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STEIN 07/19: Niemand ist eine Insel

STEIN 07/19: Niemand ist eine Insel

Deutscher Metz im Brexit: Matthias Garn ist vor 21 Jahren nach Großbritannien gegangen und hat es dort weit gebracht. Doch seit dem Referendum ist alles anders.

Matthias Garn saugt am Vormittag des 24. Juni 2016, einem Freitag, verbissen seine gesamte Werkstatt. Vier Stunden lang, mit Gehörschutz. Will niemanden sehen, niemanden hören, ist voller Unverständnis und auch: Enttäuschung. Am Tag zuvor stimmten 51,9 Prozent der Briten für den Austritt aus der EU. Er und seine Familie haben die Abstimmung in der Nacht im Livestream verfolgt. Eine Entscheidung mit weitreichenden Folgen: Die Währung bricht ein, die politischen Querelen aus, das Vertrauen der Gesellschaft bröckelt wie verwitterter Calcareous Limestone. Bis heute ist nicht klar, wie der Brexit ausgehen wird.

„Seit der Leave-Abstimmung geht es hier rund“, erzählt Garn. „Früher war das Wetter das Small- talk-Thema überhaupt. Bis vor zwei Jahren. Jetzt geht es tagein, tagaus, immer und überall um den Brexit.“ Und die dunklen Wolken, die mit ihm aufziehen.

EIN TIEFER GRABEN, MITTEN DURCH DIE GESELLSCHAFT

Will man bei diesem Bild bleiben, dann, so erzählt es Garn, warten seitdem alle auf den Wetterumschwung – ob Wolkenbruch oder Sonne ist fast schon egal, Hauptsache, die Warterei hat ein Ende. "Die Gesellschaft lebt hier seit über zwei Jahren in Ungewissheit. Noch hat sich zwar praktisch nicht viel geändert, aber ständig gibt es neue Spekulationen. Das führt zu Furcht und Stillstand." Weil die Briten nicht wissen, wie es mit ihrem Land weiter geht, investieren sie nicht. Einige Handwerker haben ihre Werkstätten eilig verkauft, aus Angst vor dem Preissturz, den ein harter Brexit mit sich bringen könnte. Für Garn Glück im Unglück: Er und seine Frau Kibby, eine Restauratorin, die aus den USA stammt, konnten preiswert eine komplette Werkstatt aufkaufen und ziehen mit der Firma bald an einen neuen Standort. Mieten wird zunehmend unsicherer, zudem steigen die Preise stark.

In einer Ausschreibung, an der Garn Ende 2018 teilnimmt und bei der es um Konservierungsarbeiten an einer Kirche aus französischem Kalkstein geht, notiert der Steinmetz: Ob er den Auftrag ausführen kann, hängt von der dann vorherrschenden politischen Situation ab. Heißt: Ob er den Kalkstein zum nötigen Zeitpunkt aus Frankreich einführen kann, ist schlichtweg nicht vorhersehbar. „Der Brexit hat die Menschen politisiert, viele wollen etwas verändern. Das ist im Prinzip gut. Aber die Gesellschaft ist wirklich tief gespalten“, so Garn. Das trifft ihn, der sich in Großbritannien immer willkommen fühlte – vor allem, weil „die Engländer doch eigentlich historisch ein Migrationsvolk sind.“ Neuerdings erlebt Garn skurrile Situationen: Der Zulieferer, bei dem er seit Jahren Bagger für Baustellen leiht, will nun seinen Ausweis als Scan vorgelegt bekommen. Auf der Baustelle fragen die Handwerker „heimischer“ Firmen Garns Mitarbeiter, wie lange ihr deutscher Chef schon in England sei – und wie lange er noch bleibe.

DER FACHKRÄFTEMANGEL STEIGT

„Als Firma beeinflusst uns die Situation vor allem in Sachen Personal“, sagt Garn. Keiner kann genau sagen, welche Auswirkungen der Brexit haben wird, gleichzeitig läuft der Buschfunk heiß. Der Steinmetz hat deshalb zum Beispiel einen neuen Mitarbeiter aus Deutschland vorsorglich schon Anfang des Jahres eingestellt, obwohl er da noch gar nicht in England war – denn was nach der ersten Brexit-Deadline im April 2019 in Sachen Bürokratie passieren würde, konnte keiner absehen. Auch Garns deutscher Führerschein und die damit zusammenhängenden Versicherungen der Firmenfahrzeuge könnten beim Brexit ein Problem werden. Doch bei allen Vorkehrungen und aller Vorsicht gibt es keine Gewissheit: „Keiner weiß, was bei einem Austritt alles passiert. Auch die Behörden scheinbar nicht.“

Aus den täglichen Gesprächen hört Garn deshalb sogar bei Leave-Befürwortern, dass es am besten wäre, die Entscheidung rückgängig zu machen oder ein zweites Referendum anzusetzen. Denn bisher bringt der Brexit vor allem: Unruhe. Großbritannien, so Garn, habe bisher einen sehr liberalen Arbeitsmarkt gehabt, mit Deutschland nicht zu vergleichen. Wer eine Firma gründen will, beantragt eine Steuernummer und kann loslegen. Meisterpflicht für Handwerksbetriebe und ähnliche Regulierungen gibt es nicht. Nach Garns Empfinden ist es die damit verbundene Migration, an der sich viele Brexiteers stören: „Die Regulierung der Migration scheint mir oft die Grundmotivation zu sein. Und weil das als EU-Mitglied nicht geht, haben sie für den Brexit gestimmt.“

Woran es auf der Insel mangelt, sind Fachkräfte, auch Steinmetze. Garns Auftragsbücher sind deshalb meist zwei Jahre im Voraus voll, er hat sich einen Namen gemacht. „Ich bilde jedes Jahr aus. In Deutschland hätte ich dazu vielleicht keinen so großen Drang wie hier.“ Garns Lehrlinge gewinnen regelmäßig Auszeichnungen und Titel – was ein Verdienst des gesamten Teams und der Firmenphilosophie ist, wie er sagt: „Bei uns lernen alle voneinander, und die verschiedenen Nationalitäten, deutsch, französisch, amerikanisch, australisch sorgen für einen weiten Tellerrand.“

Außerdem hält Garn seine Lehrlinge die ersten zwei Jahre von Maschinen fern, sie arbeiten rein von Hand. So, wie er selbst es vor 30 Jahren in Deutschland gelernt hat. Garn stammt aus einer Steinmetzdynastie, der Großvater, der Vater, der Onkel, der Bruder – allesamt Steinmetze oder Bildhauer.

LEAVE OR REMAIN?

Als er selbst 1998 einen Halbjahresvertrag für die Mitarbeit an der Wells-Kathedrale bekommt, staunt er über den englischen Ansatz der Restaurierung: "Die Konservierung käme bei einem sanierungsbedürftigen Maßwerkfenster zum Beispiel nie auf die Idee, es komplett auszubauen. Stattdessen kümmern wir uns nur um die wirklich verwitterten Stellen, die nicht mehr erhalten werden können." Diese Herangehensweise ist Garn inzwischen vertrauter als die deutsche. Denn nach seiner Mitarbeit an der Wells-Kathedrale taucht er tiefer und tiefer in die Kunst der Konservierung ein: Er bekommt einen Job beim Hofbildhauer der Queen in York und belegt einen Kurs der Society for the Protection of Ancient Buildings (SPAB). "Sie ist der Vorreiter des Denkmalpflegertums, auf ihren Manifesten zur Konservierung bauen alle anderen auf", erzählt Garn.

Seinen Magister an der Universität in York widmet er diesem Thema, schreibt in seiner Abschlussarbeit über „Tile Repair“: „Das ist eine englische Konservierungstechnik, die aus der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg stammt. Eine schadhafte Stelle an einem Stein wird dabei vorsichtig heraus gehackt, danach wird mit Kalkmörtel ein Stück Dachziegel eingesetzt und das Ganze mit einer Putzschicht abgezogen.“ Eine Art Vierung aus Dachziegeln, erfunden von der Society for the Protection of Ancient Buildings.

Heute ist Garn einer von wenigen Masters of Mason in England – ein Titel, der von der Worship Company of Masons als Anerkennung verliehen wird – und hat an mehr als 350 Kirchen des Landes gearbeitet. So eine lange Zeit, so viele Projekte verwurzeln ihn, genau wie seine beiden Kinder, die hier aufwachsen. Und doch hat er in den vergangenen zwei Jahren manches Mal darüber nachgedacht, ob seine Familie gehen oder bleiben soll. In diesem Land, das selbst nicht zu wissen scheint, was es will.

„Im Moment hoffe ich, dass der Brexit gar nicht kommt. Dass bei einem zweiten Referendum die Mehrheit für den Verbleib in der EU stimmt. Aber das ist meine Wunschvorstellung. Bis zur Verlängerungsabstimmung im April grassierte hier schließlich sogar die Angst vorm kalten Brexit.“ – Es bleibt wolkig in Großbritannien.

aus: STEIN 07/19, S. 52 - 56