Die Ampelkoalition könnte den Cannabis-Konsum legalisieren. Endlich, sagt der Jugendrichter Andreas Müller. Auch die Studentin Antonia Luther freut sich auf das Ende der Strafverfolgung. Der Psychotherapeut Jean Hermanns warnt: Das sei russisches Roulette.
DIE ZEIT: Herr Müller, Sie sind Jugendrichter am Amtsgericht Bernau bei Berlin. Gerade sind Sie zu einer Twitter-Berühmtheit geworden, weil Sie sich für die Legalisierung von einsetzen und nun die große Chance dafür gekommen sehen: SPD, FDP und Grüne könnten es bald Erwachsenen erlauben, die Droge zu kaufen. Warum begrüßt ausgerechnet ein Jurist diese Lockerungsübungen der voraussichtlich neuen Regierung?
Andreas Müller
60, Richter am Amtsgericht Bernau, plädiert seit Jahren für die Freigabe.
Andreas Müller: Weil wir in Deutschland ohne Sinn und Verstand Millionen von Menschen zu Geldstrafen verurteilt und Hunderttausende mittels Freiheitsstrafen ins Gefängnis gebracht haben. Wir haben Familien zerstört. Gerade als Richter kämpfe ich deshalb seit vielen Jahren für die Legalisierung, denn das alles muss ein Ende haben. Deutschland braucht dringend eine andere Drogenpolitik.
ZEIT: Herr Hermanns, Sie leiten als Psychotherapeut die suchtpsychiatrische Abteilung der Spezialklinik Rickling in Schleswig-Holstein. Was sagt Ihr Berufsethos zu einer Legalisierung?
Jean Hermanns: Ich kann vor diesem Schritt nur warnen, denn ich sehe auf unseren Krankenhausfluren viel Leid. Wir haben bei uns etwa tausend Patienten pro Jahr im Zusammenhang mit Cannabis. Um es plastisch auszudrücken: Cannabis-Konsum ist aus psychiatrischer Sicht wie russisches Roulette. Kein Mensch kann wissen, ob er eine Anfälligkeit für so etwas wie eine schizophrene Psychose hat. Studien zeigen, dass Cannabis für jeden zehnten Kiffer gefährlich ist, und zwar unabhängig von der Dosis. Das heißt, wir haben durchaus Patienten, bei denen der erste Joint eine seelische Störung ausgelöst hat, etwa eine drogeninduzierte Psychose, wo ich plötzlich anfange, mich verfolgt zu fühlen. Dass ich Dinge sehe, die nicht da sind, dass ich Stimmen höre, dass ich unkontrollierbare Angst habe.
Jean Hermanns
62, Psychotherapeut, behandelt seit Jahrzehnten Hanfkonsumenten mit Psychosen.
Müller: Ich muss Herrn Doktor Hermanns widersprechen. Es ist wissenschaftlich nicht geklärt, ob eine Psychose aufgrund von Cannabis-Konsum entsteht. Ich habe das Bundesverfassungsgericht angerufen und auch geprüft, wie viele Menschen pro Jahr wegen Cannabis-Konsums in stationäre Behandlung kommen. Die Zahl bewegt sich um die 3000. Viele von ihnen sind dort nur, weil sie durch Gerichte mit Auflagen versehen werden.
Hermanns: Würden diese Zahlen stimmen, hätten wir mit unseren tausend Patienten ein Drittel aller zu Behandelnden in Deutschland. Das wäre etwas zu viel der Ehre! In der Suchthilfestatistik, die Sie zitieren, sind die Behandlungen in psychiatrischen Krankenhäusern gar nicht enthalten. Da sind nur die Patienten drin, die in einer Suchtberatung sind oder eine Rehabilitationsbehandlung machen. 99 Prozent unserer Patienten kommen freiwillig. Sie kommen, weil sie in die Cannabis-Abhängigkeit geraten sind oder in diesem Zusammenhang eine seelische Störung entwickelt haben.
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ZEIT: Frau Luther, Sie sind Studentin in Würzburg, engagiert in der Sozialarbeit und nennen sich selbst auch eine Freizeitkifferin. Wann ging das los?
Antonia Luther
24, kiffte erstmals mit 15. Seit zwei Jahren erhält sie Cannabis auf Rezept.
Antonia Luther: Bei mir fing es schon früh, mit zwölf Jahren, mit Nikotin an. Dann ging es mit Alkohol weiter. Und irgendwann, mit 15, habe ich das erste Mal Cannabis konsumiert. Damals hat es für mich noch keinen richtigen Reiz gehabt. Erst später, mit 18, habe ich es für mich als Freizeitdroge entdeckt. In Stresssituationen habe ich es wie eine Zigarette geraucht. Mittlerweile gestaltet sich mein Konsumverhalten anders, denn ich bin seit zwei Jahren Cannabis-Patientin. Ich habe ein Nervenleiden.
ZEIT: Was denken Sie, wenn Sie von den Suchtrisiken hören, die Herr Hermanns aufzählt?
Luther: Durch meine Erkrankung ist es für mich schwierig, die körperliche und psychische Abhängigkeit zu trennen. Ich leide unter Angststörungen, aber die rühren zum Teil daher, dass ich massive Angst vor einer Strafverfolgung habe. Ganz zu schweigen von den Schwierigkeiten, die man durch enorm hochgezüchtetes Cannabis bekommen kann, das mit psychoaktiven Substanzen gestreckt ist. Mit einem regulierten Markt ließen sich diese Gefahren, die der Schwarzmarkt mit sich bringt, vermeiden.
Müller: Es gibt natürlich, das ist unbestritten, junge Leute, die zu viel und zu starkes Zeug kiffen. Die entwickeln dann eine Abhängigkeit. Aber diese Abhängigkeit haben sie trotz des Verbotes entwickelt. Wenn man das alles sieht, dann frag ich mich: Warum? Warum hält man an der Prohibition fest? Wenn Sie, Herr Doktor Hermanns, davor warnen, Cannabis zu legalisieren, dann bestrafen Sie Millionen Freizeitkonsumenten, weil es ein paar Tausend Menschen gibt, die nicht richtig damit umgehen können.
Hermanns: Natürlich hat das reine Kriminalisieren keinen Sinn. Aber das Problem an der Legalisierung ist das Signal, das sie aussendet. Wenn der Staat quasi sagt "Ach, das ist harmlos!", dann werden mehr Leute Cannabis konsumieren. Man sieht das in Kanada. Dort gab es im ersten halben Jahr nach der Legalisierung von Cannabis im Oktober 2018 eine Zuwachsrate um 35 Prozent, und zwar nicht nur bei Erwachsenen, sondern vor allem bei Jugendlichen, für die es gar nicht freigegeben wurde. Und auch bei der relativ hohen Altersgruppe ab 40 Jahren gibt es eine Zunahme an Erstkonsumenten.
Müller: Klar, auch in Deutschland werden nach einer Freigabe die Konsumentenzahlen zunächst hochgehen, schon weil die Leute einmal ausprobieren wollen, wie es denn so ist. Entscheidend ist deshalb eher: Wie gehen wir damit um? Wie macht man vernünftige Präventionsarbeit? Macht man sie mit dem Strafrecht, im Sinne einer bösartigen Erziehung? Oder macht man sie, indem man den Leuten sagt: "Der übermäßige Konsum kann euch schädigen"? Wir können nicht ein Fünftel der Bevölkerung, das schon gekifft hat, stigmatisieren und kriminalisieren, um ein paar wenige zu retten. Das geht nicht!
ZEIT: Frau Luther, hätten Sie mit 15 Jahren aufs Kiffen verzichtet, wenn es für Sie ab 18 Jahren legal gewesen wäre?
Luther: Nein, vermutlich nicht, ich hätte es trotzdem gewollt. Ich bin jetzt 24 Jahre alt. Ich habe vor zehn Jahren genau diese Aufklärung in der Schule gehabt, von der Herr Müller spricht. Die hat mir nichts gebracht. Aber ich glaube, dass eine Legalisierung vor allem einen wichtigen Effekt hätte: Jugendliche würden nicht in Kontakt mit stärkeren Substanzen gelangen, die ja über dieselben Schwarzmarktkanäle kommen. Ich habe bei Dealern gesessen, die 15 Jahre alt waren und mit Benzodiazepinen und allen möglichen anderen verschreibungspflichtigen Mitteln gedealt haben.