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Webcomics provozieren Indiens Establishment

Manche Künstler brauchen Liebe als Inspiration, bei Rachita Taneja war es Wut. 2014 nahm die indische Polizei vier Studierende in Südindien fest, weil sie sich in einer Unizeitung über den frisch gewählten Premierminister Narendra Modi lustig machten. Rachita zeichnete drei Panels mit Strichmenschen in Schwarz-Weiß, die das Geschehen kritisch kommentieren.

Ihr Web-Comic war geboren, in dem sie seitdem mit sarkastischem Ton frauenfeindliche Haltungen, die muslimfeindliche Politik Narendra Modis oder die Doppelmoral des Kastenwesens vorführt. „Sanitary Panels" taufte sie die Reihe, eine Anspielung auf den englischen Begriff für Damenbinden. Schon alleine der Name ist eine Provokation für viele in Indien.

Sie ist sozio-ökonomisch abgesichert und betont selbst, dass sie aus einer höheren Kaste kommt - und damit extrem privilegiert ist in einem Land, in dem das offiziell abgeschaffte Kastenwesen immer noch Einfluss auf die gesellschaftliche Position hat, in dem eine hindu-nationalistische Partei regiert und immer noch knapp ein Drittel der Bevölkerung in extremer Armut leben.

„Für mich ist es einfacher, nicht in Schwierigkeiten zu kommen, im Gegensatz zu jemandem aus einer niedrigeren Kaste oder muslimischen Glaubens. Also wollte ich mein Privileg nutzen und etwas Gutes tun."

Heute hat Sanitary Panels mehr als eine Millionen Follower, Rachita ist eine der lautesten Stimmen der indischen Indie-Comic-Szene.

Götterfiguren vermitteln hinduistische Mythologie

Dass diese Szene im Verhältnis zur Größe des Landes überschaubar ist, hat auch damit zu tun, dass Comic-Verlage in den 90er Jahren durch den Aufstieg des Fernsehens pleitegingen.

Noch in den 70er und 80er Jahren erlebten Comics in Indien eine Blütezeit. Neben populären Figuren aus den USA waren auch indische Superhelden Verkaufsschlager. Es gab zum Beispiel Sunny the Supersleuth, ein Cricket spielender Superdetektiv, oder Chacha Chaudhary, ein alter weiser Mann im roten Turban.

1994 veröffentlichte Orijit Sen „River of Stories", was heute als die erste Graphic Novel Indiens gilt und höchstens noch archivarisch erhältlich ist. Nach „River of Stories" gab es weitere Graphic Novels - Sarnath Banerjees „Corridor" (2004), Amruta Patils „Kari" (2008) oder Vishwajyoti Ghoshs „Delhi Calm" (2010) -, die man jedoch an einer Hand abzählen kann.

Comics stehen meist in der Kinderabteilung

Comics sind in Indien äußerst schwer zu finden. Spezialisierte Läden gibt es nicht, manch gut sortierte Buchhandlung hat ein paar Comics, meist zu finden in der Kinderabteilung.

Dass Comics in Indien nach wie vor als Kinderkram abgetan werden, hat viel mit der Comic-Reihe „Amar Chitra Katha" zu tun. Mit Götterfiguren wie Krishna, Shiva oder Vishnu vermitteln deren Geschichten hinduistische Mythologie - und jeder in Indien kennt sie. Geschaffen von Anant Pai, erinnern die unterhaltsamen Geschichten mit bunten Zeichnungen stilistisch an Asterix und Obelix.

Herrscherträume. So sieht Kruttika Susarla die Regierungschefs Trump und Modi. Foto: Politricks

Für Kruttika Susarla sind die Veröffentlichungen von Amar Chitra Katha Propaganda. Die Künstlerin ist eine der talentiertesten Stimmen der indischen Comic-Szene. Kruttika kommt aus Südindien, wo die Menschen tendenziell eine dunklere Hautfarbe haben und wo viele Christen leben.

„Als Kind habe ich Amar Chitra Katha nicht hinterfragt. Aber eigentlich sind diese Geschichten nordindischer Imperialismus, mit ausschließlich hellhäutigen Frauen und Hindu-Mythologie", sagt die junge Frau in einem Café im Süden Delhis. „Als ich in meinem Designstudium die Konzepte hinter Darstellungen verstand, erkannte ich auch, dass nichts, was ich als Kind in diesen Comics gelesen habe, mich repräsentierte. Ich glaube, so geht es vielen, die derzeit Comics machen: Wir versuchen, unsere eigene Realität zu zeichnen."

Ständige Anfeindungen und Hasskommentare

Vielfalt, verschiedene Comic-Realitäten - darum geht es der Zeichnerin. Auch Kruttikas Karriere als Comic-Zeichnerin begann aus Wut über gesellschaftliche und politische Umstände.

Wie Rachita Taneja kommentiert auch Kruttika das aktuelle Geschehen kritisch in einem Webcomic. „Politricks"soll die Tricksereien der Mächtigen entlarven. Die unverwechselbar ausdrucksstarken, farbenprächtigen Strips veröffentlicht sie auf Instagram und Twitter, auf Englisch und Telugu, ihrer Muttersprache, die im Süden Indiens gesprochen wird.

Beide Künstlerinnen sind ständigen Anfeindungen und Hasskommentaren ausgesetzt. „Ich werde von Unterstützern der Regierungspartei BJP bedroht. Die BJP hat ein Heer von Freiwilligen im Netz, die mich mit Mord- und Vergewaltigungsdrohungen bombardieren", berichtet Rachita Taneja am Rande eines Comic-Workshops in Bangalore. Und schiebt hinterher: „Aber abgesehen davon gab es bisher nichts Ernsthaftes."

Im vergangenen Jahr gaben ihnen die Abriegelung von Kaschmir durch die Regierung sowie das neue Einwanderungsgesetz, das Muslime diskriminiert, ausreichend Stoff für ihre Web-Comics. „Ich mache meine Comics auch wegen der Regierung, die aktuell an der Macht ist, und wegen des offensichtlichen Machtmissbrauchs", sagt Kruttika Susarla. „Weil viele Journalisten nicht tun, was sie tun sollten, nämlich den Mächtigen die Wahrheit entgegenzuhalten, machen das eben wir Künstlerinnen und Künstler."

Bei regelmäßiger Instagram-, Twitter- und Facebook-Lektüre ihrer Kanäle kann man tatsächlich viel über das aktuelle Geschehen in Indien lernen. Rachita Taneja und Kruttika Susarla bringen Perspektiven ein, die in den traditionellen indischen Zeitungen oft ausgespart werden.

Unsere Autorin Anne-Sophie Schmidt hat 2019 für drei Monate als Stipendiatin des Programms „Media Ambassador India-Germany" der Robert-Bosch-Stiftung in Indien recherchiert.
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