Georg Nigl: Ich war auf dem Weg nach Paris für Proben und Vorstellungen von Pascal Dusapins Macbeth an der Opéra Comique. Mein erster Flug wurde abgesagt, beim zweiten musste ich umsteigen, weil plötzlich nur noch 17 Leute nach Paris wollten - die Strecke ist sonst immer sehr gut ausgelastet. Da war mir schon mulmig zumute. Am nächsten Tag haben wir noch normal geprobt. Zu diesem Zeitpunkt erlaubte die französische Regierung Veranstaltungen bis zu 1.000 Leuten, die Oper arbeitete daran, die Zuschauerplätze auf die geforderte Zahl zu beschränken. Doch dann änderten sich die Informationen zu Maßnahmen und Infektionszahlen stündlich. Mir war klar, dass der Theaterbetrieb über die nächsten drei Wochen bis zu den Vorstellungen auch hier nicht aufrechterhalten würde. Ich bat um ein Gespräch mit dem Intendanten, fragte ihn, was ein Lockdown für uns Gäste bedeute, ob ich überhaupt noch aus Paris wegkommen würde...
Georg Nigl: Nein, ich bin wieder sicher in Wien gelandet. Hier klopften sich die Regierenden auf die Schultern, mit dem frühen Herunterfahren des öffentlichen Lebens besonders schnell und gut reagiert zu haben - obwohl auch sie im Prinzip alle überfordert waren. Dass man in den ersten beiden Wochen ausschließlich Wissenschaftler und Virologen zu Wort kommen ließ, Kunst und Kultur nicht im Fokus standen, habe ich ja noch verstanden. Doch als man nach der ersten Schockstarre darüber zu reden begann, wie man den Fußball wieder in Gang bringen will, ob Geisterspiele stattfinden sollen oder nicht, aber über die Theater, die Opernhäuser kein Wort verloren wurde - und das nicht nur von Seiten der Politik, die Kulturinstitutionen selbst blieben stumm - das hat mich doch sehr gewundert!
Die Theater selbst sprachen lediglich über ihre Verluste ...Ja, über die nicht generierten Einspielergebnisse. Die Festengagierten wurden in Kurzarbeit geschickt. Aber zu den freien Dienstnehmern - kein Wort! Meine Kollegen an der Wiener Staatsoper beispielsweise wurden von der Regiekanzlei informiert, dass keine Proben mehr stattfinden und die Vorstellungen bis Juni entfallen - nicht etwa von ihrem Intendanten. Auch die Festengagierten mussten erst anrufen, um zu erfahren, wie es weitergeht. Das ist doch unterirdisch!
Georg Nigl: Erstmal nichts. Nach vier Wochen schrieb ich dem Intendanten einen Brief. Der hat dann auch sofort geantwortet. Seitdem geht es nicht nur darum, ob Ausfallhonorare gezahlt werden oder nicht, sondern prinzipiell um die Auslegung der Force-Majeure-Klausel, die bislang Bestandteil jedes freien Künstlervertrags ist. Das heißt, im Falle einer Naturkatastrophe erlöschen alle Ansprüche, auch die auf Entgelt.Inzwischen hat sich eine Diskussion entsponnen, die weit über meine persönlichen Belange hinausreicht. Gemeinsam mit Elisabeth Kulman, Wolfgang Ablinger-Sperrhacke und anderen freien Künstlern habe ich eine Initiative gestartet, um diese Klausel und andere Grausamkeiten, bei denen man sich an den Kopf fasst, aus künftigen Verträgen zu tilgen. Wir wollen einen runden Tisch mit den politischen Entscheidern, Rechtsexperten und den Intendanten der Opernhäuser und Festivals. Und das soll erst ein Anfang sein. Wir müssen uns über die Grenzen hinweg vernetzen - da die meisten ja auch international unterwegs sind. Es ist doch absurd, dass ausgerechnet die Freischaffenden, die maßgeblich zur künstlerischen Ausstrahlung der Häuser und Festivals beitragen, auf einmal keine Rolle spielen sollen. Denn wie die Politik während dieser Pandemie auf die Kunst eingeht, welchen Stellenwert sie ihr beimisst und welchen sie danach (noch) haben wird, hängt auch davon ab, wie kreativ und solidarisch wir intern miteinander umgehen.
Georg Nigl: Wie soll man das Argument der höheren Gewalt bitte verstehen, wenn die ganze Welt stillsteht? Der Intendant des Wiener Musikvereins hat im Interview über den Ausfall seines Festivals gejammert und die damit verbundenen Einnahmeverluste - dann aber gesagt, dass er die abmildern könne, da er nun ja keine Gagen zahlen muss. Ein Hoch auf die höhere Gewalt? Uns Freien schnürt das die Luft ab. Was ist das für eine Rechnung? Heißt das, dass die Krise auf uns Freischaffende abgewälzt wird, während überall versucht wird, mit Kurzarbeit und enormen Milliardenbeträgen die Wirtschaft am Laufen zu halten? Warum werden unsere Verträge nicht so umgewandelt oder verstanden, dass auch wir die Möglichkeit haben, aus diesen Töpfen bezahlt zu werden?
Georg Nigl: Die treffen ja auf die meisten von uns gar nicht zu. Hier in Österreich müsste man 30.000 Euro netto im Jahr, also nach Steuern verdient haben, um 2.000 Euro Soforthilfe pro Monat über den Zeitraum von 3 Monaten zu bekommen. Wie viele Künstler verdienen so viel? Da sehe ich nur eine Chance für ein zeitlich begrenztes Grundeinkommen.
Georg Nigl: Das ist absolut zynisch und darüber hinaus eine Verkennung der Realität. Es gibt natürlich die paar Promi-Spitzenverdiener, auf die zutrifft, was Herr Welser-Möst beschreibt. Aber wir verdienen Brutto-Abendgagen, von denen auch die Gehälter der Agenten, Gesangscoaches, und Korrepetitoren abhängen. Ich bin oft über Monate im Ausland, bezahle dort eine Wohnung, Steuern, während die Kosten an meinem Hauptwohnsitz in Wien weiterlaufen. Nicht zu vergessen die wochenlangen Vorbereitungen: An der Partie einer Uraufführung arbeite ich zwischen 80 und 160 Stunden, bevor ich in die musikalischen, dann szenischen Proben gehe. Das erzähle ich nur, um den Radius zu umreißen, wofür diese eine Gage reichen muss. Zudem kann man die Dauer einer Sängerkarriere nicht mit der eines Dirigenten vergleichen - uns bleibt deutlich weniger Zeit. Die wenigsten von uns können so Rücklagen bilden, geschweige denn ein Leben bestreiten, dass der Qualität ihrer Ausbildung entspricht.
Und um das klar zu stellen: Es geht mir hier in erster Linie nicht um mich, sondern um diejenigen mit den kleinen Gagen, die Berufsanfänger, die um ihre ersten Engagements kämpfen. Gerade für sie ist es jetzt wichtig, dass wir uns als Freie miteinander vernetzen. Und da sind prominente Fürsprecher gut, die trommeln und hoffentlich auch Gehör finden. Sonst sind wir selbst daran schuld, wenn Vorurteile und Ressentiments unsere Branche ausbremsen.
Georg Nigl: Die Bedingungen, um wirklich gute Kunst zu machen, werden immer schlechter. Und das hat auch damit zu tun, wie wir Player selbst unsere Kunst einschätzen. Uns fliegt gerade um die Ohren, dass auch in der klassischen Musik seit Jahren nur noch über Zahlen geredet wird. Unser eigentlicher Auftrag, künstlerische Wertschöpfungen zu erbringen, die eben nicht finanziell messbar sind, rückt dabei immer mehr in den Hintergrund. Doch gerade um diese zu generieren und zu schützen, erhalten wir Subventionen vom Staat. Anstatt uns aber um frische Ideen zu kümmern, Utopien zu entwerfen, führen wir Diskussionen darüber, wie etwas interpretiert wird, ob jemand schön singt oder für die Rolle der richtige Star geholt wurde. In den vergangenen dreißig Jahren haben wir uns so inhaltlich ständig wiederholt, den politischen Diskurs auf den Bühnen immer mehr ausgeblendet. Und wenn wir selbst in der Kunst nicht mit Weitsicht agieren, weil wir auch hier betriebsblind vom Neoliberalismus sind und es nur mehr um schneller, lauter, prominenter geht - warum wundern wir uns darüber, dass keiner über uns spricht?
Georg Nigl: Wir müssen Oper wieder als echte Gemeinschaft begreifen und gestalten. Ob fest oder frei - wir alle arbeiten ja für ein künstlerisches Ergebnis und das kann nur so gut sein, wie das schwächste Glied. In dem Wort Oper steckt nicht nur opus, das Werk, sondern auch opera, die Mühe.
Corona stößt uns gerade sehr schmerzhaft auf die Schwachstellen des klassischen Musikbetriebs, der noch immer zu einem Großteil feudal und hierarchisch strukturiert ist. Aber um künstlerisch relevant zu bleiben, können sich Intendanten heute keine Gutsherrenmentalität mehr leisten und fix Engagierte dürfen sich nicht auf ihren Angestelltenstatus berufen. Warum arbeite ich so gerne mit Andrea Breth - oder warum war Nikolaus Harnoncourt ein so wichtiger Lehrer für mich? Weil ich durch diese Künstler nicht nur gelernt habe, sehr genau zu lesen - sondern in der Arbeit mit ihnen eine Gemeinschaft erlebte und erlebe, in der jede kritische Lesart für den künstlerischen Prozess willkommen war und ist. Wir brauchen Ensembles, in denen jede Stimme zählt und die auf der Basis gegenseitiger Achtung gemeinsam Ideen umsetzen. Für mich ist das künstlerisch gelebte Demokratie.
Georg Nigl: Dass wir der Schließung unserer Häuser und der Absage aller Festivals so gar nichts entgegensetzen, will ich nicht begreifen. Damit kein Missverständnis entsteht - ich möchte hier nicht die Gefahren der Pandemie herunterspielen. Aber fällt uns wirklich nichts Besseres ein, als das hundertste Balkonkonzert zu singen oder alte Proben- und Aufführungsmitschnitte online zu stellen? Ich verstehe das auch inhaltlich nicht. Denn das Abfilmen dessen, was auf einer Bühne passiert, ersetzt ja niemals das live-Erlebnis. Und dafür ist es ja auch nicht gedacht, es ist lediglich eine Zusatzleistung (die im Übrigen - wenn überhaupt - auch nur so abgegolten wird), es ist kein eigenständig produzierter Film. Dieses omnipräsente Streaming zeigt eher, dass wir das Vertrauen in uns und unsere Kunst verloren haben. In Wirklichkeit geht es uns doch gerade nur darum, dass wir in der Öffentlichkeit wahrgenommen werden wollen. Das finde ich vollkommen falsch - einfach weil wir dort derzeit gar nicht vorkommen. Und deswegen ist die Streaming-Diskussion in Wirklichkeit gar kein künstlerischer Diskurs.
Georg Nigl: Indem wir uns ernsthaft überlegen, ob der Sommer tatsächlich ein verlorener sein muss. Das würde auch bedeuten, die Theaterferien zu hinterfragen. Nur eine Idee: Wien hat so viele große Plätze. Warum kleben wir nicht lauter Quadrate ab, immer mit den zwei vorgeschriebenen Metern Abstand dazwischen? Ich würde mich dafür selbst hinstellen. Dann fragen wir bei der Politik und den Virologen an, ob das machbar ist - Open Air - Kammerkonzerte, Liederabende, Lesungen - statt vor 1.000 Leuten eben nur vor zwei- oder dreihundert. Und die benachbarten Restaurants verkaufen den Zuhörern auf der Straße ihre Speisen unter den Gesichtmasken. Wichtig ist, dass jetzt etwas passiert und die Kunst nicht in einen Dornröschenschlaf verfällt, bis die Krise vorbei ist.
Georg Nigl: Social distancing! Ich will mich nicht sozial distanzieren, auch wenn der Abstand gerade verordnet ist. Das, was uns Menschen und unsere Kunst ausmacht, ist doch, dass wir miteinander umgehen. Daher empfinde ich social distancing komplett falsch gedacht. Physical distancing träfe es eher. Und mir kann einer sehr fremd sein, obwohl - oder gerade weil er mir schon auf den Füßen steht!
So anstrengend ich diese Zeit im Moment empfinde und so sehr ich die Bühne, meine Kollegen und das Publikum vermisse, ich genieße es gerade, mit vielen Gleichgesinnten in Kontakt zu kommen. Letzte Woche habe ich mit Péter Eötvös, Wolfgang Rihm und Helmut Lachenmann gesprochen - ich hänge ununterbrochen am Telefon. Und das, nachdem ich die letzten Jahre in einer Art Diaspora verbracht hab, weil ich mich im Betrieb nicht gut aufgehoben fühlte. Plötzlich stelle ich fest, dass Kollegen an den verschiedensten Ecken der Welt sehr ähnlich denken. Zum Beispiel, dass es die Aufgabe der Kunst ist, Fragen zu stellen - und nicht nur zu bebildern oder die Begleitakkorde zu liefern.
Georg Nigl: Mir liegt Corona-Romantik fern. Selbst, wenn ich gerade schöne Momente mit meiner Familie verlebe, hätte ich mir die auch ohne Pandemie vorstellen können. Aber natürlich sehe ich, dass wir uns auf einmal vorsichtiger begegnen auf der Straße. Am Anfang musste ich lachen, denn mit ihren Schals und dem selbstgenähten Mundschutz vorm Gesicht sahen plötzlich alle wie besorgte Opernsänger aus. Wenn diese Umsicht auch nach der Krise anhält, habe ich nichts dagegen. Aber ein Wanderarbeiter in Indien oder ein Flüchtling in Moria werden diese Zeit anders wahrnehmen. Dort gibt es den Luxus, sich hygienisch korrekt zu verhalten, ja gar nicht - auch darüber denke ich nach. Unsere Rufe nach Solidarität klingen falsch, wenn wir sie nur auf unsere privilegierte westliche Welt beschränken. Und: Was geht in all den Menschen vor, die jetzt alleine in einem Heim oder in ihrer Wohnung sitzen oder in jenen, die im Spital einfach nicht operiert werden? Wenn ich da hineinhöre, dann erfasst mich eine unglaubliche Traurigkeit und Einsamkeit. ¶