Wie viele Intensivbetten belegt und wo sie knapp sind, dazu gibt es Daten. Auch dazu, wie viele der Betten auf schwer erkrankte Covid-19-Patienten entfallen. Kürzlich berichteten Medien, der Anteil von Menschen mit Migrationshintergrund sei unter diesen besonders hoch. Stimmt das? Und wäre es plausibel? Ein Gespräch mit dem Sozialhistoriker Felix Römer von der Humboldt-Uni zu Berlin
DIE ZEIT: Herr Römer, seit einigen Tagen wird darüber diskutiert, ob die Intensivbetten hierzulande überwiegend von Corona-Patienten mit Migrationshintergrund belegt sind. Zahlen gibt es dazu aber nicht. Wäre das denn aus wissenschaftlicher Sicht überhaupt plausibel?
Felix Römer
42, ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte der Humboldt-Universität zu Berlin.
Felix Römer: Dass Menschen mit Migrationshintergrund häufiger infiziert werden, halte ich für realistisch, wenn man ihre sozioökonomischen Lebenslagen betrachtet. Hierüber gibt es zwar immer noch zu unpräzise Statistiken, doch die vorhandenen Daten sind relativ klar: Menschen mit Migrationshintergrund verdienen im Durchschnitt weniger und haben ein höheres Armutsrisiko. Und sie wohnen deswegen oft in beengteren Wohnverhältnissen, wo sich das Coronavirus schneller ausbreitet. Das Robert Koch-Institut hat im letzten Herbst den Zusammenhang zwischen sozialer Ungleichheit und der Wahrscheinlichkeit, am Coronavirus zu erkranken, analysiert. Das Ergebnis: Ärmere Menschen sind stärker von der Pandemie betroffen.
ZEIT: Einer Studie des Statistischen Bundesamtes von 2018 zufolge lebten Menschen mit Migrationshintergrund häufiger in Gebäuden mit vielen Wohneinheiten als Menschen ohne Migrationshintergrund. Sind Hochhäuser also Pandemie-Treiber?
Römer: Je mehr Einkommen ich habe, desto mehr Quadratmeter pro Person kann ich mir leisten. Und desto wahrscheinlicher ist es, dass ich im Homeoffice arbeite, in einer wohlhabenden Gegend lebe und kein großes Ansteckungsrisiko habe.
ZEIT: Epidemien sind nichts Neues: Pest, Cholera, Spanische Grippe. Wie wurden die Seuchen früher erforscht?
Römer: Als sich im 19. Jahrhundert die Cholera ausbreitete, war das eine damals noch vollkommen unbekannte Krankheit. Um herauszufinden, wie sich die Seuche verbreitete, fertigte man in Städten Epidemie-Karten an. Darauf wurden alle Todesfälle in einem Stadtplan eingezeichnet. Anhand solcher sozialmedizinischen Karten sah man, in welchen Stadtvierteln die Seuchenopfer lebten. Die kartografische Analyse zeigte: In den ärmeren Stadtvierteln schlug die Seuche stärker zu als in den Vierteln der Reichen.
ZEIT: Wie lebte die arme Bevölkerung damals?
Römer: Sehr beengt. Und die sanitäre Ausstattung war schlecht: keine Toiletten, mangelhafte oder keine Abwassersysteme. Das hatte einen starken Einfluss auf die Verbreitung der Epidemie. Denn der Erreger der Cholera wurde durch verunreinigtes Wasser übertragen. Wenn also viele Personen zusammentreffen und die hygienischen Standards schlecht sind, dann breitet sich das Virus leichter aus. Als man diesen Zusammenhang verstand, wurden in den europäischen Städten Abwassersysteme eingerichtet.
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ZEIT: Was lernen wir daraus für die Gegenwart?
Römer: Es gibt einen Zusammenhang zwischen dem Wissen über die Pandemie und der politischen Umsetzung von Maßnahmen gegen die Ausbreitung.
ZEIT: Dann bräuchten wir ein Äquivalent zu den Seuchenkarten von damals - gibt es das?
Römer: Ich wohne in Köln und interessierte mich deshalb dafür, ob es für Köln Karten gibt, auf denen die Verteilung der Corona-Toten in den Stadtvierteln eingezeichnet ist. Aber selbst ein örtlicher Bundestagsabgeordneter hatte keine Daten zu den sozioökonomischen Dimensionen des Infektionsgeschehens. Das Gesundheitsamt ließ offen, ob solche Analysen veröffentlicht werden. Auf der Website des Statistischen Bundesamtes gibt es zu den Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die Gesellschaft keine Analyse nach Einkommen oder ähnlichen Indikatoren der Ungleichheit. Die Daten sind da, aber sie werden nicht analysiert oder nicht zur Kenntnis genommen.
ZEIT: Warum ist das so?
Römer: Armut und soziale Ungleichheit nicht zu thematisieren hat in der Bundesrepublik Tradition. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges gab es das Narrativ des Wirtschaftswunders. Es stimmt, dass das Durchschnittseinkommen stark anstieg. Unsichtbar blieb in den 1950er- und 1960er-Jahren, wie sich der neue Wohlstand auf die verschiedenen Einkommensschichten verteilte. Man glaubte an einen Fahrstuhleffekt - dass mit dem Wirtschaftswachstum alle nach oben fahren, sich die sozialen Probleme wie von selbst lösen. Deshalb vernachlässigte man auch die Statistiken über die ökonomische Ungleichheit.
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ZEIT: Warum wurde das so wenig thematisiert?
Römer: Die Bundesrepublik stand als geteiltes Land quasi an der Frontlinie des Kalten Krieges. Da fiel man schnell mal unter Kommunismus-Verdacht, wenn man Fragen zu sozialen Problemen stellte. Außerdem sah man sich als wohlhabende Mittelstandsgesellschaft. Der Reflex gegen das Thema setzt sich bis heute fort, auch in der Pandemie: In den Talkshows wird viel diskutiert, wann endlich wieder geöffnet wird. Aber wie ungleich die Pandemie Arme und Reiche trifft, wird viel seltener thematisiert. Und deswegen leitet die Frage nach sozialer Ungleichheit auch nicht die Diskussionen über die Strategie in der Corona-Krise.
ZEIT: Wie ist das in anderen Ländern?
Römer: In Großbritannien gibt es ein viel größeres öffentliches und politisches Bewusstsein für Armut und Ungleichheit. Schon seit dem 19. Jahrhundert gibt es dort eine starke Tradition sozialwissenschaftlicher Forschung und Statistik. Das brachte einen Wissensvorsprung bis heute. Der britische Index of Multiple Deprivation etwa erfasst neben dem Einkommen auch das sozialräumliche Umfeld. Nicht von ungefähr gehen solche Sozialgeografien ursprünglich auch auf die Seuchenkarten des 19. Jahrhunderts zurück. Für britische Statistiker war es 2020 ein Leichtes, die ungleichen Effekte des Coronavirus zu beweisen. Einen ähnlichen Index gibt es seit 2017 auch in Deutschland, allerdings wurden die Ergebnisse kaum beachtet - uns fehlt die statistische Kompetenz von Jahrzehnten.