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ARTE Magazin: ¡Viva la Música!

Für ARTE bereiste der kubanische Schauspieler und Sänger Fernando Spengler seine Heimat. Eine Erinnerung an die Musik in Zeiten der Abschottung.

Cubanacán ist ein untypisches Viertel im Westen von Havanna. Es gibt prächtige Villen, die von Palmen, großen Parks und Mauern mit Videoüberwachung umgeben sind. Die Straßen sind breit und sauber, ein weißer Sandstrand liegt nebenan. Heute leben hier Staatsmänner und Intellektuelle. In Gegenden wie diesen ist die Geschichte des Landes spürbar - die Spanier besetzten das Land im 16. Jahrhundert und beherrschten es bis zum letzten Unabhängigkeitskrieg 1898. Meine Familie durfte hier nur wohnen, weil meine Großmutter im „palacio de las convenciones" arbeitete, dem Kongresszentrum, in dem Fidel Castro, der das Land seit 1959 regierte, Parteitage abhielt. So verbrachte ich meine Kindheit in einer Welt, zu der ich nicht gehörte. Denn da wir selbst kaum Geld hatten, fühlte ich mich fremd in Cubanacán. Privilegierte Menschen zogen an mir vorbei, ich war klein und unbedeutend. Die Musik war das, was ich hatte. Sie hat mich gerufen und mich geprägt. So wie sie meine Heimat begleitet und geformt hat.

Wandelnde Diskothek

Nach der Gründung der Republik Kuba im Jahr 1902 kam nicht die erhoffte Freiheit: Die USA dominierten das Land, nahmen Einfluss auf Präsidentschaftswahlen, unterstützten auch korrupte Regime. 1959 stürzte Fidel Castro den Diktator Fulgencio Batista und rief die „revolución" aus. Er versuchte, Kuba nach seinen sozialistischen Idealen zu formen. Doch mit dem Wirtschaftsembargo der USA verschärfte sich ab 1962 die soziale Lage. Bald begann Castro, Andersdenkende zu verfolgen. Eines aber konnte er den Kubanern nicht nehmen: die Musik. Es klingt wie ein Klischee, aber Musik ist für Kubaner wie Brot oder Kartoffeln, ein Grundnahrungsmittel. Sie ist immer da, dringt aus Fenstern und Gassen, quillt aus den Cafés und Bars auf die Straßen.

In Havanna, der Hauptstadt und größten Metropole der Karibik, dröhnen die Rhythmen aus den Tausenden alten Karossen, die das Stadtbild bis heute prägen. Die schweren, leuchtenden Autos dienen geradezu als Sinnbild der großen Improvisationskunst, die die Kubaner an den Tag legen. Da sich niemand neue Autos leisten konnte, wurden die alten immer wieder auf Vordermann gebracht. Modelle aus den goldenen 1950er und 1960er Jahren sind so noch alltäglich auf den Straßen zu sehen. In meinem ersten Beruf reparierte ich diese Oldtimer. Und sang dabei immerzu. Mein großes Idol war Leo Vera von den Afro-Cuban All Stars: ein Sänger mit der melodischsten Stimme, die ich je gehört hatte. Als ich für einen Kunden eine Trompete reparieren sollte, brachte ich mir zwischendurch darauf das Spielen bei - was furchtbar klang!

Während des Militärdienstes begannen sich in meinem Kopf die Melodien und Worte wie von selbst zu formen. Meine Freunde nannten mich nur noch „discoteca", die wandelnde Diskothek. Bis heute hat sich das nicht geändert.

Der kubanische Sound

Kubanische Musik ist geprägt von Einflüssen aus Spanien, USA und Jamaica. Die Sklaven, die während der Kolonialzeit in Kuba landeten, brachten ihre traditionellen Lieder und Rhythmen ebenso ein. Mitte des 19. Jahrhunderts entstand der Son, der afro-kubanische Trommelrhythmen mit spanischer Gitarrenmusik verbindet. Son ist unsere „Ur-Musik", er gilt als Vorläufer von Rumba, Mambo und Salsa. Besonders im Salsa zeigt sich die „kubanische Seele": Die Texte sind poetisch, oft geht es um Liebe und Sex, den wir mit Metaphern umschreiben: sinnlich, aber nicht obszön.

Nach der Revolution verlor der Son an Bedeutung, in den 1970er Jahren wurde die vom Regime initiierte Liedermacher-Bewegung „nuevra tron", kubanische Volksmusik mit politischen Texten, populär. Der Einfluss der Regierung auf die Musikszene war für mich so auch immer zwiespältig: Ich habe selbst von der kostenlosen Ausbildung an einer der vielen staatlichen Musikschulen profitiert. Ich konnte am Musikkonservatorium Alejandro García Caturla studieren, schaffte es damit zum Solisten im „Cabaret Tropicana" und nicht zuletzt auch in meine neue Heimat Hamburg und zum Musical „König der Löwen".

Doch frei denkende, kritische Künstler waren in Kuba nie gern gesehen, Jazz und Rock lange verboten. Trotzdem hat seit Siebzigern jeder Salsa-Kultbands wie Los Van Van, Havana D'Primera oder Charanga Bagnara und natürlich den Buena Vista Social Club gehört. Heute ist die kubanische Jugend ganz dem Cubatón verfallen, der kubanischen Version des Reguetón - einer Mischung aus Hip-Hop, Reggae und Dancehall, die Ende der 1990er Jahre aus Puerto Rico herüberschwappte. Cubatón ist sehr melodisch, der Stil wird mit den komplexen Rhythmen des Salsa und des Son vermischt. Europäische Musik hat bis heute übrigens kaum Einfluss: Künstler wie Adele kennt auf Kuba fast niemand. Wer weiß, wie lange das so bleibt!

Demokratische Musikszene

Abseits von Kuba öffneten sich mir neue Welten; ich lernte internationale Künstler kennen, die mich sehr inspirierten. Zuvor hatte ich 27 Jahre in einem mentalen Gefängnis verbracht, auch musikalisch. „Wer Kuba verlässt, ist ein Verräter" - diese Parole aus meinem Kopf zu verbannen, hat lange gedauert.

Obwohl der Massentourismus wächst, eine gewisse Aufbruchsstimmung herrscht, bleibt Kuba ein Staat, der sich noch viel abschottet. Die kubanische Musikszene verändert sich allerdings. Das Pop-Duo Buena Fé etwa singt darüber, warum so viele junge Kubaner ins Ausland emigrieren. Sie beschreiben die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen, die in Kuba keinen Job finden. Immer mehr Frauen treten als Musikerinnen in den Vordergrund, die Texte werden politischer, aufrührerischer. Trotzdem ist Systemkritik selten, es bleibt bei den Hoffnungen auf eine bessere Zukunft. Aber der Mut, sich zu äußern, ist nun da.

Für ARTE nach Kuba zu reisen, war beeindruckend. Der Blick auf meine Heimat hat sich sehr verändert. Die Liebe zum Land ist mir geblieben, die Mentalität hat mich geprägt: Ich bin Optimist, spontan, kann improvisieren. Deutscher bin ich mittlerweile auch geworden. In Havanna fehlte mir das Zeitgefühl, heute bin ich sehr gut organisiert. Und ich kann mir meine eigene Trompete leisten!


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