Religion, davon bin ich überzeugt, ist in erster Linie Zugehörigkeit, nicht bewusste Zustimmung zu einer Doktrin oder einem Glaubensprogramm. Einer Religion tritt man nicht bei, man wird in sie hineingeboren. Ich zum Beispiel bin zwar von zu Hause aus kein religiöser Mensch - meine Familie ist nicht sonderlich kirchenverbunden, ein Teil sogar atheistisch. Aber es gab bei uns im Dorf keinen Kindergarten. Der Kindergottesdienst am Sonntagmorgen war die einzige Möglichkeit, Zeit mit anderen Kindern zu verbringen. Ich kam also aus sozialen Gründen zur Kirche und blieb dann da.
Die theologischen oder spirituellen Inhalte ließen mich eher kalt. Gottesdienste fand ich langweilig, gebetet habe ich nicht. Einmal sollten wir in der Jugendgruppe über Auferstehung diskutieren, und ich äußerte die Idee, "Auferstehung" sei vielleicht, wenn sich nach unserem Tod andere Menschen an uns erinnern. Der Seminarleiter war aufgebracht. Das sei ja wohl banal und hätte mit dem christlichen Auferstehungsglauben nichts zu tun. Erklären konnte er den allerdings auch nicht. Mir war die Auferstehung aber sowieso egal, ich glaubte nicht an Wunder.
Trotzdem entschied ich mich, Theologie zu studieren. Aber nicht einmal das hatte mit einem bewussten Glauben an Gott zu tun, sondern eher mit der Idee, dass Pfarrerin doch ein recht schöner, nämlich ein sozialer und vielseitiger Beruf wäre. Und hatten nicht viele berühmte Leute irgendwann mal Theologie studiert? In gewisser Weise war ich eine Atheistin, nur ohne mich so zu nennen. Ich benutzte zwar das Wort "Gott", aber als Floskel, als eine Art innerkirchliches Erkennungszeichen. Bedeutet hat es mir nichts.
Mit dieser Einstellung kam ich mir übrigens weder in meiner Gemeinde noch unter meinen Mitstudierenden fremd vor. Ungläubig zu sein, war kein Problem, auch für andere nicht. Rückblickend erkläre ich mir das so, dass in Wirklichkeit auch damals schon kaum noch jemand an einen "Gottvater, den Herrn" glaubte, der von oben herab seine Fäden zog. Es machte sich aber auch niemand die Mühe, ihn tatsächlich vom Thron zu stoßen. Das religiöse Patriarchat war, zumindest in den Szenen, in denen ich mich bewegte, faktisch schon abgeschafft, aber symbolisch noch in Kraft. Gott war ein Zombie.
Dann kam die feministische Theologie. Ich lernte sie in den 1980er Jahren im Studium kennen. Sie machte dem alten Herrn mit Bart den Garaus und kämpfte gegen seine eingefleischten Fans. Das machte die christliche Tradition für mich nun endlich ein bisschen interessant: vergessene Frauengestalten, verfälschende Bibelübersetzungen, unentdeckte Geschichten aller Art. Allerdings: Zum Glauben geführt hat mich auch die feministische Theologie nicht. Sie lehrte zwar, was Gott nicht ist, aber einen positiven Zugang dazu konnte auch sie mir nicht vermitteln.
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Gleichzeitig wurde mir klar, wie frauenverachtend große Teile der christlichen Geschichte und des Personals der Kirche waren. Konnte man es als redlicher Mensch eigentlich noch verantworten, in der Kirche zu sein? Viele Feministinnen traten damals aus. Ich hing nur mein Theologiestudium an den Nagel, wandte mich von der Theologie ab und der Politikwissenschaft zu.
Und dann fand ich Gott. Das klingt jetzt pathetisch, war aber so. Anfang der 1990er Jahre lernte ich italienische Feministinnen kennen, die die Freiheit der Frauen nicht über die "Gleichstellung" mit den Männern erreichen wollten, sondern über die freie Verbindung mit anderen Frauen. Dabei bezogen sie sich immer wieder auf dieselben Denkerinnen vergangener Jahrhunderte: Margarete Porete, Teresa von Ávila, Simone Weil, Hannah Arendt, Etty Hillesum. Diese Frauen sprachen in ihren Texten wie selbstverständlich von "Gott". Und während ich mich mit ihrem Denken beschäftigte, nahm "Gott" für mich langsam Gestalt an. Ich wusste zwar nicht, was das sein sollte. Aber diese Frauen hatten offensichtlich etwas vor Augen, wenn sie diesen Begriff benutzten. Sie nahmen Bezug auf etwas, auch wenn ich dieses Etwas nicht sehen konnte.