Es war einmal eine kluge Frau, die allein und zurückgezogen in einem dichten Wald lebte. Die Menschen im Dorf misstrauten ihr, denn es ging die Mär, dass sie ein magisches Bild besäße, dessen Anblick allen Menschen weh täte, die es jemals anzuschauen wagten.
Natürlich gingen die wildesten Gerüchte um, was auf diesem Bild dargestellt sei. Am ehesten war man sich noch über die äußere Form einig. Es war eckig oder oval, vielleicht auch rund und etwas kleiner als ein Brotlaib, und es hatte einen Stiel oder Griff, an dem die Frau es zu halten pflegte, wenn sie es einem Besucher zeigte. Was aber dem geschah, der einen Blick darauf warf, das war geradezu schauerlich. Manche bekamen Bauchschmerzen davon, andere verloren den Schlaf, und wieder andere hatten danach wochenlang Kopfschmerzen, und man munkelte, eine Kuh könne verkalben vor Schreck, falls das Ding in den Stall gebracht werde. Was aber auf dem Bild zu sehen sei, das konnte niemand mit Bestimmtheit sagen.
Einige meinten, ein Gesicht gesehen zu haben, andere schworen, es sei ein wildes Tier gewesen, und endlich waren sich alle einig, dass es das Antlitz des Teufels persönlich gewesen sein müsse, womit denn auch die schlimmen Folgen zu erklären wären, die allein das Betrachten des Dinges hervorrufen konnte.
Nun haben Gerüchte ihr eigenes Gesetz, das mindestens so tödlich ist wie das Antlitz des Teufels. Aber einmal in jedem Jahrhundert schickt Gott einen Ungläubigen zu den Menschen, der große, kluge Augen hat und all dem misstraut, was alle anderen so sicher wissen und doch niemand so genau gesehen hat. Der befragte die Alten und Weisen in dem Dorf nun fleißig und machte sich dann auf den Weg zu der Frau, um das Ding in Augenschein zu nehmen.
„Du hast den Verstand verloren!" riefen einige, und andere meinten: „Du bist des Todes, denn das Bildnis des Teufels ist verzaubert, und die Frau ist eine Hexe. Man sollte sie verbrennen!" Aber der Ungläubige ging und suchte die Frau in ihrem dichten Wald.
Er war guter Dinge und sang ein unbeschwertes Lied vor sich hin. „Was soll mir schon geschehen?", dachte er bei sich und zog stracks fürbass. Seine Patin war eine kluge Frau und pflegte immer zu sagen: „Junge, solange dein Herz rein und deine Absichten lauter sind, kann dir nichts Übles geschehen, und selbst die Hölle mit ihrem ganzen Heer ist machtlos vor einem reinen Herzen." So hatte die Patin gesprochen, und daran dachte der junge Bursche jetzt, als er den Wald betrat und die dunklen Fichten ihn vor den Blicken der verängstigten Menschen verbargen, die ihm bis an die Bannmeile gefolgt waren, die sie selber um den Wald gezogen hatten und von der sie sogar ihre Kinder fürsorglich ferne hielten.
Der Ungläubige kam aber bald auf eine große Lichtung und schritt über blumige Wiesen, in denen sich kleine Tiere sonnten und bunte Falter einander ihre Liebe gestanden. Das Herz des Ungläubigen wurde weit und froh, und beinahe hätte er vergessen, weshalb er in diesem Wald auf dem Weg war.
„Nein", rief er, „hier ist nichts verstellt, und wo alles offen ist, da findet man die Wahrheit." Und wie er noch sprach, stand plötzlich eine Frau vor ihm in einem schlichten Gewand. Ihr Alter ließ sich schwer schätzen, aber ihr Haar trug sie offen und mit einem blauen Band lose zusammengebunden wie ein Mädchen.
„Ich grüße dich, Herrin!" sagte der junge Mann und verneigte sich.
„Warum ist dein Gruß denn so aufwändig?" entgegnete sie. „Du dachtest doch gerade noch an Offenheit und Wahrheit."
„Ja, ist denn auch Höflichkeit eine Lüge?" fragte er ungläubig.
„Sie kann es sein, wenn du nicht meinst, was du sagst", erwiderte die Frau und lächelte gewinnend. „Was ist denn so Herrisches an mir, dass du mich Herrin nennst?" Der junge Mann wollte etwas sagen, schwieg dann aber betroffen, denn er, der immer eine Antwort parat hatte, begriff, dass selbst Schweigen eine Lüge sein kann. Da kitzelte es plötzlich auf seiner Nase, und er wollte gerade gedankenlos darauf schlagen, da hielt die Frau geschwind seine Hand fest und sagte: „Jetzt hast du gerade etwas Richtiges gedacht, siehe, nun hat die Natur dich angenommen." Und sie zog rasch einen kleinen Handspiegel aus den Falten ihres Gewandes hervor und zeigte ihm, dass ein kleiner roter Käfer mitten auf seiner Nase Platz genommen hatte. Sie hielt ihm den Spiegel hin, und er sah ein braunes, breites Jungengesicht mit nachdenklichen blauen Augen.
Da fiel ihm ein, weswegen er gekommen war. Richtig, er wollte ja die verrufene Frau suchen und das Ding sehen, das so viele in Angst versetzt hatte, und er sah sich suchend um.
„Hier lebt niemand weiter", sagte die Frau zu ihm. „Hier gibt es nur mich, und ich habe nur diesen Spiegel. Und jeder sieht nur die Wahrheit darin, da ist keine Zauberei dabei; doch wer mit Unrecht oder hinterhältigen Gedanken an die Wahrheit des Spiegels herantritt, der macht sich schuldig, und diese Schuld zeigt ihm der Spiegel. Gehe hinunter in das Tal, wo der Handwerksplatz ist. Dort steht eine Hütte neben der anderen und ein Stand am anderen. Schau, was passiert, wenn zwei miteinander reden und ein Dritter steht und lauscht: Sie können wohl die Wahrheit sagen, und der andere mag die Wahrheit hören, aber da er im Verborgenen steht, meint er, die beiden sprächen im Geheimen. Und da für die meisten Menschen das Geheime einen bösen Grund hat, hört er Böses. Wer aber Wissen durch Unrecht gewinnt, durch Lauschen oder das Lesen von Geschriebenem, das er auf unrechtem Weg erlangte, der trägt gerade diese seine Bosheit hinein, und die Wahrheit, die er hört oder sich zutragen lässt, ist ihm entstellt, dass es für ihn keine Wahrheit mehr ist. Diese Schuld verstellt ihm die Wahrheit. Er kann nur Feindschaft erkennen und ergrimmt, und dieser Grimm tut ihm weh. Aber es ist nicht der Grimm der anderen, es ist das Urteil, das er sich selber spricht. Und ganz so ist es mit diesem Spiegel bestellt. Gehe aber dort hinaus deines Weges und nicht in das Dorf zurück, denn die Menschen können die Wahrheit nicht mehr vernehmen und könnten dich töten."
Der Ungläubige glaubte ihr und ging an der anderen Seite aus dem Wald hinaus, nachdem er der Frau und ihrem Spiegel gedankt und sich verabschiedet hatte.
Der Ungläubige zog in die Welt und lernte und lehrte, und er war klug und wusste sich vor den Feuern der Menschen zu hüten. Falls die Menschen aber die Frau mit dem Spiegel verbrannt haben sollten, haben sie auf jeden Fall keine Hexe verbrannt.
Das unheimliche Bild - Märchen zum Nachdenken