Das seit der Reaktorkatastrophe stillgelegte Atomkraftwerk Tschernobyl in der Nähe der ukrainischen Stadt Pripyat verzeichnet seit dem Erfolg der HBO-Serie „Chernobyl" einen massiven Zustrom an Touristen. Das berichtet Gerrit Schmitz vom Reiseveranstalter „Tschernobyl Reisen" auf Anfrage von FAZ.NET. Doch dort, wo es Touristen gibt, sind Nutzer sozialer Medien nicht weit, die den Unglücksort für ihre Fotos auf der Jagd nach Likes und Follower benutzen.
In der Stadt Pripyat lebten vor der Katastrophe bis zu 80.000 Menschen, die größtenteils im Kraftwerk arbeiteten. Nach dem Unglück wurde die Pripyat zu einer Geisterstadt und Jahre später zu einer Touristenattraktion für ausländische Besucher in der Ukraine. Im Jahr 2018 waren es um die 60.000 Besucher. Seit der Ausstrahlung der Serie sind die Besucherzahlen um fast 30 bis 40 Prozent gestiegen. Das radioaktiv verseuchte Gebiet darf dabei nur im Rahmen offizieller Touren betreten werden. Seit der HBO-Mini-Serie ist das Interesse der Touristen angestiegen - doch ein Gespür dafür, wie man sich an dem Ort einer Katastrophe verhält, die nach Schätzungen der WHO 4000 Menschen das Leben gekostet hat, scheint nicht jeder zu haben.
Wer sich die Instagram Posts ansieht, die unter der Ortsmarkierung oder dem Hashtag „ Tschernobyl " oder „Pripyat" hochgeladen wurden, bekommt eher den Eindruck, die Nutzer hätten einen aktiven Freizeitpark und keinen Unglücksort besucht: Eine junge Frau sitzt fröhlich grinsend in einem der verlassenen Autoscooter, als könne sie jeden Augenblick damit losfahren. Auf einem Bild sind zwei Männer zu sehen, die in einer Rapper-Pose vor dem Riesenrad in Pripyat stehen, ein anderer Nutzer an der selben Stelle das „Ok"-Zeichen. Wieder ein anderer posiert oberkörperfrei vor dem Atomkraftwerk, sein Foto hat er mit den Hashtags „chernobyl, nuclear und power of nature" versehen.Eine junge Frau zieht fast blank: Ihr Foto zeigt sie nur spärlich bekleidet und mit herunterhängenden Schutzoverall in der Schutzzone. Private Nutzer sind ebenso vertreten wie Influencer.
Auch der Produzent übt KritikFür die Fotos verschafften sich manche Nutzer Zugang zu den Gebäuden in der Stadt oder in den Kontrollraum des Atomkraftwerks, in dem vor 33 Jahren die Katastrophe geschah, obwohl das Betreten der Einrichtungen seit 2012 verboten ist. Die Fotos lösten daher in den sozialen Medien einen Sturm der Entrüstung aus, in dem sich viele über die Pietätlosigkeit der Instagrammer beschwerten.
Der Autor und Produzent der HBO-Serie „Chernobyl" Craig Mazin äußerte sich am Dienstag auf Twitter selbst zu den Bildern in den sozialen Netzwerken: „Es ist toll, dass die Miniserie 'Chernobyl' so viele dazu inspiriert, die Zone zu besuchen, doch ich habe einige Bilder gesehen, die gerade im Umlauf sind. Wenn ihr Tschernobyl besucht, bitte erinnert euch, dass dieses schreckliche Ereignis hier geschah, und verhaltet euch mit Respekt gegenüber all denen, die gelitten und sich geopfert haben."
Gerrit Schmitz erklärt zudem, dass einige Touristen ohne offizielle Genehmigung oder mit kleineren dubiosen Veranstaltern in die Sperrzone reisen. Dafür riskieren sie Strafen von 500 Hrywrnja, umgerechnet 16.00 Euro, oder gar Gefängnisstrafen von fünf Jahren, wenn sie Gegenstände aus der Sperrzone mitnehmen. Diese Veranstalter achten nicht darauf, wohin sich die Touristen begeben oder welche Art von Fotos gemacht werden. Bei größeren Reiseunternehmen werde darauf geachtet, dass keine Fotos entstehen, die die Gefühle der Opfer verletzen könnten. Selfies mit einem Lächeln können aber auch sie nicht verbieten.
Zu einer ähnlichen Debatte kam es in den sozialen Medien vor fünf Jahren nach Selfies im deutschen Vernichtungslager Auschwitz. Anstoß gab unter anderem ein Foto von jungen Amerikanern unter dem Lagertor mit der Aufschrift „Arbeit macht frei", dass im Netz viral ging. Die Gedenkstätte rief damals zu einem angemessenen Verhalten auf. Fotografieren ist aber weiterhin erlaubt.