In Bremen entdecken wir ein Heim, das passt: das Haus Sodenmattsee 1. Es gehört zur privaten Residenz-Gruppe, die in Deutschland 36 solcher Heime betreibt. Wir hören uns um.
Der Geschäftsführer Rolf Specht wird in Bremen gefeiert. Vom Sohn einfacher Gemüsebauern mit Plumpsklo zum Immobilien-König. 2010 wird er Bremens „Unternehmer des Jahres". Specht ist kein Wohltäter, er macht Geld mit seinen Heimen. Aber, sagen Insider, Specht macht seinen Job ordentlich. Sollten wir uns seine Pflegeheime anschauen, wären das keine Ausreißer nach unten. Wir würden das erleben, was in Pflegeheimen Alltag ist.
Im Werbeprospekt wirkt das Anwesen idyllisch: im Garten ein Teich, auf dem Enten schwimmen, man kann sie füttern. Kinder kämen häufig zu Besuch, schreibt die Residenz-Gruppe, es gebe eine Theatergruppe, einen Chor, Gymnastik, Basteln und Singen. „Wir bieten den Bewohnern unseres Hauses die Möglichkeit, ein weitestgehend selbstständiges und aktives Leben zu fuhren."
Bei der aktuellsten Prüfung hat das Heim Anfang Juni 2015 die Pflegenote 1,2 bekommen, also „sehr gut". Das Magazin „Focus" hat Sodenmattsee 1 mehrfach als eines der besten Pflegeheime Deutschlands ausgezeichnet. „Wir wissen, dass unsere Mitarbeiter hier Tag für Tag gute Arbeit für unsere Bewohner leisten", schreibt die Residenz-Gruppe in einer Pressemitteilung. „Umso mehr freuen wir uns, dass es jetzt von unabhängigen Experten bestätigt wird."
Das wollen wir uns ansehen. Sodenmattsee 1 ist unser Heim.
„Guten Tag, mein Name ist Benedict R." Unser Reporter Benedict Wermter ruft unter falschem Namen in Bremen an. „Ich habe am Wochenende meinen Onkel Michael besucht. Der wohnt im Rheinland, allein. Ich habe gemerkt, dass das so nicht mehr geht."
Das ist die Legende, die wir der Verwalterin erzählen. Sie schluckt den Köder. Und lädt uns zu einem Vorstellungsgespräch ein.
Michael Schomers - Onkel Michael - ist 66 Jahre alt, arbeitet als investigativer Journalist und hat viel Erfahrung mit Undercover-Projekten. Er war Rechtsradikaler, Fernfahrer, Bestattungshelfer, Sozialhilfeempfänger. Seit zwei Jahren hat er Speiseröhrenkrebs. Er wurde operiert, bekommt noch immer eine Chemotherapie, hat 50 Kilo abgenommen.
Soweit die Realität. Wir haben sie ein wenig ausgeschmückt. Und behaupten zusätzlich: Dass Onkel Michael seit dem Tod seiner Frau Charlotte zunehmend depressiv sei und immer unselbstständiger werde. Dass er nicht mehr auf seinen Neffen hört und häufig einen verwirrten Eindruck mache. Niemand kümmere sich darum, ob er genug esse und trinke und seine Medikamente nehme.
Für seinen Aufenthalt im Heim hat sich Michael Schomers vorgenommen, immer mal wieder verwirrt und desorientiert herumzulaufen und nach seiner verstorbenen Ehefrau zu rufen: Wo ist Charlotte?
Auch die medizinische Seite haben wir gut vorbereitet. Der Hausarzt von Michael Schomers hat eine medizinische Verordnung geschrieben, in der alle Medikamente aufgeführt sind, die er nehmen muss. Es sind einerseits - real - die typischen Mittel gegen die Nebenwirkungen einer Chemotherapie. Und darüber hinaus - fiktiv - auch Psychopharmaka, zur Beruhigung einzunehmen. Tatsächlich sind es Placebos, Tabletten ohne Wirkstoff.
Zusätzlich hat der Hausarzt folgende Maßnahmen festgelegt, sie seien unbedingt zu befolgen:
Bei Unruhe zusätzlich 20 mg Citalopram, aber insgesamt max. 4 / Tag. Auf ausreichende Trinkmenge achten. Bitte täglich wiegen wegen Wassereinlagerung nach Chemotherapie. Bitte einmal täglich Temperatur messen wegen der Infektgefahr nach Chemotherapie.
So präpariert, fahren wir Ende August 2015 zum Vorstellungsgespräch. Michael Schomers hat sich seit Wochen nicht rasiert, sein weißer Bart sprießt in alle Richtungen. Er trägt alte Kleider, sicher fünf Nummern zu groß, und war lange nicht beim Frisör. Neffe Benedict hat sich ebenfalls nicht gekämmt, auch er ist schließlich gestresst.
Vor dem Aufnahmegespräch sind die beiden nervös. Wird man ihnen ihre Rolle abnehmen? Fummeln am Hörgerät, abwesendes Nicken mit dem Kopf, störrische Nachfragen, ein paar Tränen wegen der Einsamkeit - Michael Schomers spielt die Rolle eines leicht verwirrten älteren Herrn perfekt. Problemlos meistern sie das 45-minütige Aufnahmegespräch und den anschließenden Rundgang über die Zimmer. Am Ende schiebt ihnen die Verwalterin die Unterlagen zur Anmeldung über den Tisch.
Sie stehen nun auf der Warteliste. Ein volles Heim ist ein gutes Zeichen. Das spricht für einen guten Ruf. Für Qualität.
Dann heißt es: warten. Einen Monat lang, zwei Monate lang. Benedict ruft immer wieder im Heim an und fragt nach. Doch die Verwalterin am Sodenmattsee wiederholt stoisch: „Wir müssen warten, bis jemand stirbt."
Derweil recherchieren wir weiter. Es scheint, als seien „Pflege" und „Skandal" in den Medien untrennbar verbunden. Fast jede Woche gerät ein anderes Heim, ein anderes Problem in den Blick. Geschlagene und ans Bett gegurtete Großmütter. Verzweifelte Angehörige. Die Russen-Mafia. Von den Behörden geschlossene Heime. Eine Pflegerin, die allein ihre Bewohner nicht mehr versorgen kann, zum Telefonhörer greift und aus lauter Verzweiflung die Berliner Feuerwehr zu Hilfe ruft.
Was ist die gemeinsame Ursache all dieser Skandale? Warum lesen wir seit Jahren hauptsächlich Schlechtes über die Pflege? Warum halten es Pfleger im Schnitt nur gut acht Jahre in ihrem Beruf aus, bevor sie krank werden, ausbrennen, die Pflege verlassen? Warum fürchten wir alle uns so sehr davor, am Ende unseres Lebens ins Heim zu müssen?
Was muss sich ändern, damit wir Pflege nicht mehr nur mit Vernachlässigung, Gewalt und Tod verbinden, sondern mit Freundlichkeit, Güte, Geborgenheit?
Anfang November 2015 ist es endlich soweit: Onkel Michael darf in das Heim Sodenmattsee 1 einziehen. Die verdeckte Recherche beginnt.
Eine weitere Woche später wird Michael Schomers in seinem Tagebuch notieren: „Ich frage mich, ob ich in einem solchen Seniorenheim meinen Lebensabend verbringen möchte. Nein, möchte ich nicht. Auf gar keinen Fall. Es ist ein trister, schleichender Abschied aus einem am Ende unwürdigen Leben."
Fortsetzung siehe Original