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Blau, aber oho?

Blau, aber oho?

Wachsende Städte und Schrumpfungsprozesse im ländlichen Raum – die aktuelle Lage in den neuen Bundesländern und mögliche Lösungsansätze

Im Osten Deutschlands stehen starke Schrumpfungsprozesse in ländlichen Räumen dem Wachstum von Städten wie Leipzig, Dresden und Jena gegenüber. Der Transformations-Prozess ist nicht neu, seine Auswirkungen werden jedoch zunehmend gravierender. Anne Fischer schätzt die aktuelle Lage in den neuen Bundesländern ein und sucht nach Lösungsansätzen.

Auch reichlich 30 Jahre nach der Wiedervereinigung Deutschlands ist der Osten Deutschlands in Sachen Raumentwicklung nicht mit dem Westen zu vergleichen. Denn in Brandenburg, Mecklenburg-Vorpommern, Sachsen, Sachsen-Anhalt und Thüringen bluten Regionen seit Jahrzehnten aus, schwinden mit schrumpfender Bevölkerungsdichte die Wirtschafts- und Steuerkraft – und damit auch die Infrastruktur. Lange Zeit war das Wanderungsgeschehen in den neuen Bundesländern geprägt von der Abwanderung in die alten. Diese Abwanderung geschah in Wellen: Der ersten setzte das DDR-Regime 1961 mit dem Bau der Mauer ein Ende. Die zweite startete direkt nach der Wiedervereinigung , die dritte um die Jahrtausendwende. Von 1990 bis 2016 waren die Fortzüge jährlich höher als die Zuzüge, sodass die Bevölkerung insgesamt stark zurückging. Weil vor allem junge Menschen und mehr Frauen als Männer abwandern, altert die ostdeutsche Bevölkerung schneller als die westdeutsche. Dazu kommt der Einbruch der Geburtenrate in den 90er Jahren: Viele Menschen verschoben aufgrund der sozialen Unsicherheit ihre Familienplanung. Diese Lücke trägt, auch wenn im Osten mittlerweile mehr Kinder geboren werden als im Westen, heute dazu bei, dass vielerorts besonders die "mittlere" Generation der 30- bis 40-Jährigen fehlt – und mit ihnen die ländliche Zukunftsperspektive.

Inzwischen gleicht sich der Wanderungssaldo an, doch zum Beispiel die Wochenzeitung "Zeit" zeigt in einer aufwendigen Demografie-Analyse: Dass nach der Wiedervereinigung fast ein Viertel der ursprünglichen Bevölkerung der neuen Bundesländer fortzog – meist, um der Arbeitslosigkeit zu entfliehen und zugunsten einer besseren, wirtschaftlichen Perspektive – hat bis heute gravierende Folgen. Und zwar vor allem für den ländlichen Raum, denn Schrumpfung und Leere betrifft vor allem die Kleinstädte und Dörfer. Städte wie Potsdam, Jena, Dresden, Leipzig, Weimar und Erfurt haben auch im Osten eine starke Sogwirkung. Sie sind "Leuchttürme" mit vielen Entwicklungsmöglichkeiten, die auch ihre Peripherie befördern – das Land allerdings noch mehr schwächen. Der sozioökonomische Disparitätenbericht der Friedrich-Ebert-Stiftung verwendet dafür den Begriff "ländlich geprägter Raum in dauerhafter Strukturkrise" – dieser Raumtyp findet sich ausschließlich in Ostdeutschland. Er ist gekennzeichnet von Arbeitslosigkeit und Wirtschaftsschwäche, von leerstehenden Immobilien, Überalterung und schwindenden Teilhabemöglichkeiten. Oft ist er schlecht angebunden: In Mecklenburg-Vorpommern, Brandenburg und Sachsen-Anhalt legen Beschäftigte im Durchschnitt oft mehr als 30 Kilometer bis zur Arbeit zurück, ergibt eine Auswertung von Pendlerdaten des Bundesinstituts für Bau-, Stadt- und Raumforschung.

Was tun mit ausblutenden Regionen?

Vielerorts investierten der Bund und die Kommunen zwar jahrelang in ländliche Infrastruktur, doch mit abwandernden Menschen fehlen eben auch Wirtschafts- und Steuerkraft sowie Perspektiven. Und wo es an Versorgungsleistung und sozialer Infrastruktur mangelt, verstärkt sich die Abwanderung und damit der Schrumpfungsprozess. Es kommt zur Strukturkrise – das ist in weiten Teilen der Status Quo in den neuen Bundesländern. Die Frage ist: Was nun? Manche plädieren für kontrollierte Absiedlung zumindest solcher Kommunen, in denen die Schrumpfung und damit einhergehende Probleme unaufhaltsam scheinen. Allerdings ist dieser Ansatz in der Realität imsozialen und politischen Kontext fraglich – auch vor dem Hintergrund der gesetzlichen Grundsätze der Raumordnung.

Um dem ländlichen Raum eine Zukunft zu geben, braucht es stattdessen: lokales Engagement, Geduld, wohl auch künftig ein nicht unerhebliches Maß an Subventionen. Und gute Raumentwicklungsstrategien, die einen nachhaltigen Aufschwung ermöglichen und somit bestenfalls auch der Frustration der Betroffenen, die sich politisch immer stärker bemerkbar macht, etwas entgegensetzen können. Denn auch das ist ein wachsendes Problem: Die Menschen, die in "abgehängten" Ost-Regionen leben, sind besonders anfällig für rechtspopulistische Parteien.

Infrastruktur-Kooperationen und engagierte Bürger*innen

Politisch gilt es, wo möglich zwischen den Kommunen zu kooperieren, statt in engen Gemeinde- oder Dorfgrenzen zu denken und beispielsweise Infrastrukturmaßnahmen zu Mobilität, Nahversorgung, Energie und Bildung übergreifend zu planen. Viele Modellprojekte zeigen, dass sich im ländlichen Raum die Kooperation von öffentlichem Sektor mit lokaler Wirtschaft und Bürger*innen, die Lust haben, "ihren" Ort mitzugestalten, bezahlt macht. "Strukturschwache ländliche Regionen sind von einem so hohen Problemdruck gekennzeichnet, dass die Menschen vor Ort dazu angetrieben werden, Lösungen für ihr Leben auf dem Land zu finden. Im Volksmund heißt es, dass Not erfinderisch mache. Dies lässt sich in ländlich geprägten Regionen ganz besonders beobachten", sagt Gabriela Christmann, Professorin für Raum-, Wissens- und Kommunikationssoziologie im Forschungsmagazin des Leibniz Institut für Raumbezogene Sozialforschung.

Damit Schrumpfungsprozesse gestoppt werden können, sind neben öffentlicher Infrastruktur und flächendeckendem Netzausbau vor allem engagierte Bürger*innen gefragt, die sich für das Gemeinwohl einsetzen. Und die unterstützt, vielleicht auch erst einmal angeregt werden müssen – mit den nötigen Freiräumen, Wertschätzung und finanziellen Mitteln. Als ein Hoffnungsschimmer für den ländlichen Raum in den neuen Bundesländern darf dabei auch eine Umfrage der Bundesstiftung Baukultur gelten: Trotz der schwierigen Lage mögen ihn die Menschen – 45 Prozent der Befragten antworten auf die Frage, wo sie am liebsten wohnen würden, mit: in einer ländlichen Gemeinde (33 Prozent in einer Klein- oder Mittelstadt, 21 Prozent in einer Großstadt).

Artikel aus G+L 05/21: https://shop.georg-media.de/garten-landschaft-05-21/