rund 200 Frauen haben sich in diesem Jahr im Dar al Amal angemeldet. Sie besuchen Sprach- und Kunstkurse, geben gemeinsame Essen, gehen zum Schwimmunterricht und – das war eine kleine Revolution in Molenbeek – ab und an steigen die Frauen gemeinsam aufs Fahrrad und pfeifen auf die Blicke und die Missgunst der Männer.
„Am Anfang haben sie Angst, in dieser Gegen Fahrrad zu fahren, weil überall Männer sind. Also fahren wir gemeinsam in der Gruppe und dann ändert sich das. Die Kollegin, die den Nähkurs anbietet, die fährt jetzt jeden Tag mit dem Fahrrad her und fährt auch so umher in Molenbeek. Das ist ganz neu, eine Frau auf dem Fahrrad, eine marokkanische Frau mit Kopftuch noch dazu.“
ATMO Türklopfen/Nähkurs
Die fahrradfahrende marokkanische Frau mit dem Kopftuch geht in einem kleinen Raum im ersten Stock mit aufmerksamem Blick zwischen den Tischen der Frauen umher. Die folgen, Nadel und Faden in der Hand, ihren Anweisungen.
ATMO
Die Frauen sind nicht nur hier, um besser nähen zu lernen. Die Worte ihrer Kursleiterin verhallen in den Gesprächen der Frauen. Sie tratschen, lachen, erzählen Witze, treffen Verabredungen. Und das ist der Sinn der Sache.
„Die Frauen, die herkommen, finden sich zu Gruppen zusammen und dadurch fühlen sie sich stärker. Am Anfang, wenn sie nach Belgien kommen, sind sie schüchtern und mögen nicht mal auf die Sprachschule gehen, weil es da laut ist und es gemischte Klassen gibt. Und hier ist es ruhiger und privater und sie sind unter Frauen. Und dann gewinnen sie Selbstvertrauen.“
Zakia Zaka kann gut nachempfinden, wie groß die Umgewöhnung ist für Frauen, die das Miteinander in Belgien nicht gewohnt sind.
„Es ist einfach alles anders hier. Ich meine, wenn ich zurück nach Pakistan fliege und dort mit dem Bus fahre, dann kann ich nicht mal neben einem Mann sitzen. Du brauchst einfach ein bisschen Zeit, dich hier anzupassen. Und dieses Haus gibt ihnen ein bisschen Zeit und Raum und dann geht es auch.“
Den Frauen, die nach Belgien kommen, Halt zu geben in ihrem neuen Umfeld, das ist ein Ziel von Dar al Amal. Aber dahinter steckt auch eine andere Idee. Molenbeek hat sich verändert über die Jahre.
„Am Anfang hatten wir mehr europäische Nachbarn, Italiener, Spanier, Griechen, aber das hat sich geändert, jetzt sind es vor allem Marokkaner und Türken, auch ein paar Osteuropäer, Afrikaner.“
Und die Männer mögen im Vordergrund stehen in vielen der Bevölkerungsgruppen, die sich in Molenbeek niederlassen. Aber die Frauen sind die, die eigentlich die Geschicke in ihrer Hand haben, davon sind die Macherinnen vom Dar al Amal überzeugt.
„Die Idee von Dar al Amal ist, dass die Emanzipation der Familie über die Frau geht. Sie erzieht die Kinder, und wenn sie viel weiß und aufgeschlossen ist, dann ist es die Familie auch. Denn sie redet mit ihren Kindern und kann ihnen auch mal sagen, dass sie etwas anders sieht als sie. Das ist die ganze Idee, denke ich, nicht nur die Frauen zu emanzipieren, sondern die ganze Familie, über die Frau.“
ATMO Nähkurs/Treppenhaus
Als der Nähkurs zu Ende geht, suchen die Frauen ihr Nähzeug zusammen und machen sich auf den Weg. Sie gehen gemeinsam. Hinaus auf die Straße. In den Lärm. In der kommenden Woche sehen sie sich wieder. Spätestens.
ATMO Straße

So ganz ist Belgien noch nicht in den Alltag zurückgekehrt. Immer noch herrscht erhöhte Wachsamkeit. Immer noch gilt für das gesamte Land die zweithöchste Terrorwarnstufe. Die belgische Regierung lässt öffentliche Gebäude und Einrichtungen von schwer bewaffneten Soldaten bewachen. Außerdem hat sie ein Anti-Terrorpaket beschlossen. Mit Maßnahmen wie einem vorübergehenden Entzug des Personalausweises, einer stärkeren Überwachung sozialer Netzwerke und von Telefongesprächen. Aus Sorge davor, dass sich ein Anschlag wiederholt. Wie im Mai 2014 auf das jüdische Museum in Brüssel. Als ein fanatischer Syrien-Heimkehrer vier Menschen erschossen hat. Brüssel hat eine lange jüdische Tradition und gilt neben Antwerpen als das Zentrum jüdischen Lebens in Belgien.
Wer jedoch nach den Spuren jüdischen Lebens in Molenbeek sucht, der findet sie nur im Museum. Und zwar im jüdischen Museum im vornehmen Brüsseler Zentrum.

REPORTAGE 5
ATMO Museumstür/O-Ton Soldat
Zwei schwer bewaffnete Soldaten bewachen das Jüdische Museum in Brüssels gediegenem Sablon-Viertel. Auch Paul Dahan, der im Museum Quartier bezogen hat, muss sie passieren. Ein Soldat zieht eine Liste hervor, auf der alle Mitarbeiter des Museums mit Foto aufgeführt sind. Als er Dahans Bild gefunden hat, lässt er ihn eintreten.
„Erst hatten wir die Polizei hier, nun diese Sondereinheit aus den Ardennen.“
ATMO Treppenhaus
Dahan trifft im Treppenhaus Museumskurator Philippe Pierret und eine weitere Kollegin. Wir sind die Überlebenden des Jüdischen Museums, scherzt sie mit bitterer Ironie. Dahan ist marokkanischer Jude. Seit Jahren schon lässt es ihm keine Ruhe mehr, dass sich Antisemitismus in der marokkanisch-stämmigen Bevölkerung in Belgien ausbreitet.
Deswegen gründete er das Zentrum für Jüdisch-Marokkanische Kultur. Seine beachtliche Sammlung hat er im Jüdischen Museum untergebracht.
ATMO Schul Beth Israel/Musik
Eine Holztür aus der Jahrhundertwende führt ins Herzstück des Museums. Der Raum ist schmal, wie häufig in Brüssels Stadthäusern. Drei gute Schritte reichen, um ihn zu durchqueren. Ein Tisch, mit einer Plastiktischdecke, zwei karge Sitzbänke ohne Lehne und ein hölzerner Stuhl am Kopfende. Über dem Kaminsims ein Bücherbord, daneben eine kleine Küchenanrichte. Ein Kessel und ein Emaille-Teller stehen dort, als seien sie eben noch benutzt worden. Eine Flügeltür führt in den zweiten Raum. Darin steht der Aron Kodesch, der heilige Schrein mit den Tora-Rollen.
„Diese Schul entstand in einer schrecklichen Zeit für die Juden, 1946, die Menschen kamen aus dem Krieg zurück, die jüdischen Familien waren zerstört, sie hatten viele ihrer Angehörigen in der Shoah verloren. Die Leute hier kamen aus der Ukraine, und sie gründeten diese kleine Schul in Molenbeek.“
Erzählt Kurator Philippe Pierret. Auf dem einfachen Tora-Schrein halten zwei Löwen die Tafeln mit den zehn Geboten. Alles ist an seinem Ort in der kleinen Synagoge von Molenbeek. Nur: die Synagoge gibt es seit schon gut zehn Jahren nicht mehr. Sie ist zum Ausstellungsstück geworden. Und die jüdischen Familien wohnen inzwischen in der Innenstadt oder in anderen Brüsseler Vierteln wie Uccle und Forest. In Molenbeek leben heute vor allem marokkanische Einwanderer. Sie sind mehrheitlich Muslime, aber Paul Dahan will ihnen zeigen, dass sie durch ihre Herkunft stärker jüdisch geprägt sind, als sie sich das vorstellen können.
ATMO Keller
Der Weg in seine Sammlung führt hinab in den Keller, vorbei an alten Gefängniszellen. Während der Besatzung in den 40er-Jahren hatten die Deutschen das Gebäude beschlagnahmt und hier Gegner eingesperrt. Ein paar Schritte weiter hinter einer mit einem elektronischen Code und zwei Schlössern gesicherten Tür liegt Dahans Schatz.
ATMO Tür
„Es sind vor allem Bücher, Bücher und Manuskripte über Marokko, spezialisiert auf marokkanische Juden. Ich sammle und versuche zu zeigen, wie sehr die Juden die
marokkanische Gesellschaft beeinflusst haben und umgekehrt. Ich zeige das vor allem jungen Marokkanern, die überhaupt keine Ahnung haben von ihrer Geschichte. Die sind total verdreht, für sie bedeutet das Wort Jude nichts als Israel, Araber töten und so weiter.“
Dabei ist die Geschichte von Juden und Arabern in Marokko stärker verwoben als in vielen anderen Ländern.
ATMO Stufen, Mörser, Schriftrolle
Das zeigt sich noch ein paar Stufen weiter unten im zweiten Teil von Dahans Sammlung. Hier bewahrt er historische Gebrauchsgegenstände auf, einen kupfernen Mörser, alte jüdische Schriftrollen, Taschen, Kopfbedeckungen. Er zieht ein traditionelles marokkanisches Gewand hervor.
Dass es das Gewand eines Juden war, erkennt Dahan daran, dass die Innenseite nach außen gekehrt wurde. So herum durften auch Juden es tragen.
„Juden lebten sogar früher in Marokko als Araber, sie kamen aus Palästina und lebten Seite an Seite mit den Berbern. Ende des 15. Jahrhunderts dann kamen Juden und Araber nach Marokko, die gemeinsam aus Spanien vertrieben wurden. Diese Juden hatten mit den Arabern fast mehr gemein, als mit jenen anderen Juden, die schon Jahrhunderte zuvor aus Palästina gekommen waren.“
Marokko habe schon immer eine so vielseitige Bevölkerung gehabt, dass auch Juden darin ihren Platz finden und ihre Traditionen bewahren konnten, sagte Dahan. Und sie nutzten die Differenzen, um zu vermitteln.
ATMO Schreibmaschine
Dahan holt eine Schreibmaschine mit hebräischen Buchstaben hervor, eine der wenigen, die in Marokko existierten. Viele der Dokumente in seiner Sammlung seien damit geschrieben worden, berichtet er. Die Juden erarbeiteten sich Respekt. Marokko sei das einzige arabische Land, in dem noch heute heilige jüdische Grabstätten auch von Arabern verehrt würden. Paul Dahan ist Psychoanalytiker und beschäftigt sich vor allem damit, wie Identität entsteht und welche Probleme Menschen damit haben können.
„Ich habe festgestellt, dass viele Marokkaner in Belgien ein großes Problem mit ihrer Identität haben. Ich glaube, dass die Leute, die sich dem Islamischen Staat anschließen,
sehr frustriert sind. Und das hat auch damit zu tun, dass ihnen Identität fehlt. Sie wollen 100 Prozent Muslim sein, auch wenn sie vorher gar nicht praktiziert haben. Sie ziehen Stärke daraus, dass sie zu einer Gruppe, einer Familie gehören. Leute, die so instabil sind, sehen die Welt schwarz und weiß: Juden sind so und Araber sind so.“
Ein solches Weltbild ließe sich nur behutsam aufbrechen, sagt Dahan.
„Es ist sehr schwierig, jemanden zu ändern, der extrem denkt, denn er hat Angst, dass er all das wieder verliert, was er für seine Identität hält.“
Und wie reagieren junge marokkanische Belgier, wenn Dahan ihnen sagt, dass sie auch ein jüdisches Erbe haben?
„Ich sage ihnen das nicht so, denn sie haben Angst vor dem Wort Jude. Ich spreche arabisch und reiße dann ein paar Witze und plötzlich merken sie, wie ähnlich wir uns sind. Manchmal kann ich sofort sehen, wie offen sie sind. Sie kommen mir dann auffällig nahe, weil sie das Bedürfnis haben, ihrer muslimischen Identität ein wenig zu entfliehen. Wenn du zu sehr in einer Identität steckst, beginnst du zu leiden.“

Zwischen Terror und Toleranz – Belgien will zurück in den Alltag. Das waren Gesichter Europas mit Reportagen von Benjamin Dierks. Die Literaturauszüge stammen aus dem Roman “Über die Liebe und den Hass“ von Rachida Lamrabet. Erschienen im btb Verlag. Gelesen von Tom Jacobs, Musikauswahl und Regie: Babette Michel. Ton und Technik: Christoph Rieseberg und Katrin Fidorra. Am Mikrofon war Katrin Michaelsen.