Das haben die ZEIT und das Meinungsforschungsinstitut Civey die Deutschen entscheiden lassen. Zehn Fragen, über die wir 2021 diskutiert haben - und die repräsentativen Antworten der Bürger
An dem Tag im Juni, als mitten im Wahlkampf gemeldet wurde, Annalena Baerbock habe in ihrem Buch Jetzt: Wie wir unser Land erneuern an zahlreichen Stellen plagiiert, saß die Kandidatin nachmittags noch beim Interview, in dem es endlich um "Inhalte" ging, nämlich um ihre Klimapolitik. Sie drückte wie immer den Trampolinspringerinnen-Rücken durch, eine Körperspannung, die man sonst nicht kennt aus der Spitzenpolitik. Sie schoss ihre Antworten hervor, die man genau so, wie sie sie vortrug, in ein Parteiprogramm hätte drucken können. Es wurde ein ziemlich langweiliges Interview, aber das war auch egal, es sprach sowieso keiner mehr über Baerbocks Klimapolitik, sondern alle sprachen über das Buch. Die Kampagne war ihr entglitten.
Alles höchst unschön, doch wäre Baerbock eine Figur im Film, er würde jetzt erst beginnen. Eine Frau, die aussieht, als wäre sie perfekt, ist gar nicht perfekt. Eine Frau, der nichts wichtiger ist als Kontrolle, verliert die Kontrolle.
Leider ergriff Annalena Baerbock die Gelegenheit nicht. Sie sagte fortan zwar bei jedem Auftritt ihre Entschuldigungen auf, aber sie ließ niemanden an der Geschichte teilhaben, warum eigentlich sie diese Fehler gemacht hatte. Wer ist Annalena Baerbock, wenn sie nicht die Frau mit den Fleißkärtchen ist?
Baerbock würde sagen, das sei nicht wichtig, denn es gehe um Ideen und Projekte und darum, ins Machen zu kommen. Das stimmt natürlich nur teilweise. Selbstverständlich geht es um Charakter, Sprache, Auftritt, Ausstrahlung. Und die Fotos, die Außenministerin Baerbock jetzt täglich in die Welt schickt, zeigen, dass sie das auch weiß. Sie sieht darauf frisch aus, energiegeladen, mutig, anders, auffällig. Sie besitzt das Talent, Bilder sprechen zu lassen, was nicht so trivial ist, wenn man sich daran erinnert, dass Armin Laschet auch deshalb gescheitert ist, weil er nie die Kontrolle über seine Bilder erlangte.
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Baerbock gehört zu den unbeliebtesten Politikerinnen der Ampel, man hat ihr die Fehler nicht verziehen (59 Prozent der Bürgerinnen und Bürger sind der Meinung, sie habe sich nicht hinreichend für die Zitierfehler in ihrem Buch entschuldigt). Und doch ist sie offensichtlich eine Ausnahmefigur. Kann gut sein, dass sie uns noch überrascht. Elisabeth Raether
Der Preisstifter hatte so seine Vorstellungen, aber das Nobel-Komitee in Oslo sieht die nicht so eng, insofern kann man ja nie wissen. Der Friedensnobelpreis, schrieb Alfred Nobel 1885 in seinem Testament, solle jedes Jahr der Person verliehen werden, die am meisten für die "Freundschaft zwischen den Nationen, die Abschaffung oder Verkleinerung von stehenden Armeen" und die "Schaffung und Förderung von Friedenskongressen" getan habe. Weil solche Leute aber nicht jedes Jahr vorkommen, zeichnet das Komitee mittlerweile auch Haltungen aus, die es als nobel erachtet: die des damals gerade erst gewählten Barack Obama (2009) oder des Klimaaktivisten Al Gore (2007) zum Beispiel. In dieser Reihe wäre Greta Thunberg, die Sprecherin von Mutter Erde, also nur folgerichtig gewesen. Denn Frieden auf einem von der Menschheit entleerten Planeten wäre zwar auch eine Option, aber wahrscheinlich nicht im Sinne des Preiserfinders. Warum also nicht die Frau auszeichnen, die ihre Angstfähigkeit nutzte, um eine politische Klasse aufzuschrecken, die, wie sie sagt, ihr nicht nur ihre Kindheit, sondern der gesamten Menschheit die Zukunft gestohlen hat?
Weil, so interpretieren wir mal die entschiedene Mehrheit der Befragten, die Weltrettung nicht jede Nervensägerei rechtfertigt. Greta, der Medienliebling, ist ein Publikumsschreck. Die Leute mögen sie nicht besonders, bestätigen unsere Meinungsforscher auch mit der Erfahrung aus anderen Umfragen. How dare they, derart unbeeindruckt zu sein? Vielleicht weil auch für schwedische Alarm-Ruferinnen gilt, dass der Ton die Musik macht.
"Ich will eure Hoffnung nicht!", rief Thunberg einst dem World Economic Forum entgegen. Womöglich ist es da aber auch ein Zeichen, wenn eine ganze Menge Leute zurückrufen: Und wir wollen deinen Pessimismus nicht! Jochen Bittner
Fragen an den Politikwissenschaftler Herfried Münkler (HU Berlin)
DIE ZEIT: Herr Münkler, nach Meinung von 41 Prozent der Deutschen hat sich Angela Merkel mit ihrem Corona-Management auf den letzten Metern den Ruf ramponiert. Sehen Sie das auch so?
Herfried Münkler: Nein. Sie hat nicht alles richtig gemacht. Aber sie hat, vor allem im Vergleich mit den Ministerpräsidenten, eine viel größere Sorgsamkeit und geringere Leichtfertigkeit an den Tag gelegt. Sie hat sich nie hinreißen lassen, zu sagen: "Bald ist alles vorbei." Ihr Manko war, dass sie sich - auch mit Blick auf das absehbare Ende ihrer aktiven Zeit - wohl nicht getraut hat, die Krise früh an sich zu ziehen.
ZEIT: Glauben Sie, das wäre möglich gewesen?
Münkler: Ja, gerade weil sie nicht wiedergewählt werden wollte.
ZEIT: Die Anhänger der AfD, aber auch die der FDP sind unserer Umfrage zufolge besonders unzufrieden mit ihrem Corona-Management. Aber die wollten ja nun keine härteren Maßnahmen.
Münkler: Es hätte aber breite Mehrheiten gegeben, weil die Maßnahmen erklärbar sind. Angela Merkel hat früh erkannt, welche Gefahr in der Kombination aus exponentiellem Wachstum und ständig wiederkehrenden Wellen liegen kann.
ZEIT: Ist das nicht ironisch: Die Krisenkanzlerin verlässt das Amt mitten in einer letzten, besonders großen Krise.
Münkler: Schriebe man ihre Biografie, würde man das als ironische Konsequenz betrachten, ja. Betrachtet man die europäische Geschichte des 21. Jahrhunderts, erkennt man aber, dass wir in eine Abfolge von Krisen eingetreten sind. Merkel ist weg, die nächste Krise kommt sicher.
ZEIT: Wann entscheidet sich, wie die Geschichtsschreibung eine Kanzlerschaft einordnet?
Münkler: Gab es den einen, historischen Moment wie bei Helmut Kohl den Mauerfall, dann steht das schon zur Amtszeit fest. Helmut Schmidts Amtszeit wurde von seiner Präsenz als Altkanzler überschrieben. Ich habe allerdings früh gesagt, dass man sich nach der Ära Merkel noch sehr zurücksehnen wird. Weil es trotz der Krisen eine Zeit war, in der ein Kontinuitäts- und Sorgsamkeitsversprechen vorherrschte. Ob das ihre Nachfolger werden aufrechterhalten können, ist die Frage. Interview: Martin Machowecz
Man soll ja vorsichtig sein mit den ganz großen Wünschen - sie könnten in Erfüllung gehen. So war das beim Fall des Kommunismus: Vielen, die darum gebetet und dafür gekämpft hatten, wurde, als es geschah, mulmig. Wer mal einen Epochensturz mitgemacht hat, weiß: Da reißt es nie nur Abrissreifes in die Tiefe, sondern, mit Pech, auch einen selbst.
Nun also die katholische Kirche. Weil sie so alt ist, halten manche sie für unzerstörbar. Andere halten sie für so verkorkst, dass sie sie gern auflösen würden - nämlich 47 Prozent der Deutschen. Damit keiner sich die Schreckenszahl schönredet ("Alles Kirchenfeinde!"), schlüsselt die Civey-Umfrage das Ergebnis auch nach Konfession auf: 37 Prozent der Katholiken und 35 Prozent der Protestanten sind fürs Neugründen. Aber geht das? Natürlich nicht, da die Kirche auf Jesus gründet. Der Bibel zufolge verkündete er dem Apostel Petrus, der sei der Fels, auf den der Gottessohn seine Gemeinde baue, "und die Pforten der Hölle sollen sie nicht überwältigen".
Zudem ist die Kirche nicht der Kommunismus, auch wenn dieser von jener viel kopiert hat (Erlösungsversprechen, Wahrheitsanspruch, geschlossenes Welterklärungsmodell, Dogmatismus). Und dennoch! Es gibt Priester, die sprechen jetzt vom Mauerfall-Moment und fänden es nicht schade, wenn die machtvolle Institution zusammenbräche. Damit die Kirche, an die sie glauben, neu werden kann.
Und was sagt der Fachmann? Christoph Markschies, evangelischer Kirchenhistoriker und Präsident der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, sieht beide Kirchen in einer "weltgeschichtlichen Krise". Er rät, den Unmut der Leute nicht wegzutheologisieren und ihren Wunsch nach Radikalreform ernst zu nehmen. Zwar lasse sich eine missliebige Kirche so wenig abschaffen wie der Winter. Aber sie sei nicht nur von Jesus gestiftet, sondern auch von Menschen gestaltet. Auf die kommt es also weiterhin an. Evelyn Finger
Um Atomkraftgegner zu sein, bedarf es einer großen geistigen Anstrengung: Man muss schier Unglaubliches glauben.
Um die Jahrtausendwende glaubten Atomkraftgegner, man könne alle deutschen Kernkraftwerke sofort abschalten, ohne die Stromversorgung zu gefährden. So stand es damals im grünen Wahlprogramm. Als die Atomkraftgegner vom Klimawandel hörten, begannen sie zu glauben, Atomenergie sei besonders klimaschädlich. Als die Stromindustrie Kohlekraftwerke plante, um die Kernkraft zu ersetzen, glaubten sie, dass sie selbst dazu nichts beigetragen hätten. Als diese Kraftwerke in Betrieb gingen, glaubten sie, das schade dem Klima nicht: Sie seien nämlich, erklärte damals das atomkraftkritische Umweltbundesamt, "innerhalb des Emissionshandelsregimes" errichtet worden, mithin werde dafür anderswo CO₂ eingespart. Und viele Atomkraftgegner glauben wohl noch heute, es habe nichts mit der Kernenergie zu tun, dass zwei durchschnittliche Deutsche dem Klima so viel Schaden zufügen wie drei Franzosen oder vier Schweden.
Unglaublich? Womöglich kennzeichnet gerade das eine erfolgreiche Bewegung: dass sie bereit ist, alles Mögliche zu behaupten, gegen alle Evidenz zu verteidigen - und vielleicht für einen Moment sogar zu glauben.
Nun, da sie gewonnen haben, können die Atomkraftgegner es ruhiger angehen lassen, auch in Glaubensdingen. Die ZEIT-Umfrage zeigt es: Jeder zweite Deutsche freut sich nicht sonderlich über die Vollendung des Ausstiegs. Die Vorfreude vor einigen Jahren war größer, im Rückblick dürfte die Begeisterung weiter sinken. Aber wer will das dann noch wissen? Ach, wisst ihr, Kinder, werden die Atomkraftgegner in einigen Jahren sagen, das versteht ihr nicht. Es war eine andere Zeit. Frank Drieschner
Über die Frage, ob Markus Söder die Union gerettet hätte, ist nicht nur das Publikum gespalten. Der Riss verläuft quer durch die CDU/CSU - und vermutlich sogar durch Markus Söder selbst, der bekanntlich schneller seine Gestalt wechselt, als du "Marilyn Monroe" sagen kannst.
Der sinuskurvige Verlauf seiner Beliebtheitswerte dürfte die Verunsicherung noch verstärken. Dabei ist die Botschaft eigentlich sonnenklar, und ein Kompliment an das Wahlvolk. Denn Markus Söder gehörte zu den unbeliebtesten deutschen Politikern, solange er Populist war. Schnelle Triumphe auf Kosten von Minderheiten ("Asyltourismus"), das hat den Leuten offenbar nicht gefallen.
Als Söder aber ins politische Risiko ging und die harte Corona-Linie auch dann noch vertrat, als andere - sein Rivale im Kampf um die Kanzlerkandidatur, Armin Laschet, zum Beispiel - schon Lockerungsübungen machten, da wuchsen ihm nie gekannte Sympathien und Respekt zu. Eine Öffentlichkeit, die jemanden wie Karl Lauterbach quasi per Plebiszit ins Amt hebt, ist offenbar nicht an Politik aus dem hohlen Bauch interessiert.
Derzeit weist Söders Sinuskurve wieder nach unten. In der Union dürften ihn inzwischen mindestens so viele als Verderber wie als verhinderten Retter sehen - schließlich war er es, der den Kanzlerkandidaten Laschet bei jeder Gelegenheit desavouierte. Söders Versuche, die neue Regierung als "Ampel-Norden" zu denunzieren, dem der "freie Süden" die Stirn bietet - das zog auch nicht. Es rieb dem Publikum nur noch deutlicher unter die Nase, was jetzt Söders Problem ist: dass er keine Rolle mehr in Berlin spielt, die CSU hier keine Verkehrsminister-Fantastilliarden mehr für Bayern lockermachen kann und ihm deshalb die Freien Wähler sehr ungemütlich werden können. Winter is coming. Mariam Lau
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