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Soziale Medien: Hilfe statt Hass in Zeiten von Corona

Eigentlich wollte Sabine Beck nur ihren Nachbarn helfen. Dafür reichte ein Zettel und eine Klarsichtfolie. In ihrem Hausflur in Wien verkündete sie, dass sie älteren Leute und anderen Menschen aus der Corona-Risikogruppe „durch kleine Besorgungen bzw. Einkäufe in den nächsten Wochen unter die Arme greifen" könnte. Die Neunundvierzigjährige postete ein Foto ihrer kleinen Aktion auf Twitter - und rief eine Welle der Solidarität hervor.

Tausende Nutzer schließen sich dem Angebot für das eigene Umfeld an, hängen selbst Zettel auf und machen weiter Werbung für die Aktion. Mehr als 1300 Mal würde Becks Aktion geteilt, unter anderem von Bundesaußenminister Heiko Maas und dem Gesundheitsministerium. „Ich habe damit nicht gerechnet. Aber ich glaube, die Aktion ging so viral, weil es etwas sehr Einfaches ist, das in dieser Notsituation jeder machen kann", sagt Sabine Beck. Sie selbst hatte zunächst einen ähnlichen Zettel auf Twitter gesehen, in dem ein junges Paar seine Hilfe anbot. Weil Beck in der kommenden Zeit im Home Office arbeiten und auf ihre Tochter aufpassen muss, öffnete sie am Mittwoch kurzerhand ein Word-Dokument und hängte den Ausdruck auf. Sofort schloss sich eine Nachbarin an und bot den Hausbewohnern ebenfalls ihre Unterstützung an. Das gute Gefühl wollte die Wahl-Wienerin mit der digitalen Welt teilen und wurde unwissentlich Teil einer neuen Bewegung in den sozialen Netzwerken: Einigkeit.

Inzwischen hat das Phänomen einen Namen: #NachbarschaftsChallenge. Unter dem Hashtag, den sich Twitter-Userin Natascha Strobl ausgedacht hat, ruft die Autorin zur Hilfe für Nachbarn auf. Seit Mittwoch befindet sich Strobl selbst in Quarantäne. Doch auch vom heimischen Computer aus sorgt sie mit ihren Tweets für Solidarität - und Unterhaltung. Weil auch für Strobl verschiedene Veranstaltungen in der nächsten Zeit ausfallen, organisierte sie gemeinsam mit Autorin Jasmin Schreiber kurzerhand eine Online-Lesung - im Pyjama. Am Freitagabend um 20 Uhr sahen insgesamt fast 4000 Zuschauer dabei zu, wie Schreiber aus ihrem Buch „Marianengraben" las und im Anschluss gemeinsam mit Natascha Strobl eine kleine Fragerunde mit den chattenden Zuschauern eröffneten. Und das alles unentgeltlich, für jeden auf der Streamingplattform Twitch frei abrufbar.

Die „Bubble" ist durchbrochen

Die beiden Autorinnen sind nicht alleine: Der Pianist Igor Levit hatte am Donnerstag angekündigt, täglich ein Heimkonzert zu veranstalten und es via Livestream mit der Welt zu teilen - „bis wir uns alle wieder gemeinsam, real, nah beieinander, versammeln und Kunst erleben können". Am ersten Abend waren es 235.000 Zuschauer, die sich um 19 Uhr digital versammelten, und einen Tag später sahen fast 34.000 Menschen aus Dublin, Barcelona, Luxemburg, Wien, Washington oder Berlin dabei zu, wie der Musiker an seinem Flügel versunken „The People United Will Never Be Defeated" von Rzweski spielte. Die Twitter-Nutzer reagierten mit einem nicht enden wollenden Strom aus virtuellen bunten Herzen.

Im digitalen Raum wachsen auch weitere Hilfsinitiativen wie „Gegen den Virus" und „Coronahilfe". Sie wollen die Angebote von Nutzern bündeln, stellen Vordrucke für einen Aushang im eigenen Flur bereit und koordinieren Hilfsangebote. „Wenn hier jemand wirklich nix mehr zu Essen bekommt und nix Teures kaufen kann, sagt Bescheid. Ich treib was auf und schick es Euch. Oder wir legen über #coronahilfe zusammen", schreibt eine Nutzerin. Andere bieten an ihrem Wohnort Einkaufshilfen mit dem Auto oder offerieren ihre eigenen Vorräte, etwa Babynahrung oder Medikamente. Plötzlich wird aus Twitter, das eher für heftigen Meinungsaustausch und oft auch Hass und Hetze bekannt ist, eine Börse des Zusammenhalts.

Viele Fragen können nicht mehr im öffentlichen Raum diskutiert werden: Schulen, Büros und kulturelle Einrichtungen sind oft geschlossen. Vielleicht bekommen auch deshalb Hashtags wie #FlattenTheCurve und #Coronahilfe im digitalen Raum so viel Aufmerksamkeit. Ob es um Vernetzung für zwangsarbeitslose Selbständige, Wissensaustausch fürs Home Office oder Ratschläge für Quarantäne-Beschäftigungen geht: Nutzer tauschen sich über Länder hinweg aus und solidarisieren sich mit denen, die es schwer haben. Es entstehen Facebook-Gruppen, Nachbarschaftsportale wie nebenan.de und selbst Städte beteiligen sich an dem Austausch von Angeboten.

Sabine Beck beobachtet, dass damit auch die üblichen Filterblasen, in die man sich gerade auf Twitter schnell begebe, überwunden werden. „Nutzer aus bestimmten Ecken, die mich sonst für meine Meinung anfeinden, teilen plötzlich meinen Beitrag und bedanken sich für die Idee zur Aktion. Plötzlich ist die Bubble durchbrochen." Sie erhält nun Nachrichten aus Großbritannien, Italien, Schweden. Sogar eine bekannte Schauspielerin aus Amerika folgt dem Beispiel aus Österreich und teilt einen Aufruf zur Nachbarschaftshilfe auf Instagram.

Auch im realen Leben kommt Becks Initiative gut an. „Eine alte Dame ist direkt auf mich zugekommen und gesagt, wie nett es sei, dass jemand an sie denke. Und auch ein älterer Herr geht zwar momentan noch selbst einkaufen, aber kommt später vielleicht darauf zurück." Sie und ihre Tochter haben zwar noch für niemanden Erledigungen übernehmen müssen. Doch noch stehe man ja am Anfang.

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