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80 Milliarden Euro für eine Wiese

Es ist ja nicht so, dass Kurt Claßen gar nicht gesprächsbereit wäre: Er sagt, die 80 Milliarden seien eine "Verhandlungsbasis". (Foto bei SZ.de: Wilfried Meisen / Kölner Stadtanzeiger)

Am Rande des Rheinischen Braunkohlereviers liefert sich Kurt Claßen einen kuriosen Rechtsstreit mit dem Energiekonzern RWE.


Kurt Claßen weiß, dass seine Wiese wertvoll ist. Schon klar, sie ist nicht mal ein halbes Fußballfeld groß, und der 69-Jährige baut dort auch nichts an. Doch unter dem Grundstück in Merzenich bei Aachen schlummert Braunkohle. Und in sechs Jahren will der Energiekonzern RWE diese Kohle zutage fördern, um sie in einem der nahen Kraftwerke zu verstromen. Kurt Claßen, Steuerberater aus Kerpen, will das verhindern.

Vor zwei Jahren hat RWE ihm 12 500 Euro für den Acker geboten, genau fünf Euro pro Quadratmeter. Doch das ist Claßen viel zu wenig: Er fordert 80 Milliarden Euro von dem Konzern. "Das ist eine Verhandlungsbasis", sagt Kurt Claßen.

Man kann sagen, dass die Vorstellungen recht weit auseinanderliegen, weshalb zumindest bei RWE niemand mehr an eine Einigung glaubt. Die Wiese aber ist nicht irgendein Acker, wie es so viele gibt in dieser flachen Gegend zwischen Aachen, Köln und Mönchengladbach. "Die Wiese ist ein großes Symbol des Widerstands", sagt Claßen. Der 69-Jährige hat sie vor sieben Jahren gekauft. Damals war absehbar, dass die großen Schaufelradbagger des Tagebaus eines Tages anrücken würden. 2012 besetzten Aktivisten den nahen Hambacher Forst, um die Abholzung dieses alten Waldes zu verhindern. Und als die Polizei ihre Lager räumte, duldete Claßen, dass die Aktivisten fortan auf seinem Acker kampierten. Die Hütten und Wohnwagen stehen bis heute auf dem Land.

Die Zahl ist nicht frei erfunden. Kurt Claßen, Steuerberater, hat sie ausgerechnet

Claßen hat seine Forderung in seinem Steuerbüro ausgerechnet, einem bunt tapezierten Raum unter dem Dach eines Backsteinhauses in Kerpen-Buir. Auf dem Schreibtisch steht eine Rechenmaschine, in der massiven Holzvitrine schlummern Akten und Gesetzesbücher. Zwar weiß der Steuerberater, graue Haare, rheinischer Zungenschlag, dass ein Quadratmeter in Merzenich keine 32 Millionen Euro wert ist. Doch seine Rechnung geht anders: Wenn er seine Wiese nicht verkauft, dann kämen die Schaufelradbagger eines Tages nicht mehr weiter, dann käme aus Hambach keine Kohle mehr. "Es geht darum, welchen Ertrag der Tagebau dem Unternehmen RWE bringt", sagt Claßen. Aus einem Geschäftsbericht des Konzerns habe er entnommen, dass die Braunkohleverstromung im Rheinland RWE vier Milliarden Euro Ertrag in einem Jahr eingebracht habe. Etwa 20 Jahre lang wolle der Versorger noch die dortigen Flöze zutage fördern. Und viermal 20 sei nun mal 80.

RWE will dem Schauspiel nun ein Ende bereiten. "Wir haben versucht, mit Herrn Claßen zu verhandeln", sagt ein Sprecher. Doch Ende April habe der Konzern dann ein Grundabtretungsverfahren beantragt, sprich: Die Bezirksregierung soll den Wiesenbesitzer enteignen, gegen eine Entschädigung von RWE. In den allermeisten Fällen einige man sich ja gütlich mit Grundeigentümern, beteuert der Sprecher. Aber in der Causa Claßen sei es durchaus möglich, dass man sich vor Gericht wiedersehe. Der Steuerberater hat schon mehrmals Bergbehörden verklagt. Doch die 80 Milliarden Euro seien ein Novum: "Eine Forderung in der Höhe hat es noch nie gegeben."

Der Fall steht für eine komplizierte Frage. Was wiegt schwerer: das Recht auf Eigentum des Grundbesitzers? Oder der Beitrag der Braunkohle zur sicheren Stromversorgung? Das Bundesverfassungsgericht hat im Jahr 2013 ein Grundsatzurteil gesprochen, als es den Rahmenbetriebsplan eines RWE-Tagebaus akzeptierte. Doch sind seitdem noch mehr Solar- und Windkraftwerke ans Netz gegangen. In diesem Jahr soll eine Kommission der Bundesregierung einen Ausstieg aus der Kohleverstromung beraten. "Der Strommarkt hat sich total geändert", sagt Kurt Claßen. Längst trage die Braunkohle nicht mehr überwiegend zum Gemeinwohl bei.

An diesem Freitag endet nun eine Frist: Wenn Kurt Claßen nicht nachweist, dass er ernsthaft mit RWE verhandelt, kann die Bezirksregierung einen Sachverständigen bestellen. Dieser würde dann einen fairen Wert der Wiese ermitteln, zu dem der Konzern Claßen entschädigen müsste. Und bei RWE ist man sich schon ziemlich sicher, dass dieser unter 80 Milliarden Euro liegen würde. Freilich könnte der streitlustige Steuerberater gegen seine Enteignung klagen. Gerade weil sich all dies ziehen kann, geht der Energiekonzern schon auf Grundbesitzer zu, mehrere Jahre bevor die Bagger anrollen.

Der Tagebau scheidet die Geister hier zwischen Aachen, Köln und Mönchengladbach: Einerseits gibt er Tausenden Menschen Arbeit; zudem ist die Braunkohle ein billiger, heimischer Rohstoff. Andererseits verursacht kein anderer Energieträger so viel Tonnen CO₂ pro Kilowattstunde Strom. Manche Anwohner beklagen die schlechte Luft, vermissen die alten Kirchtürme in den umgesiedelten Dörfern.

Kurt Claßen will vor allem für den Hambacher Wald kämpfen, den er seit seiner Kindheit kennt. Stundenlang sei er in dem uralten Forst spazieren gegangen. "Ich habe mich schon verlaufen in diesem Wald." Seine Kämpfe durch die Instanzen würden ihm helfen, sein Gewissen zu beruhigen: Wenn in einigen Jahren der letzte Baum gefällt würde und er hätte nichts dagegen getan, so sieht er es, "dann könnte ich nicht mehr ruhig schlafen."

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