Oh Mann, hätte ich meine bordeauxrote Daunenjacke bloß zu Hause gelassen. Wie ein BFC-Anhänger sehe ich aus - inmitten gelb-blauer Trainingsjacken, Jogginghosen, Wimpel, Schals. Ein weinroter Eindringling im Reich des FC Carl Zeiss , der höflich fragt, ob er alles mit seinem Tonbandgerät aufzeichnen darf. "Sag doch gleich, dass du Mielke heißt!", ruft einer. Altherrenrundengelächter. Mielke, der Stasi-Chef, war Fan des Berliner FC Dynamo - nicht nur deshalb ist der Club bis heute als Stasi-Verein verschrien.
Ein Freitagabend im Oktober 2021, eine Stunde vor Spielbeginn in Jena. Im Paradies-Café nippen zwölf Männer an ihrem Pils der Marke Rosen, im Regal stehen Kerzenständer aus billigem Chrom. Was bloß hat mich, den Nachwende-Wessi, hierher verschlagen?
Wahrscheinlich, um es mal ein bisschen pathetisch auszudrücken: der Glanz einer untergegangenen Fußballära. Jena gegen den BFC, das war früher so was wie Bayern gegen Dortmund, der Classico des Ostens. Zusammengerechnet sind die beiden in der DDR 13-mal Meister geworden. Sie haben Fußballgeschichte geschrieben. Lange her, lang vergessen.
Heute muss man in der Kicker- App weit nach unten scrollen, vorbei an erster und zweiter Bundesliga, selbst an der dritten, bis in die Regionalliga Nordost. Hier, im Niemandsland zwischen Amateur- und Profifußball, treten die Legenden des DDR-Fußballs gegeneinander an: Carl Zeiss Jena, im Oktober Tabellenfünfter, gegen den Zweiten, Berliner FC Dynamo.
Im Paradies-Café treffen sich jene, die so felsenfest hinter den Viertligisten von heute stehen, als seien sie noch die Legenden von damals. Hier treffen sich die "Eagles", die von sich behaupten, der älteste Fanclub von Carl Zeiss Jena zu sein. Drahtige Fahrradtypen und gemütliche Biertrinker Mitte 50, die Schweineschnitzel mit Spiegelei verputzen.
Ich komme mit einem Mann ins Gespräch, der sich als Burki vorstellt. Burki hat etwas Bärenhaftes. Ein rundes, freundliches Gesicht mit struppigem Bart. Im normalen Leben arbeitet er bei einem Verlag, als Lektor für Geschichtsbücher. 1968, als er vier Jahre alt war, sei Burki das erste Mal ins Stadion gegangen, "beim Vaddi" an der Hand. Danach sollte er nur wenige Heimspiele am Ernst-Abbe-Sportfeld verpassen. Auch beim Jahrhundertspiel 1980 habe er auf seinem Stammplatz auf der Gegengeraden gestanden, gleich unter der Uhr. Jena gewann 4:0 gegen den AS Rom - nach einem 0:3 im Hinspiel. Die Mannschaft schaltete danach noch Valencia, Newport, Lissabon aus - bis das Finale schließlich mit 1:2 gegen Dinamo Tiflis verloren ging. Der Finaleinzug war einer der größten internationalen Erfolge einer DDR-Mannschaft.
Mittlerweile hat sich eine Traube von Männern um uns gebildet. "Heute ist ganz schön viel Polizei für ein Viertligaspiel", sage ich in die Runde. Einer antwortet: "Jetze sache isch dir ma, wie's damals war." Damals, in DDR-Oberliga-Zeiten, da habe es bei den Spielen gegen den BFC "geknallt bis zur Saale runter".
"Das wäre ein Grund gewesen, um verhaftet zu werden"Der sei verhasst gewesen, wegen der Nähe zur Stasi, höre ich. Der Verein stand für das System, das schuld daran war, dass sie nie mit ihrem Carl Zeiss nach Rom, nach Lissabon oder Düsseldorf reisen durften, wo das Europapokalfinale gegen Tiflis stattfand.
Burki erzählt: Wenn sie sich bei Spielen gegen den BFC miteinander unterhielten, hätten sie sich den Kragen hochgekrempelt - als Persiflage auf die Stasi-Männer, die dort ihre Mikrofone versteckt hatten. In diesen Kragen wiederum sei "Tod und Hass dem BFC" gestickt gewesen. Ein gefährliches Spiel: "Das wäre ein Grund gewesen, um verhaftet zu werden", sagt Burki.
Wie der andere Dynamo aus Dresden gehörten die Berliner dem SV Dynamo an, eine von den inneren Sicherheitsorganen gegründete Sportvereinigung. Damit war der BFC neben Zoll und Volkspolizei direkt der Stasi unterstellt. Verstrickungen mit dem Staat waren jedoch nichts, was die Berliner allein betroffen hätte: Es war üblich, dass Fußballvereine dem SED-Regime über sogenannte Trägerbetriebe angegliedert wurden. Beim Traditionsclub Lokomotive Leipzig etwa, der heute ebenfalls in der Regionalliga Nordost spielt, war es die Deutsche Reichsbahn. Und Jenas Spieler bezogen ihr Gehalt vom Optik-Kombinat Carl Zeiss. Die Stasi jedoch, das war noch mal etwas anderes. Wer gegen den BFC war, der wendete sich auch gegen das System, so fasste die Staatssicherheit es auf. Burki aber sagt, sie seien nie politisch gewesen, sahen sich nicht als Oppositionelle. Sie waren eher junge Leute, die Grenzen austesteten.
Irgendwann, ein paar Jahre vor der Wende, sei etwas Seltsames passiert: Unter die BFC-Fans im Friedrich-Ludwig-Jahn-Sportpark in Prenzlauer Berg hätten sich Neonazis gemischt, so erzählen es nicht nur die "Eagles" in Jena. Nach dem Mauerfall wurden rechtsextreme Hooligans immer tonangebender beim BFC, die Gewalt immer krasser. "Die waren völlig hemmungslos", sagt Burki.
Bei der Weltmeisterschaft 1998 in Frankreich prügelte eine Gruppe deutscher Hooligans den Gendarmen Daniel Nivel halb tot. Unter den Schlägern: ein gewisser Christopher Rauch, ehemaliger Rocker bei den Hells Angels und einflussreicher BFC-Fan. Den Hells Angels nahestehende Männer waren es auch, die noch in den 2000er-Jahren den Sicherheitsdienst des Vereins stellten. Der Stasi-Club galt nun als Verein von Kriminellen und Neonazis. Zwar bemühten sich neue Geldgeber immer wieder, diesen Ruf loszuwerden. Doch noch im September 2021, fünf Wochen vor dem Spiel gegen Jena, sollen Fans den Hitlergruß gezeigt, dunkelhäutige Spieler mit Affenlauten beleidigt und mit Kies gefüllte Becher auf Ersatzspieler geworfen haben.