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Die Friedhofsflüsterer

Jan-Michael Lange und Martin Kaden vom Senckenberg Forschungsinstitut in Dresden betreuen umfangreiche petrographische Sammlungen. Seit einigen Jahren widmen sie sich einer besonderen Aufgabe: Sie kartieren die Grabmale ausgewählter Friedhöfe der Region.



Gewissermaßen, schmunzelt Jan-Michael Lange, Sektionsleiter Petrographie der ehrwürdigen Senckenberg Naturhistorischen Sammlungen, gewissermaßen treten er und sein Mitarbeiter Martin Kaden mit dem, was sie tun, in fürstliche Fußstapfen: Denn der sächsische Kurfürst selbst ließ ab 1587 bereits Gesteinsproben, die für Bau- und Architekturzwecke verwendet wurden, in seiner Kunstkammer zusammentragen. Der Beginn einer Sammlung, die heute in zwei großen Räumen und langen Regalreihen rund 80.000 Gesteinsproben aufweist. 


Da sind zum einen die Sammlung sächsischer Gesteine, viele inzwischen einzigartige Belege. Dazu kommen internationale Stücke, außerdem die Geröll- und Geschiebesammlung, ferner die Sammlung mikroskopischer Dünnschliffe, eine Lehr- und Übungssammlung und eben die Sammlung von Bau- und Dekorationsgesteinen. Zusammengefasst: eines der größten Natursteinarchive. „Was unsere Sammlung auszeichnet, sind die vielen historischen Stücke“, erzählt Lange. Er ist die geologische Karriereleiter Sprosse für Sprosse emporgeklettert, Lehre, Studium, Berufstätigkeit und Promotion brachten Praxiserfahrung im Kartieren, auf der Bohranlage, im Braunkohlenbergbau und Kenntnisse in der Meteoritenkunde mit sich. „So entstand das Gefühl für die Steine.“


Aus dem Bestreben zur Vollständigkeit und der großen Vielfalt der Senckenberg-Sammlung ergibt sich ihr Wert: Die Bau- und Dekorationsgesteine etwa sind für Restauratoren, Steinmetze, Planer und Architekten wertvolle Referenzen für Restaurierungen. In geringem Umfang sammeln Lange und seine Kollegen auch Putz- und Mörtelproben historischer Bauwerke. Außerdem: Steine aus Brüchen, die längst geschlossen und geflutet sind, Steine von Bauwerken, die nicht mehr stehen, Steine aus den entlegensten Winkeln des Landes. 


Warum Grabmale ausgezeichnete Zeitzeugen sind


Martin Kaden, Präparator in der Sektion Petrographie und seit Kindesbeinen fasziniert von Mineralen und Co, wohnt im Dresdner Stadtteil Tolkewitz, in unmittelbarer Nähe des Johannisfriedhofs. Dieser, 1881 eröffnet, war lange Zeit der Hauptfriedhof der Stadt. Seine außergewöhnlichen Grabmale bringen Kaden auf die Idee, die verwendeten Steine zu kartieren. Denn sie sind, von ihrer sepulkralkulturellen Bedeutung einmal abgesehen, spannende Zeugnisse der Verwendung von Naturstein: Wann sie aufgestellt wurden, lässt sich anhand der Daten sehr gut eingrenzen. Wo sie herkommen, können Lange und Kaden dank Fachwissen und der Gesteinssammlung problemlos zuordnen. Zusammen ergibt das die Möglichkeit, die regionale Natursteinnutzung und ihren Wandel in einem Zeitraum von über 300 Jahren genau zu erfassen. 


Das ist nicht nur interessant für Heimatverbundene, die bald in großer Zahl begeistert zu den Führungen kommen, die Lange und Kaden anbieten. Sondern bietet auch Friedhofsverwaltungen und Steinmetzen Entscheidungshilfe bei Restaurierungen: „Wir können zum Beispiel bei der Suche nach Ersatzmaterial helfen, wenn Grabmale restauriert werden, deren Gestein nicht mehr abgebaut wird“, erzählt Kaden.


Nomen est omen – oder irreführend


Er und Lange machen sich, unterstützt mit Studenten der TU Bergakademie Freiberg, ab 2009 ans Werk: Sie kartieren Grabmale auf dem Johannisfriedhof, vom schlichten Grabstein bis zum fast fünf Meter hohen Wandgrabmal ist alles dabei. Sie messen aus, beschreiben die Architektur der Grabmale und welche der rund 90 Gesteinsarten wie verwendet wurden, suchen alte Aufzeichnungen zusammen, veröffentlichen Publikationen. „An den Grabmalen lässt sich die Geschichte ablesen: Roter Granit und schwarzer Mikrogabbros aus Schweden kommen zum Beispiel erst zum Einsatz, als das Transportnetz mit dem Ausbau der Eisenbahn rasant wächst. Neben typisch sächsischen Gesteinen – Elbsandstein, roter Meißner Granit und Lausitzer Granodiorit – finden sich auf dem Johannisfriedhof auch verschiedene Marmore aus Griechenland und Italien und Kalksteine aus Frankreich. Gestalterisch lassen sich auch die Auswirkungen der Friedhofsreformbewegung sehr gut nachvollziehen“, erzählt Kaden. 


Es bleibt nicht bei dem einen Bestattungsort, allmählich werden Lange und Kaden zu wahren Friedhofsflüsterern. Sie kartieren das Grabmalinventar der Friedhöfe nicht nur aus petrographischer Sicht, sondern setzen diese auch in Beziehung zu den kulturellen und technischen Gegebenheiten der jeweiligen Zeiten. Bis 1945 lassen sich so fünf Natursteinverwendungs-Phasen, jede charakterisiert durch sehr spezifische Gesteinsanwendungen, unterscheiden.


Für die Branche ist ein weiterer Teil ihrer Arbeit äußerst wertvoll: die Überführung der Handelsnamen und Gesteinsbezeichnungen in die exakte petrographische Nomenklatur. Denn die Namen sind teilweise irreführend, teilweise falsch, teilweise von Region zu Region verschieden. Für Steinmetze und Bildhauer im Arbeitsalltag nicht immer einfach, da durchzublicken. Ein Beispiel: „Brown Silk“. Ein Gestein aus Brasilien, für das je nachdem, ob es mit oder gegen das Lager geschnitten wird, noch verschiedene, weitere Namen im Umlauf sind. Oder „Meergrün“, der Handelsname für einen grünlich-grauen Kalkstein aus Thüringen, der in seiner Farbgebung an die Ostsee bei Wellengang erinnert. Lange und Kaden könnten noch viele solcher Geschichten erzählen, ihren geologischen Spürsinn scheint es nur noch mehr anzustacheln. Sie werden weiter sammeln und prüfen, weitere Grabmale kartieren – und damit Gesteins-Geschichte vor der Vergessenheit bewahren.


AUS: STEIN S11/2018

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