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Drogenabhängige und Corona: Sie waren schon vorher gesichtslos

Ihre Lebensgeschichte sieht man Tanja Pöss nicht an. Sie trägt einen Jogginganzug mit weißen Längsstreifen an den Seiten, dazu Sportschuhe. Die Fingernägel sind akkurat in einem Lila-Ton lackiert, die blonden Haare zu einem Zopf gebunden. Seit ihrem zwölften Lebensjahr ist sie drogenabhängig. Erst war es Heroin, dann Crack. Seit Pöss vor zwei Jahren zur Integrativen Drogenhilfe „Eastside" in Frankfurt gekommen ist, hat sie ihr Leben jeden Tag ein Stückchen mehr im Griff, sagt sie.

Im Außenbereich von Pöss' Zufluchtsstätte, dem „Eastside", sitzen Menschen zwischen den Wegen und Bepflanzungen und unterhalten sich bei einer Zigarette, ein Mann jätet ein Beet. Neben einem Eingang des historischen Speise- und Badehauses in Frankfurt-Fechenheim steht ein Automat. Er erinnert daran, wem dieser Platz als Rückzugsort dient: Hier gibt es keine Süßigkeiten oder Heißgetränke, sondern Spritzen und Besteck.

Wenn Gabi Becker aus dem Fenster ihres Büros schaut, blickt sie auf diesen Außenbereich. Sie leitet die Integrative Drogenhilfe Frankfurt seit 20 Jahren. Das „Eastside" ist die größte Einrichtung des Vereins. Es wurde 1992 im Zuge des sogenannten Frankfurter Wegs eröffnet, für Drogenabhängige ist es eine der wichtigsten Anlaufstellen. Hier können sie zur Ruhe kommen.

Unbürokratischer Zugang zu Ersatzstoffen

Das Runterkommen ist gerade schwerer als sonst, das Coronavirus hat auch die Drogenszene hart getroffen. Bis jetzt sei zwar noch keiner ihrer Klienten, die bei der Drogenhilfe Unterstützung suchen, positiv getestet worden, sagt Becker, aber Probleme gebe es trotzdem genug. Vor allem die finanzielle Situation der Abhängigen bereitet ihr große Sorgen. „Betteln, Flaschensammeln oder Prostitution sind gerade nicht möglich", sagt Becker. Immerhin der Schwarzmarkt wird noch bedient, auch wenn „teilweise die Preise anziehen". Deswegen fordert Becker eine niedrigschwellig zu erreichende Substitution für ihre Klienten, also einen unbürokratischen Zugang zu Ersatzstoffen wie Methadon.

Derzeit sind viele Abhängige nicht leistungsberechtigt, sagt Gabi Becker. Dabei wären noch Plätze in den Programmen zu vergeben. Wie es gehen könnte, zeigt das Hamburger „Drob Inn": Dort ist es möglich, ohne viel Bürokratie an eine Substitution zu kommen - auch für Menschen ohne Krankenversicherung.

Laut Becker bräuchte es gerade jetzt sichere Unterkünfte, auch für Erkrankte, die nicht ins Krankenhaus müssen. Ihre Schützlinge sind durchschnittlich 43 Jahre alt, doch das biologische Alter ist oft höher. Ihre Körper sind von Krankheiten und Drogenkonsum gezeichnet.

„Der Zugang zu sanitären Einrichtungen ist erschwert und viele Entgiftungskliniken im Rhein-Main-Gebiet nehmen keine neuen Patienten auf", sagt Becker. Gleichzeitig habe die Entlassung von Häftlingen aus Gefängnissen das „Eastside" vor große Probleme gestellt. Innerhalb kürzester Zeit seien etwa zehn ihrer Klienten aus der Zelle auf die Straße gesetzt worden. Becker findet das verantwortungslos.

Das Ministerium für Arbeit und Soziales hat ein Papier zu Arbeitsschutzstandards herausgegeben. Die Anweisungen irritieren Becker: „Sind das jetzt Maßnahmen oder Empfehlungen?" Abgesehen von dieser Frage seien Schutzstandards, wie etwa die ausschließliche Vergabe von Einzelzimmern, nicht umzusetzen: „Wenn ich nur Einzelzimmer vergebe, muss ich drei Viertel der Leute auf die Straße setzen. Das mache ich nicht." Die Stadt Frankfurt arbeitet an den Standards, damit sie für die Realität in der Sozialarbeit anwendbar sind. An der Ausarbeitung sind auch die Drogenhilfe und andere soziale Einrichtungen beteiligt.

Es ist ruhiger geworden

Tanja Pöss lebt mit ihrem Partner in dem einzigen Pärchenzimmer der Einrichtung, hat als eine der wenigen dauerhaft ein Bett. Auf dem Fensterbrett in ihrem Zimmer stehen Fotos, die sie mit ihrem Freund zeigen. Eng umschlungen posieren sie im Park. Seit 21 Jahren ist Pöss mit Horst zusammen. Doch ausgerechnet jetzt ist sie allein: Ihr Partner liegt wegen einer Lungenentzündung auf der Intensivstation. Sie fühlt sich hilflos. „Wenn ich dort anrufe, werden mir Informationen zu seiner Lage verweigert, wir sind nämlich nicht verheiratet."

Nicht viele Suchtkranke können langjährige Beziehungen aufrechterhalten. Nach Pöss' Erfahrung zerbrechen viele, „wenn es schwierig wird". Wenn das Geld für neuen Stoff fehlt, oder einer von beiden abstürzt.

Im „Eastside" ist es ruhiger geworden, seit Corona da ist, seit die meisten Arbeitsmarktmaßnahmen und Projekte aus Sicherheitsgründen ausgesetzt wurden. Klienten wie Tanja Pöss wollen aber nicht tatenlos herumsitzen. Einmal pro Stunde geht sie seither durch das Haus und desinfiziert Türknöpfe, Oberflächen, Sanitäranlagen. Andere waschen Bettwäsche und Handtücher - alles ehrenamtlich, um ihre Zufluchtsstätte in Ordnung zu halten. Seit Mai laufen auch die Maßnahmen des Jobcenters wieder als Präsenzveranstaltungen, allerdings unter strengen Hygiene- und Abstandsregeln. „Ohne unsere Klienten könnten wir das Haus nicht offenhalten", sagt Marion Friers, die seit zehn Monaten als rechte Hand von Gabi Becker agiert. Die Politikwissenschaftlerin hatte vorher in einem Krankenhaus gearbeitet. Als sie ihrem Umfeld erklärte, sie gehe in die Drogenhilfe, reagierten viele mit Unverständnis. Doch Friers gefällt ihr neuer Job. „Es ist unglaublich, wie empathisch und zugewandt die Menschen sind."

Sogar die Produktion von Schutzmasken haben die Bewohner aufgenommen. In einem Raum neben der Wäscherei nähen bis zu fünf Personen mit der Schreinerin, einem Maßnahmenleiter und dem pädagogischen Leiter Masken, die im „Eastside" und anderen sozialen Einrichtungen verteilt werden.

Acht Stühle vor großen Spiegeln

Maximal fünf Klienten dürfen zurzeit in der Schreinerei arbeiten. Die Bewohner tischlern und reparieren Möbel für das „Eastside". Denen, die eine eigene Wohnung haben, fiel während der Zwangspause zu Hause die Decke auf den Kopf, erzählt der Hausmeister und Werkstattmitarbeiter Daniel Kleis. Auch in der angrenzenden Gärtnerei arbeiten die Klienten. Die Maßnahmen bedeuten für die Süchtigen nicht nur einen kleinen Zuverdienst, sondern Struktur im Alltag. Während der Arbeitszeit dürfen sie nicht konsumieren.

Im Druckraum, nur ein paar Türen weiter, darf man Crack und Heroin zu sich nehmen. Ein bisschen wie im Friseursalon: acht Stühle vor großen Spiegeln. Doch auch hier gelten Abstandsregeln: Nur jeder zweite Platz ist aktuell freigegeben. An einer Theke geben Mitarbeiter sauberes Besteck aus. Jährlich werden hier bis zu 15.000 Konsumvorgänge gezählt, sagen sie.

Im „Eastside" geht es nicht nur um saubere Spritzen, es geht um Gemeinschaft: Der Café-Bereich ist hell und offen, hat Jugendzentrum-Charakter. Hier befindet sich die Speiseausgabe, jeden Tag gibt es eine kostenfreie Mahlzeit. Sogar die Polizei empfiehlt die Cafeteria, der Kuchen sei bis in die JVA bekannt, sagt Fries nicht ohne Stolz. Es gibt einen prall gefüllten Bücherschrank, einen Billardtisch, nebenan das beliebte Fernsehzimmer. In einer Sofaecke schmücken Bilder, die Künstler zusammen mit Abhängigen gestaltet haben, die meterhohen Decken. Eine weiße Säule im Raum erinnert an jene Bewohner, für die die Sucht tödlich endete. An bunten Stoffbändern hängen Schilder, auf denen die Namen der Verstorbenen stehen.

Die kleinen Schilder geben jenen einen Namen, die in der breiten Gesellschaft gesichtslos sind, Schatten am Rand der Straßen. Tanja Pöss weiß, wie es ist, eine jener Unsichtbaren zu sein: „Die Menschen behandeln uns wie Aussätzige. Nicht einmal ein ‚Hallo' bekommen wir zu hören. " Viele wollen und brauchen Geld, betteln, dealen oder bieten andere Dienste an. Doch nicht alle in der Szene seien gleich, meint Pöss: „Im Bahnhofsviertel kennt man sich nicht - höchstens vom Gesicht her. Im ‚Eastside' herrscht Zusammenhalt." Sie findet, dass sie ihren Konsum und ihr Leben im Griff hat, seit sie einen Platz im „Eastside" hat. Sie will als Mensch wahrgenommen werden, nicht als Abhängige. Als Mensch mit Vorlieben und Ticks: Seit jeher liebt sie Ordnung, Reinlichkeit - das Desinfizieren passt zu ihr. Von der Wäscherei fühlt sie sich geradezu angezogen. Sie liest Kriminalgeschichten und sitzt zur Entspannung am liebsten am Mainufer. Dass sie zur Drogenambulanz geht, ist nur ein Teil ihrer Geschichte.

Klient Nr. 64

Gabi Becker findet, dass die Sucht als Krankheit sichtbarer gemacht werden muss. Sie erinnert sich an den ehemaligen hessischen Ministerpräsidenten Roland Koch, der meinte, Drogenabhängige müssten einfach nur aufhören, Drogen zu konsumieren, arbeiten gehen - und dann sei alles geklärt. Becker erzählt vom Klienten Nr. 64, einem Härtefall aus einer klinischen Studie, die die monatlichen Konsumeinheiten und Kosten beispielhaft dokumentiert. Nr. 64 hat monatliche Ausgaben von 3610 Euro. Auf einem Bild sind fünf Fässer Bier zu sehen, ein Bierkasten und ein Berg von Spritzen und anderen Konsumeinheiten - der Konsum von Nr. 64. „Dass dieser Klient überhaupt noch auf seinen Beinen stehen und geradeaus gehen konnte, ist doch erstaunlich", sagt Becker. Und doch ist er damit zwar oberer Durchschnitt, aber kein Spitzenreiter. „Süchtig zu sein ist ein Fulltime-Job, den niemand freiwillig antritt."

Könnte die Corona-Krise etwas an der negativen Wahrnehmung ändern? „Durch die Krise werden die Probleme der Abhängigen sichtbarer, aber ich müsste eine hoffnungslose Optimistin sein, wenn ich da eine Chance sähe", sagt Becker. Vor allem Wohnraum werde benötigt - nicht nur für Süchtige, sondern auch für andere benachteiligte Gruppen. Defizite sieht Becker auch in Sachen Legalisierung: „Das Betäubungsmittelgesetz muss weg - zumindest so wie es jetzt ist." Sie spricht sich für eine Legalisierung aller Drogen aus, allerdings nur in Kombination mit einem klaren Konzept zur kontrollierten Vergabe nach Gefährdungsgrad der Droge. Teilweise würden ihre Klienten ganz normale Leben führen, wenn sie konsumieren könnten, ohne kriminalisiert zu werden, glaubt Becker.

Eine andere Wahrnehmung, individuelle Chancen - das wünscht sich auch Tanja Pöss. Am liebsten würde sie im Pflegebereich arbeiten, mit älteren Menschen. Doch wer einmal als drogenabhängig abgestempelt ist, kommt nur schwer in entsprechende Programme und wird aus Prinzip nicht in die Nähe von Medikamenten gelassen. Pöss träumt von einer eigenen Wohnung mit ihrem Partner. Das „Eastside" würde sie dabei unterstützen. Aber Pöss hat auch Angst, möchte die Gemeinschaft noch nicht verlassen. Sie fühlt sich noch nicht stabil genug. Bis es so weit ist, kümmert sie sich weiter um ihre Freunde im „Eastside".

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