Wenn Yeila und Elder durch Bogotá ziehen, sehen sie Schätze, die für andere schlicht Abfall sind: Ein Stapel Holzreste, Schaumstoff neben einem Laternenpfosten, ein Plastikbecher in einem Haufen Grünzeug neben dem Wochenmarkt.
Mit beiden Armen stemmt Elder den Handkarren auf die Räder. Der Wagen wirkt, als wäre er für ein Pferd gemacht und nicht für einen Menschen. Nach einer halben Stunde wird er voll sein mit Pappe, Plastiktüten und zwei Rollen Wellblech.
Der 27-jährige Venezolaner Elder und die 43-jährige Kolumbianerin Yeila haben sich vor etwa einem Jahr zusammengetan, um Recyclingmüll zu sammeln. Ein ungleiches Paar, das sich auf der Straße kennengelernt hat. Zu zweit vergehe die Zeit schneller, sagen sie. Yeila und Elder sind zwei von etwa 20.000 Müllsuchern in der kolumbianischen Hauptstadt Bogotá, den sogenannten "Recicladores". Im ganzen Land prägen sie die Stadtbilder. An die 60.000 sind es laut Schätzungen in Kolumbien.
Häufig gehören sie zu den Ärmsten der Bevölkerung und sind doch diejenigen, die am meisten zum Umweltschutz beitragen. Denn die Müllabfuhr ist anders als in vielen europäischen Ländern nicht grundsätzlich in Kommunalhand, sondern setzt sich aus verschiedenen privaten und öffentlichen Firmen zusammen.
Doch von circa 6300 Tonnen Müll, die jeden Tag in Bogotá anfallen, werden heute laut Angaben des Umweltministeriums bloß 14 bis 15 Prozent wiederverwertet, obwohl Studien zufolge womöglich 40 Prozent recycelbar wären. Und die Mülldeponien füllen sich weiter: Laut Angaben des Umweltministeriums werden mehr als 300 Deponien im Land in den kommenden Jahren ihre maximale Kapazität erreicht haben.
In den vergangenen Jahren kam es bereits immer wieder zu Erdrutschen auf Müllhalden, erst im April rutschten 60.000 Tonnen Müll in einer Deponie nahe Bogotá ab und setzten Gase frei, die bis in die Stadt zu riechen waren.
Die Müllbeseitigung ist ein Problem, gleichzeitig werden die Menschen umweltbewusster. So wird das Thema Recycling plötzlich wichtig. Damit steigt auch das Ansehen der Müllsucher, die - anders als viele Firmen - sehr genau darauf achten, was recycelt werden kann und was nicht; denn nur für Wiederverwertbares werden sie auch bezahlt.
Experten sind sogar der Meinung, dass Recycling in Entwicklungsländern ohne die Recicladores nicht funktionieren würde, da die offiziellen Systeme mit den Müllmengen überfordert wären.
Doch mit der steigenden Anerkennung sind auch reiche Privatinvestoren auf das Recyclinggeschäft aufmerksam geworden - und drohen nun, die Müllsucher zu verdrängen.
53. Straße, Chapinero, Bogotá. Ein Dachdecker ruft Yeila und Elder von der anderen Straße zu. Er habe noch Wellblech, ob die zwei das gebrauchen könnten? Elder schultert den Karren, Yeila wuchtet die Wellblechrollen hoch. 20 Minuten sind die beiden jetzt unterwegs. Neben Holzresten liegen schon ein paar Pappkartons unten im Wagen.
"Wenn das so weitergeht, ist der Karren bald voll", sagt Elder. Er läuft über die Straße auf eine Frau zu, die beiden begrüßen sich, sie gibt ihm eine Plastikschüssel mit einem Suppenrest. Elder schlürft sie zügig aus. Die 53. Straße ist die Standardroute von Yeila und Elder. An jeder Ecke grüßt irgendwer.
Das war nicht immer so. Weil Müllsucher in den überwiegenden Fällen informell arbeiten und häufig auf der Straße leben, sind sie ein leichtes Ziel für Überfälle, Polizeigewalt oder einfach schieren Profit: Einer der perfidesten Vorfälle hat dazu geführt, dass sie heute einen eigenen Erinnerungstag haben, den "Día del Reciclador" am 1. März. Der Tag erinnert an den 1. März 1992, an dem zehn Leichen von Müllsuchern auf dem Universitätsgelände in Barranquilla gefunden worden waren. Mitarbeiter der Universität hatten sie getötet, unter anderem, um ihre Organe zu verkaufen.
Álvaro Parra Erazo war damals für den Nationalen Müllsucher-Verband (ANR) in Barranquilla und hatte mit einem Überlebenden gesprochen, der sich tot gestellt hatte und so von der Tat berichten konnte. Heute ist Parra stellvertretender Direktor der öffentlichen Sonderverwaltung der Stadt Bogotá (UAESP) und beschäftigt sich immer noch mit dem Thema.
"Wir wollen die Recicladores weiter aus der Informalität führen", sagt er. Ziel sei es, die Recicladores als Angestellte in eine Recyclingfirma zu integrieren, sagt er. So wären sie versichert, hätten Rentenanspruch und eine Organisation, die mehr Sichtbarkeit biete und somit Übergriffe unwahrscheinlicher mache.
Nohra Padilla glaubt nicht daran, dass die Stadt ihre Versprechen wahr machen wird: "Die Recicladores sollen durch Privatfirmen ersetzt werden. Es fehlt der Respekt vor unserer jahrelangen Arbeit." Padilla ist Direktorin von ANR, dem Dachverband der Müllsucher. Sie hat bereits erlebt, wie die Stadt versuchte, die Arbeit der Recicladores in die Hand von Privatfirmen zu legen. 2011 sollte der Recyclingprozess in einer Auktion an die höchstbietende Firma gegeben werden. Padilla zog dagegen gemeinsam mit mehreren Organisationen vor den Obersten Gerichtshof - und gewann.
Seit 2013 zahlt die Stadt den Müllsuchern, die Teil von Verbänden sind, ein kleines Gehalt. Und diese werden schnell mehr: Während noch 2016 nur 39 Müllsucherverbände existierten, waren es 2018 schon 319. Nach Angaben der Aufsichtsbehörde für öffentliche Dienste sind heute rund 30.000 Recicladores im Land organisiert.
Ihr Kampf dient Müllsuchern in vielen Ländern der Welt als Vorbild - und hat Padilla den größten internationalen Preis für Umweltaktivisten beschert: 2013 wurde sie mit dem Goldman Environmental Prize ausgezeichnet.
Elder und Yeila sind keine Mitglieder von Verbänden und wollen es auch nicht sein. Ansprechpartner, Anmeldungen, Papierkram - das alles klingt nach einer Welt, in der sie sich fremd fühlen. Am Rand eines Parks setzen sich die beiden auf den Gehweg. Der Karren ist jetzt voll, sie sind auf dem Rückweg zur Sammelstelle in der 57. Straße.
Yeila zündet eine kleine schwarze Pfeife an. Basuco ist darin, ein Abfallprodukt von Kokain, mit ein wenig Tabak vermischt. Sie habe sich seit dem Kindesalter als Mädchen gefühlt, erzählt Yeila, doch in der Kleinstadt, aus der sie kommt, gab es dafür wenig Verständnis. Also ging sie nach Bogotá und prostituierte sich. Gegenüber Transsexuellen sei sexuelle Gewalt jedoch besonders brutal, erzählt sie. Also stieg sie aus. Seit mehr als 20 Jahren lebt die 43-Jährige auf der Straße, und seit ein paar Jahren sammelt sie Recyclingmüll.
Elder kam wegen einer Frau aus Venezuela nach Kolumbien, damals. Er habe in einem Restaurant gearbeitet, sagt er. Dann habe er angefangen, Basuco zu rauchen. "Doch damit kannst du keine Strukturen einhalten." Deshalb schläft er jetzt nachts in dem Karren, den ihm der Besitzer der Sammelstelle umsonst zur Verfügung stellt. Mit dem Geld, dass die beiden mit dem Recycling verdienen - zwischen fünf und zehn Euro am Tag - könnten sich Yeila und Elder jeweils ein Zimmer leisten. "Aber wer zahlt mir dann die Drogen?", sagt Elder und sein Blick sagt: Es ist, wie es ist. "Ein guter Tag sind für mich zehn Joints und ein bisschen Basuco."
Yeila und Elder sammeln Recyclingmüll, um Essen und Drogen zu kaufen, nicht, um der Umwelt zu helfen. Aber wenn das der Nebeneffekt ist, habe er nichts dagegen, scherzt Elder. Die beiden kommen an der Sammelstelle in der 57. an und wuchten die Wellblechrollen hinein.
Der Besitzer der Sammelstelle, Cristian David Madrigal, sitzt an seinem kleinen Schreibtisch inmitten von Aluminiumdosen und Pappstapeln. Er hat zwei Sammelstellen in dieser Gegend des Stadtteils Chapinero, in der sich viel Müll auf den Straßen sammelt, wie er sagt. Das ist gut fürs Geschäft, im Monat verdient er umgerechnet rund 2500 Euro - für Kolumbien ein Spitzengehalt. Allerdings gebe es wegen der Corona-Pandemie weniger Müll auf den Straßen.
Rund 15 Prozent weniger Recyclingmüll seien es derzeit, teilt das Ministerium für Bau, Stadt und Heimat mit. Auch, weil die Restaurants so lange schließen mussten.
"Für mein Geschäft ist es aber schlimmer, dass seit einigen Jahren einflussreiche Menschen, wie etwa die Söhne von Ex-Präsident Uribe, ins Recyclinggeschäft einsteigen", sagt Madrigal. Diese hätten Verbindungen zu den großen Supermarktketten und sammelten so einen Großteil des Recyclingmülls direkt ein. Auch große Konzerne wie Coca-Cola oder die Bierfirma Bavaria lassen ihren Abfall inzwischen lieber von einer großen Firma abholen, als ihn den Müllsammlern zu überlassen. Für die Recicladores und auch die Sammelstellen wie die von Cristian Madrigal bedeutet das einen bedeutenden Einbruch ihrer Einnahmen.
Elder und Yeila kümmert das erst mal wenig. Yeila tritt aus der Sammelstelle mit ein paar zerknüllten Geldscheinen in der Hand. "15.000 in einer Stunde", sagt sie, umgerechnet sind das etwa 3,30 Euro. "Ist nicht schlecht."