Aufgrund immer größerer sozialer Ungerechtigkeit gehen in Kolumbien seit Monaten Tausende Menschen auf die Straßen. Der Staat geht mit aller Härte gegen sie vor. Aus Frust ist längst Wut geworden.
Resistencia - Widerstand - singen sie an der Lomada de la Cruz, einem Viertel im Zentrum von Cali, wo sonst ein Handwerkermarkt stattfindet. Fahnen in Nationalfarben wehen, es wird gesungen, gemeinsam diskutiert. Tausende sind unterwegs, stehen dicht an dicht. Bisher ist alles friedlich - doch das kann sich schnell ändern, sagt Hector, 20 Jahre alt. Seinen Nachnamen will er nicht nennen, auch sein Gesicht hat er vermummt wie ein Ninja, dazu hat Héctor Essigwasser im Rucksack, gegen das Tränengas. Und Verbandsmaterial.
Wir wollen ein gerechteres Land, für alle. Meine Eltern sind arbeitslos, ich habe nicht das Geld, zu studieren. Aber was machen die da oben? Die Polizei? Die töten uns junge Leute! Aber wir lassen uns nicht einschüchtern, wir geben nicht so einfach auf, wir kämpfen hier für die Zukunft unserer Kinder.Seit Ende April wird Kolumbien von einer Protestwelle überrollt, wie sie das Land lange nicht erlebt hat. Auslöser war eine Steuerreform. Inzwischen ist sie vom Tisch, doch es geht längst um mehr. Ganz unterschiedliche Gruppen sind auf der Straße: Jugendliche, die keine Zukunftsperspektive sehen, indigene Organisationen, die seit Jahrzehnten für Selbstbestimmung kämpfen und dabei immer wieder Gewalt erleben, von kriminellen Gruppen - Guerilleros oder Paramilitärs - genauso wie von staatlichen Sicherheitskräften selbst.
Konservativer Präsident reagiert mit HärteAus Frust wurde Wut: Da ist die extreme soziale Ungleichheit, die durch die Pandemie noch einmal verschärft wurde. Korruptionsskandale und gebrochene Versprechen der Regierung von Ivan Duque, der den Friedensvertrag von 2016 mit der Farc-Guerilla ablehnt. Auf die Proteste reagiert der konservative Präsident mit Härte - und schickte Polizei und Militär auf die Straße.
Javier, auch er nutzt einen Decknamen, ist Teil der sogenannten "Primera Linea", der "ersten Linie". Sie errichten Barrikaden. So schützten sie die Protestierenden gegen die brutale Gewalt der Einsatzkräfte, sagt der 22-Jährige.
Wir leisten Widerstand gegen die Regierenden, die ihre Macht missbrauchen. Die Polizei geht mit aller Härte vor. das ist der absolute Ausnahmezustand. Wir haben hier nur unsere selbstgebastelten Schilder, Stöcke und Steine. Sie schmeißen Tränengas, sie beschießen uns mit Feuerwaffen, wir wurden auch von Personen in Zivil angegriffen, und die Polizei stand daneben. Hier auf der Straße gibt es Babys, Senioren, aber das ist denen völlig egal.Die ARD kann die Aussagen von Javier nicht verifizieren. Doch die Zahlen der kolumbianischen Ombudsstelle sind schockierend: Demnach wurden inzwischen mehr als 40 Menschen während der Unruhen getötet, die meisten von Sicherheitskräften, rund 1500 Verletzte gebe es.
Spannungen innerhalb der BevölkerungDie Millionenmetropole Cali, strategisch gelegen zwischen Pazifik und den Wirtschaftszentren Bogota und Medellin, ist dabei zum Epizentrum der Proteste geworden. Und das sorgt zunehmen auch für Spannungen unter den Bewohnern.
Fernando Balcazar Jiménez ist Agrarunternehmer, vertreibt Zuckerrohr, Tomaten und Ananas im Vorort Dapa. Die Streikgruppen, die auch den Verkehr rund um die Stadt blockieren, gefährden die Versorgung der Stadt, sagt er.
Das trifft uns alle hier in der Region. Wir Unternehmer können unsere Produkte nicht mehr zu den Abnehmern im Land bringen, den Schlachtbetrieben geht das Futter für die Tiere aus, und die Konsumenten sind die größten Leidtragenden, weil sich die Lebensmittelpreise verdrei- oder vervierfacht haben in diesen Tagen. Was vor kurzem 1000 Pesos kostete, kostet jetzt 5000 oder 6000 Pesos.Die Blockaden gewaltsam aufzulösen, wie es die Regierung von Präsident Duque angekündigt habe, sei trotzdem keine Lösung, findet Jimenez.
"Wir können nicht mehr"Gemeinsam mit anderen Unternehmern trifft er sich an diesem Tag mit den Verantwortlichen der lokalen Blockadegruppe im Vorort Dapa. Die Verhandlungen finden in der Shoppingmall an der zentralen Verbindungsstraße statt. Eine Fraktion ist vermummt, die andere trägt nur Corona-Schutzmasken. Im Grunde aber sind alle hier an den hufeisenförmig aufgestellten Tischen Nachbarn.
Zum Beispiel Fargo, wieder ein Alias: Sein kleiner Laden, mit dem er die Familie bisher ernährte, hat den Corona-Lockdown nicht überlebt. Wir können nicht mehr, sagt der 45-Jährige.
Wir machen diese Blockade, weil wir sonst kein Gehör finden. Ein friedlicher Protest mit Trommeln und Gesang interessiert niemanden, weil er niemanden stört. Wir wissen, dass wir Probleme machen, euer Geschäft behindern. Aber das Problem sind doch nicht wir! Ich würde mir wünschen, dass wir gemeinsam das ganze Bild sehen. Wir leben in einem so ungleichen Land, und das ist das große Problem, das uns alle betrifft.Am Ende einigt man sich darauf, die Blockaden jeweils morgens, mittags und abends für 15 Minuten zu öffnen, der weitere Dialog wird vertagt. Ein Ende der Proteste ist bisher nicht in Sicht.