Manfred* hat Geburtstag. Gleich wollen alle ein Lied für ihn singen, draußen, mit Sicherheitsabstand und Maske. Im Lagerraum sucht Marianne Jenning eine Pralinenschachtel. "Ein paar Kekse wären auch noch gut", sagt sie, während sie sucht. Manfred soll heute auf keinen Fall das Gefühl haben, dass man ihn vergessen hat.
Es ist Sonntag. Jenning ist früh aufgestanden, um die Essensausgabe an Bedürftige in einer kleinen Seitenstraße neben dem Heiligengeistfeld vorzubereiten. Die Menschen vor der Tür sind nicht nur zum Singen hier. Viele von ihnen sind obdachlos - wie auch Manfred. Sie kommen, um sich ein warmes Essen mitzunehmen, einen Kaffee oder ein Stück Seife. Heute gibt es Soljanka oder Currywurst, hinten in der Küche rührt eine Helferin in einem der beiden großen Töpfe.
Zwischen den bunten Graffitis an den Hauswänden würde die kleine Treppe kaum auffallen, die zur Ausgabe ins Souterrain führt. Nur an den rund 20 Menschen, die davor in der Kälte stehen, manche von ihnen in pinken Helferwesten, merkt man, dass das hier keine normale Ladenfront ist. Marianne Jenning ruft von unten: "Abstand halten, Masken auf. Sonst können wir nicht weitermachen." Ihre Stimme ist selbst hier oben noch laut zu hören. Eine Frau macht schnell einen Schritt zur Seite, weg von den anderen. Schließlich kommt Jenning die Treppe hoch. Manfred bekommt die Kekse und seine Pralinenschachtel - Weihnachtsedition von Lindt.
Zweimal die Woche gibt sie Essen ausJenning, 53, ist eine Frau, die die Welt des Ehrenamts nicht kannte. Und auch nicht die Initiative, in deren Vorstand sie nun sogar aufrückt: Deintopf. Gegründet im ersten deutschen Lockdown-Monat, im März 2020. Am 17., um genau zu sein. Jetzt feiert Deintopf seinen ersten Geburtstag. Und die Initiative braucht Menschen wie Jenning, die eher zufällig dazustoßen, aber trotzdem bleiben. Denn mit der Krise steigt auch die Bedürftigkeit in Hamburg. Und gerade Einrichtungen, die auf das Engagement freiwilliger, oft älterer Helfer setzen - wie etwa die Tafeln -, konnten in den ersten Pandemiemonaten nicht wie gewohnt öffnen. Die Angst, sich anzustecken, war bei vielen zu groß.
"Ein Bananenquark und Würstchengulasch", sagt Jenning. Damit habe es angefangen. Auf die Bitte Ihrer Nachbarin Andrea de Luna hatte sie zugesagt, einen Tag bei der Essensausgabe zu helfen. Das ist ein Jahr her. Seitdem steht sie zweimal die Woche hinter einer Plexiglasscheibe und gibt heiße Mahlzeiten, frische Kuchen, Hygieneprodukte und Getränke aus. Jenning zieht die Augenbrauen hoch, es sieht aus, als wolle sie sagen: Tja, ich hab mich hier ziemlich einspannen lassen.
Jenning ist Altenpflegerin in Erwerbsminderungsrente. Das heißt, sie ist körperlich nicht so belastbar wie eine volle Arbeitnehmerin. Wegen eines Rückenleidens schafft sie 40 Stunden Altenpflegealltag nicht mehr. Trotzdem arbeitet sie auf 450-Euro-Basis in ihrem alten Job. Manchmal bessert sie ihr Einkommen auf, indem sie bei Freunden eine Fußpflege macht. 20 oder 30 Euro verdient sie dann dazu. Sie ist Mutter und neuerdings Oma. Hat einen kleinen Terrier und lebt in einer Zweizimmerwohnung in einer dieser typischen dunkelroten Klinkeranlagen in Hamburg-Dulsberg. Ihre kleine Terrasse geht raus in den Innenhof. Jenning ist nicht arm, aber näher dran an arm als an reich.
An der Oberfläche ändert sich wenigAls die Pandemie kommt, hat sich an der Oberfläche ihres Lebens wenig geändert. Den Altenpflegejob kann sie weitermachen: Systemrelevanz. Weil sie allein wohnt, kann sie ihre Tochter und Enkelin besuchen, ohne die Regeln zu brechen. Mit ihrem Hund kommt sie weiter vor die Tür, hat Bewegung. Von außen betrachtet ist trotz alles im Lot. Aber irgendwas stimmt nicht mehr. Ständig schlechte Nachrichten, keine Umarmung mehr, Freunde, die ihre Arbeit verlieren. In Hamburg lag die Arbeitslosenquote im Februar 2021 bei 8,1 Prozent. Im Vorjahreszeitraum lag sie bei 6,4 Prozent.
Und diese Zahlen sagen noch nichts über die Studentin, die ihren Nebenjob in der Kneipe verliert, oder den Rentner, der sich als Haushaltshilfe etwas dazuverdient hat. Jenning merkte, dass sie unruhiger wurde. In ihr entsteht der Wunsch, anderen zu helfen - und damit auch ein wenig sich selbst.