Links das Geschirr, rechts die Bücher. Nora blickt auf den Stapel Umzugskartons, der sich vor ihr auftürmt. In den Händen hält sie Klebeband und Stift, in ihrem Blick liegt ein Anflug von Überforderung. In einer Ecke des Raumes knallen zwei Spielzeugautos gegeneinander. Noras Sohn Paul spielt in Gedanken versunken, die Unordnung in der großen Altbauwohnung lässt ihn unberührt. Dabei geht es hier eigentlich um ihn. Paul ist sechs Jahre alt, bald kommt er in die Schule. Und die sollte lieber nicht in Wilhelmsburg liegen, dem Stadtteil Hamburgs, in dem er geboren und aufgewachsen ist, findet seine Mutter.
Nun zieht die ganze Familie um - nach Altona, damit Paul auf eine Schule gehen kann, "die zu ihm passt", wie sie sagt. "Pauls Einschulung ist nicht der einzige Grund für unseren Umzug", wiegelt Nora ab. Die neue Wohnung sei größer, der Weg zu ihrer Arbeitsstelle in St. Pauli kürzer. "Die Sache mit der Schule war eigentlich nur der Auslöser", sagt sie und blickt durchs Fenster hinunter auf die Straße. Seit sieben Jahren lebt die 32-Jährige im Reiherstiegviertel, dem urbanen Kern von Wilhelmsburg. Die Webdesignerin passt ins Profil der Jungen und Kreativen, die seit einigen Jahren verstärkt herziehen - ein Nebeneffekt des "Sprungs über die Elbe", mit dem die Stadt Wilhelmsburg attraktiver machen will. Lange galt der Stadtteil als sozialer Brennpunkt, dann flossen Millionen in Stadtentwicklungsprojekte wie die "Internationale Bauausstellung" im Jahr 2013. Inzwischen hat sich südlich der Elbe vieles verändert: Nirgendwo ist das so sichtbar wie im Reiherstiegviertel, wo Cafés und Technoclubs aus dem Boden sprießen. Nora fühlt sich hier zuhause, sagt sie. Bleiben will sie trotzdem nicht.
"Wenn ich Pauls Schule frei wählen dürfte, würde ich vielleicht nicht wegziehen", sagt die junge Mutter. Dabei hat sie durchaus eine Wahl - doch die ist begrenzt. Sie kann eine Grundschule aus einem "Anmeldeverbund" auswählen, bis zu fünf nahegelegene Schulen sind darin zusammengefasst. Die Elbinselschule, Vorzeigeprojekt einer städtischen "Bildungsoffensive" in Wilhelmsburg, wäre eine Option. Die Schule liegt in der Nähe, wirbt mit intensivem Englischunterricht besonders um Kinder sogenannter bildungsnaher Familien. Doch Nora fürchtet, für ihren Sohn keinen Platz an der Schule zu bekommen, die Alternativen im Umkreis gefallen ihr nicht. Und die junge Mutter denkt weiter: Wenn Paul älter ist, steht die Entscheidung für eine weiterführende Schule an. Die örtliche Stadtteilschule geriet durch die NDR Dokumentation "Lehrer am Limit" in die Schlagzeilen. Aufmüpfige Schüler und überforderte Lehrer waren in dem Film zu sehen. Der Anteil der Kinder aus Hartz- IV-Familien liegt bei 60 Prozent. Nora kennt den Film und die Sozialstatistik. "In solch einem Umfeld soll mein Kind nicht lernen", sagt sie.
Wer sich an Hamburgs Schulen umhört, weiß: Noras Fall ist nicht untypisch. Damit ihr Kind einen Platz an der Wunschschule bekommt, ziehen viele Eltern um - oder sie tricksen mit den Meldeadressen. Verlässliche Zahlen gibt es nicht, unter Pädagogen ist das Phänomen jedoch bekannt, auch wenn niemand gern offen darüber spricht. "Es gibt immer wieder Anfragen von Eltern, die ihr Kind auf unsere Schule schicken möchten, aber in einem weiter entfernten Stadtteil leben", sagt Katharina, die Deutsch am Ganztagsgymnasium Klosterschule unterrichtet, einer beliebten Schule mit gutem Ruf. "Viele Eltern wollen von uns wissen, ob Schein-Umzüge kontrolliert werden." An den Schulen selbst führe der "Schultourismus" der Eltern zu Konflikten, so Katharina. Einige Lehrer legten den Eltern die Wohnort-Mauschelei sogar nahe, andere riefen zur Denunziation der "Betrüger" auf.
Es ist eine Dynamik, die in vielen deutschen Großstädten zu beobachten ist. Eltern, die das multikulturelle Leben in den Szenevierteln durchaus schätzen, wollen für ihr Kind das passende Lernumfeld auswählen - oder zumindest eines, das ihren subjektiven Vorstellungen entspricht. Das Problem: Vieles deutet darauf hin, dass dabei nicht nach Schulkonzept ausgewählt wird, sondern die soziale Mischung entscheidend ist.
Zehn Prozent aller Eltern in Deutschland stellen mit Erfolg einen Wechselantrag, wenn ihnen die zugeteilte Schule für ihr Kind nicht behagt. Eltern mit Migrationshintergrund entscheiden sich deutlich seltener gegen die zugewiesene Schule. Oft wissen sie gar nicht, dass ihnen diese Option offensteht. Dabei soll der "Schulsprengel" die frühe soziale Selektion von Kindern im Schulalter eigentlich vermeiden. Es besagt, dass Grundschulkinder stets die nächstgelegene Schule besuchen sollen. In Hamburg wurde der Sprengel bereits 2005 abgeschafft, in vielen anderen Bundesländern gilt er noch heute.
Mit ihrer Schulwahl schaden die Eltern ungewollt nicht nur dem allgemeinen Bildungssystem - sie verschärfen unbewusst auch die soziale Spaltung in den Städten. Zu diesem Schluss kommt eine Untersuchung des Sachverständigenrats deutscher Stiftungen für Integration und Migration (SVR). Die Auswertung von 108 Berliner Grundschulen und den umliegenden Schulbezirken ergab, dass der Ausländeranteil an jeder fünften Schule im Jahrgang 2011/2012 doppelt so hoch war wie im zugehörigen Bezirk. Die Folge: Sozial benachteilige Kinder bleiben noch stärker unter sich. Jeder vierte Jugendliche mit Migrationshintergrund besucht eine Schule, in der Schüler nichtdeutscher Herkunft die Mehrheit bilden. "Für Kinder mit Migrationshintergrund ist es schwieriger, Deutsch zu lernen, wenn sie unter sich bleiben", sagt SVR-Geschäftsführerin Gunilla Fincke.
Eltern ziehen aus Stadtteilen weg, wenn sie dort keinen ausgeglichenen Anteil von Angehörigen des eigenen sozialen Milieus haben: Das belegt auch die Studie "Eltern unter Druck" der Konrad-Adenauer-Stiftung aus dem Jahr 2008. Demnach würden vor allem Eltern aus der bürgerlichen Mittelschicht bei der Schulwahl nervös. Sie seien darum bemüht, sich gegen die Milieus am unteren Rand der Gesellschaft abzugrenzen, heißt es dort.
In Hamburg sind die Folgen des "Schultourismus" längst sichtbar: In den westlichen, wohlhabenderen Stadtgebieten steigen die Schülerzahlen, vor allem an den Gymnasien. Schlechter sieht es bei den Stadtteilschulen aus, sie kommen auf nur 42 Prozent der Anmeldungen für weiterführende Schulen. Besonders Schulen in Stadtteilen mit niedrigem "Sozialindex", der die soziale Struktur transparent machen soll, haben mit einem Schülerschwund zu kämpfen. Und im aktuellen "Bildungsbericht 2014" resümiert die Behörde für Schule und Berufsausbildung: Bildungserfolge hängen stark vom Wohnort der Kinder ab. In Stadtteilen mit hohem Sozialstatus erhält etwa jedes zweite Kind eine Gymnasialempfehlung, in Stadtteilen mit niedrigerem Sozialindex nur jedes fünfte Kind - egal, ob ein Migrationshintergrund vorliegt oder nicht.
Noras Entscheidung ist längst gefallen. Im Sommer wird ihr Sohn Paul eine Ganztagsschule in Altona besuchen. Motor einer sozialen Spaltung in der Stadt will sie trotzdem nicht sein: "Ich will einfach nur das Beste für Paul", sagt sie. Und schließlich sei es nicht ihre Aufgabe, für den sozialen Ausgleich in den Städten zu sorgen - sondern die der Politik.
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