Die Tür des Förderkorbs fällt rasselnd ins Schloss, dann geht es hinab in diesen gigantischen Fuchsbau namens Asse in Niedersachsen, Deutschlands ältestes Atomlager. Ich bin in eine weiße Bergmannskluft gehüllt, ein Sauerstoffgerät hängt über meiner Schulter, dazu ein Dosimeter, das die Strahlung misst. So schreibt es der Strahlenschutz vor. Neben mir steht Jens Köhler, technischer Geschäftsführer der Asse GmbH. Eine gute Minute später befinden wir uns tief in der Erde, auf der 750-Meter-Sohle, einer der horizontalen Ebenen des ehemaligen Salzbergwerks. Noch immer steht das Dosimeter auf null; keine Strahlung. Es ist warm hier unten, über 30 Grad Celsius.
Unter der Oberfläche verborgen, beherbergt der Höhenzug Asse ein gewaltiges Gangsystem mit 13 Stöcken. Ehemals machten 15 Kilometer Fahrstrecke die 150 Kammern zugänglich, manche davon so groß wie ein Konzertsaal. Momentan sind nur noch vier Kilometer Strecke befahrbar, und 13 Kammern werden noch genutzt. In diesen lagern die gefährlichen Reste der bundesdeutschen Atompolitik: rund 47 000 Kubikmeter schwach- und mittelradioaktiver Atommüll.
Noch am Eingang der Sohle deutet Jens Köhler mit seinem Finger an die Decke: Über das Gewölbe zieht sich ein etwa zwei Meter langer daumendicker Riss. „Das Gebirge bewegt sich. Wir hören es täglich knacken", sagt der Bergbau-Ingenieur. Das Gewicht des Deckgebirges, das wie ein Mantel über dem erdgeschichtlich älteren Salzstock liegt, drückt stetig. Durch die dabei entstehenden Risse sickern täglich 12 000 Liter Wasser in die Asse und höhlen das Salzgestein.
Die Statistik belegt, dass in Norddeutschland von 255 Salzbergwerken 89 abgesoffen sind. Doch hier ist bis auf den Riss nichts zu sehen. Keine Feuchtigkeit, keine Tropfsteine. Trotzdem beobachten die Techniker akribisch, ob sich der Riss verändert. Denn es besteht die Gefahr, dass das Grubengebäude einstürzt. Viele der alten Abbaukammern dürfen nicht mehr betreten werden. Eingedrückte Zugänge, eingebrochene Zwischendecken - der Salzstock knistert, knackt und kracht. Es ist nicht abwegig, dass Wasser in die Einlagerungskammern dringt und kontaminiert durch die Spalten des Bergwerks in die Umwelt gelangt.
Deponie galt als sicherMitte der 60er-Jahre erwarb die Bundesrepublik Deutschland das stillgelegte Bergwerk Asse II. Von 1967 bis 1978, als die Politik auf Atomkraft setzte, lagerte man hier 126 000 Fässer Atommüll ein. Verantwortlich war die Gesellschaft für Strahlenforschung (GSF), heute unter dem Namen Helmholtz-Zentrum München bekannt. Die Asse galt als sichere Deponie. In dem 1974 von der GSF herausgegebenen Film „Verbannte Materie" heißt es, Salzstöcke seien gegen das Grundwasser abgeschirmt und ihre Struktur werde sich auch in Zukunft nicht ändern. „Deshalb sind Salzbergwerke besonders geeignet, um radioaktive Abfälle jeder Art für alle Zeiten aufzunehmen, ohne dass daraus je eine Gefahr erwüchse."
Asse II war lange Zeit ein Pilotprojekt: Was man im Endlager Gorleben umsetzen wollte, testeten Wissenschaftler im Bergwerk Asse. Wasserzuflüsse gibt es seit dem Bau Anfang des letzten Jahrhunderts. Diese waren zwar mehrere Jahrzehnte keine Bedrohung für die Statik der Grube, aber richtig trocken war der Salzstock nie. Die GSF muss das mit dem Beginn der atomaren Einlagerung 1967 gewusst haben, doch verschwieg diesen Fakt.
Nach und nach ließen sich der Öffentlichkeit die Laugenzuflüsse nicht mehr verheimlichen und 1992 entschied das Bundesministerium für Bildung und Forschung die Forschungsarbeiten in der Schachtanlage einzustellen. 2008 kochte das Thema erneut hoch, weil bekannt wurde, dass sich unter Tage ein Laugenteich gebildet hatte, in dem der neunfache Wert über der Freigrenze für radioaktives Cäsium gemessen wurde.
Daraufhin entzog der damalige Bundesumweltminister Sigmar Gabriel (SPD) dem Helmholtz-Zentrum München die Zuständigkeit: Der Betreiber, so die Begründung, habe ungenehmigt mit radioaktiven Stoffen hantiert, habe diese unsachgemäß behandelt und zudem Dokumentationsstandards nicht eingehalten. Man enthüllte eine Täuschung nach der anderen. So fand man heraus, dass Atommüll-Fässer wissentlich in feuchte Kammern eingelagert wurden oder dass die Haltbarkeit des Materials der Fässer nur auf drei Jahre angelegt war. Wissenschaftler, Behörden und Politiker schoben sich gegenseitig die Verantwortung zu.
Den Beginn der Gefahrenzone markiert ein Zaun aus Metall. Noch immer auf der 750-Meter-Sohle, laufen wir Richtung Südflanke. In diesem Teil des Gangsystems soll Wasser zulaufen. Rund 50 Meter weiter endet der Gang, hier beginnt das Deckgebirge. Dieser Gang, erklärt Jens Köhler neben mir, müsse mit Beton gefüllt werden, damit das Wasser nicht mehr eintreten könne.
Eine Abzweigung führt in einen schmalen Gang. Ein Schild warnt schwarz auf gelb vor Radioaktivität. Wir stehen direkt neben Kammer 8. Hier dringt definitiv Wasser ein. Fahl schimmernd wachsen armlange Stalaktiten an der Decke. In einem Bodenloch, unterm Deckel verborgen, sammelt sich kontaminierte Lauge. E
in Mitarbeiter des Strahlenschutzes hebt die Klappe an und wir starren in eine bräunlich-bleierne Brühe. Die Lauge ist mit 18 000 Becquerel belastet, ein 18-mal höherer Wert als der zugelassene Freiwert. Der Laugenschacht, erklärt Köhler, werde regelmäßig abgepumpt und die verstrahlte Flüssigkeit in Kanister abgefüllt. Doch die Kontrolle über das lecke Bergwerk sei schwierig, denn die Zahl der Zutrittsstellen steige stetig an. Manche können abgedichtet werden, aber gegen den Zufluss in Kammer 8 ist bislang kein Kraut gewachsen.
Kammer 7 ist verrutscht2009 prüften Geologen und Atomexperten mehrere Optionen für das marode Bergwerk. Man entschied sich für die Rückholung: Jedes Fass soll ans Tageslicht gebracht werden, damit unter der Erde kein Schaden mehr entstehen kann. Das Bundesamt für Strahlenschutz, mittlerweile für den Betrieb und die Stilllegung der Asse verantwortlich, muss die Rückholung durchführen. Dafür sind Probebohrungen notwendig. Jahrzehntelang hat niemand in die Einlagerungskammern geblickt. Was ist aus den Fässern geworden?
Im Juni 2012 startete die erste Bohrung zur Kammer 7, die 4 000 Fässer beherbergt. Für die Bohrung musste eine mit Beton verfüllte Barriere von 30 Metern Dicke überwunden werden. Die Sicherheitsbestimmungen machen jeden Handgriff zum Staatsakt und es mangelt an einem präzisen Lageplan der Kammern, der wurde bei der Einlagerung erst gar nicht angefertigt. Im Oktober 2012 erkannten die Ingenieure, dass Kammer 7 durch den Druck des Berges verrutscht ist. Sie ist schlicht nicht mehr da, wo man sie vermutete.
Zu allem Überfluss entdeckten die Wissenschaftler leicht entzündbaren Wasserstoff. Die Vorsichtsmaßnahmen mussten weiter verschärft werden. Einige Medien mutmaßten, die ganze Aktion sei gescheitert. Doch so schnell gibt Jens Köhler nicht auf: „Die erste Bohrung ist unser Ausgangspunkt für eine zweite Bohrung", sagt er. Er hofft jetzt auf die elektromagnetischen Wellen eines Radargramms. Das Radarbild könnte die Decken der Kammern sichtbar machen. „Anfangs gingen wir von zehn Jahren für die Rückholung aus, dann errechnete die Firma Arcadis das Jahr 2036." Ganze 24 Jahre könnte es also dauern, bis der Atommüll aus der Asse herausgebuddelt ist. Die Kosten der Rückholung werden auf vier Milliarden Euro geschätzt.
Wohin der Atommüll dann kommt, weiß niemand. Vielleicht ins Atomlager Konrad oder nach Gorleben? Auch über ein neues Zwischenlager wird spekuliert. Stellt sich in den kommenden Jahren heraus, dass die Rückholung technisch unmöglich ist, wird der Salzstock mit Beton, Mörtel und einer Magnesium-Chlorid-Lauge verfüllt. Das bedeutet, dass die kontaminierte Lauge längerfristig aus dem Bergwerk heraussickern und das Grundwasser verseuchen könnte.
Es ist stickig in der Asse. Wieder fällt die Tür des Förderkorbs ins Schloss. Während sich der Aufzug in Bewegung setzt, denke ich an Goethes Zauberlehrling: Die gerufenen Geister sind unbeherrschbar.