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Drama in fünf Akten

Thyssenkrupp-Zentrale in Essen: Eindringlich warnt der scheidende Aufsichtsratschef davor, dass der Traditionskonzern auseinanderfallen könnte. (Foto: Armin von Preetzmann / Wikimedia Commons)

In nur einem Jahr rutschte Thyssenkrupp ganz tief in die Krise. Eine Rekonstruktion. In den Hauptrollen: eine Professorin und vier Manager.

Aufstieg im Kaiserreich, Rüstungsgeschäft in beiden Weltkriegen, größter Stahlhersteller, Neuanfang als Technologiekonzern: Wenige deutsche Unternehmen haben eine so lange und wechselvolle Geschichte wie Thyssenkrupp. Und nun hat die Traditionsfirma aus Essen ein so chaotisches Jahr wie noch nie hinter sich, wenn sie an diesem Mittwoch ihre Zahlen präsentiert. Vorstandschef und Chefkontrolleur sind weg, an der Börse ist der Konzern nur noch zehn Milliarden Euro wert, ein Viertel weniger als vor einem Jahr. Jetzt will sich Thyssenkrupp in zwei eigenständige Firmen zerteilen. Dieser Plan steht am Ende einer Geschichte von Angriff und Verteidigung, von Rücktritten und Rückschlägen - Rekonstruktion eines Chaosjahrs in Essen.

Erster Akt: Vor genau einem Jahr schaltet Cevian Capital auf Angriff. Zu unzufrieden ist die schwedische Investmentfirma mit der Entwicklung von Thyssenkrupp. Obwohl sie schon seit Jahren beteiligt ist, 18 Prozent der Aktien hält und mit einem Vertreter im Aufsichtsrat sitzt, dümpelt der Aktienkurs noch immer bei 22 Euro. Cevian-Gründer Lars Förberg verliert die Geduld: "Die Ergebnisse sind besorgniserregend", kritisiert er den Vorstand öffentlich, per Zeitungsinterview, einen Tag nach der Bilanzvorlage.

Cevian nennt sich selbst einen "aktiven Anteilseigner". Der Investor kauft Aktienpakete an Konzernen, die er für unterbewertet hält, und drängt auf Veränderungen. Thyssenkrupp etwa sei viel zu kompliziert aufgestellt, kritisiert Förberg, mit seinen vielen Sparten von Stahlwerken über U-Boote bis hin zu Aufzügen. Seit Jahren verfehle der Konzern seine selbstgesetzten Ziele. Andere Unternehmen machten es doch vor, argumentiert der Investor, verweist auf Siemens oder Bayer, die einzelne Sparten an die Börse brachten und sich auf wenige Kerngeschäfte konzentrierten. "Die Konglomerate der Vergangenheit wandeln sich", sagt Förberg. Nur Thyssenkrupp wandle sich zu langsam. "Wir führen Thyssenkrupp integriert, weil das zu messbaren Vorteilen führt", entgegnet Vorstandschef Heinrich Hiesinger kurz drauf. Förberg gibt aber keine Ruhe.

Zweiter Akt: Als Thyssenkrupp im Januar 2018 zur Hauptversammlung lädt, an einem frostigen Tag in Bochum, sitzt Ursula Gather noch unten im Saal, bei den Aktionären. Doch damit soll jetzt Schluss sein. Gather leitet das Kuratorium der Krupp-Stiftung, der mit 21 Prozent der Anteile größten Aktionärin des Konzerns. Die Stiftung verwaltet seit fünf Jahrzehnten das Erbe der Familie Krupp und darf zwei Vertreter in den Aufsichtsrat entsenden. An jenem Freitag zieht Gather selbst in das Kontrollgremium ein. Der Konflikt baut sich auf.

Unter Gather kommuniziert die Stiftung zu dem Zeitpunkt kaum nach außen. Man setze sich für den "langfristigen Erhalt" und die "eigenverantwortliche Fortführung" von Thyssenkrupp ein, heißt es in einer der knappen Mitteilungen aus der Villa Hügel, dem einstigen Krupp-Wohnhaus in Essen. Im Aufsichtsrat fällt Gather, hauptberuflich Rektorin der Technischen Universität Dortmund, dem Vorstand um Hiesinger zwar nicht offen in den Rücken. Doch die Statistikprofessorin hört zu, wenn andere Kontrolleure der Kapitalseite kritische Fragen stellen. Im Frühjahr nimmt Gather den Vorstand kein einziges Mal öffentlich in Schutz, als Investoren wie Cevian den Druck erhöhen. Diese Zurückhaltung nehmen Hiesingers Getreue der neuen Aufsichtsrätin übel.

Dritter Akt: Heinrich Hiesinger hat nach Brüssel geladen, in die Stadt, in der einst die Europäische Gemeinschaft für Kohle und Stahl entstand. Dort besiegeln Thyssenkrupp und der indische Konzern Tata im Juni, dass beide Unternehmen ihre Stahlwerke in Europa in ein Gemeinschaftsunternehmen auslagern wollen, um der schwierigen Lage auf dem Weltmarkt besser begegnen zu können. "Wir schaffen wirklich etwas Großes", sagt Hiesinger, sichtlich gelöst nach zwei Jahren schwieriger Verhandlungen. Doch es ist seine letzte Entscheidung. Drei Tage später tritt Hiesinger überraschend zurück. Der frühere Siemens-Manager hat Thyssenkrupp vom Jahr 2011 an vor dem Ruin gerettet, nachdem der Konzern mehrere Milliarden in defizitären Stahlwerken in Übersee versenkt hatte und in viele Korruptionsfälle verstrickt war. In Essen nannten sie ihn schon "Heinrich, den Löwen". Doch könne man ein Unternehmen nur erfolgreich führen, wenn man die "breite Unterstützung der Aktionäre und im Aufsichtsrat" genieße, erklärt Hiesinger seinen Abgang - ein Seitenhieb auf die Krupp-Stiftung. Auch haben sich im Aufsichtsrat gleich drei Kontrolleure der Kapitalseite enthalten, als über die Stahlfusion abgestimmt wurde. "Ich gehe diesen Schritt bewusst, um eine grundsätzliche Diskussion im Aufsichtsrat über die Zukunft von Thyssenkrupp zu ermöglichen", sagt er und schweigt seitdem.

Vierter Akt: Keine zwei Wochen später, im Juli 2018, tritt auch jener Mann ab, der die Diskussionen im Aufsichtsrat all die Jahre moderiert hat: Chefkontrolleur Ulrich Lehner vermisst "das Vertrauen der großen Aktionäre", wie er in seiner letzten Mitteilung schreibt, "und ein gemeinsames Verständnis im Aufsichtsrat". Zehn Jahre lang wachte Lehner über die Geschäfte von Thyssenkrupp - und stützte Hiesinger in dessen Kurs, den Ruhrkonzern zusammenzuhalten, möglichst im Einklang mit den Arbeitnehmervertretern. Lehner fremdelt mit Investoren wie Cevian, die Konzerne öffentlich unter Druck setzen. Einige Großaktionäre beschritten Wege, "die teilweise schon als Psychoterror bezeichnet werden können", sagt Lehner in seinem letzten Interview. Manche kritische Investoren würden Stimmen auf Hauptversammlungen kaufen und Vorstandsmitglieder belästigen, die anschließend in psychiatrische Behandlung müssten.

Nach dem Abgang scheint alles möglich, wie so oft in einem vierten Akt. Eindringlich warnt Lehner davor, dass der Traditionskonzern auseinanderfallen könnte: Sein Rücktritt möge dazu beitragen, "das nötige Bewusstsein bei allen Beteiligten zu schaffen, dass eine Zerschlagung des Unternehmens keine Option darstellt." Auch diese Zeile deutet man in Essen als Appell an die Krupp-Stiftung: Sie möge bitte das Schlimmste verhindern.

Fünfter Akt: In der gläsernen Thyssenkrupp-Zentrale in Essen räumt Guido Kerkhoff, der Nachfolger Hiesingers, auf. Die Anlagen- und Schiffbausparte macht in diesem Jahr Verluste. Schuld seien Marineprojekte in der Türkei, eine Zementanlage in Saudi-Arabien und ein Kraftwerk in Australien; die Projekte verzögerten sich. "Wir müssen uns in all unseren Geschäften deutlich verbessern", kündigt er an - und gibt erstmals vor, wie schnell die einzelnen Sparten ihre Gewinnziele erreichen sollen. Dann kündigt er im September überraschend an, dass sich der Konzern zweiteilen will: Die Technologiegeschäfte um Aufzüge, Autoteile und Anlagen sollen in einer "Thyssenkrupp Industrials AG" aufgehen; Stahlwerke, Metallhandel und Marinegeschäft verbleiben in einer "Materials AG". Im Aufsichtsrat stimmen die Vertreter von IG Metall wie Cevian gleichermaßen zu; das Gremium wählt den langjährigen Kontrolleur Bernhard Pellens übergangsweise an seine Spitze - und hofft auf ein glückliches Ende im fünften Akt. Doch muss die Hauptversammlung dem Teilungsplan noch zustimmen. Vorletzte Woche teilt der Konzern mit, dass er im abgelaufenen Geschäftsjahr nur einen Gewinn von etwa 100 Millionen Euro eingefahren hat, weniger als im Vorjahr.

In Essen weiß man, dass kritische Investoren keine Ruhe geben werden, solange der Konzern schlechte Zahlen vorlegt und nicht deutlich an Börsenwert gewinnt. Kerkhoff zieht deshalb Konsequenzen: Die Chefs des Anlagenbaus, der Handelssparte und des Aufzugsgeschäfts sollen gehen. Noch ist Kerkhoff kein tragischer Held. Nicht jedes Drama muss im fünften Akt in der Katastrophe enden.

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