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Vom Fensterputzer zum Physiker

Ausgezeichnet: Cihan Ayaz (M.) mit dem Vorsitzenden der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin, Prof. Dr. Martin Wolf (r.), und Siemens-Manager Adrian Grasse (l.). Bildquelle: Physikalische Gesellschaft zu Berlin e. V.

Cihan Ayaz brach die Schule ab und arbeitete acht Jahre als Gebäudereiniger, dann holte er sein Abitur auf dem zweiten Bildungsweg nach und studierte Physik – gerade wurde er für das beste Masterstudium ausgezeichnet

Wenn Cihan Ayaz unglücklich ist, sieht er sich Bilder von früher an: Einmal hat er sich bei minus 20 Grad in seiner Fensterputzer-Montur fotografiert, Eiszapfen hängen an seinem Köcher. „Ich vermisse meinen alten Job nicht“, sagt der Physikdoktorand heute. „Es war körperlich sehr belastend, und viele Leute blicken auf einen herab.“ Seine Arbeit als Doktorand empfindet er als Privileg: „Ich arbeite und forsche selbstständig, kann mir meine Zeit selbst einteilen. Das ist wahnsinnig viel Freiheit.“


Eine Freiheit, die sich der 36-Jährige in den vergangenen acht Jahren zäh erarbeitet hat. In der 11. Klasse brach Ayaz die Schule ab. Wegen familiärer Probleme zu Hause wollte er finanziell auf eigenen Beinen stehen. „Der Plan war, dass ich das Abi später nachhole.“ Zunächst fing er bei McDonalds an. Nach zehn Monaten Burgerbraten wechselte er zu einem großen Unternehmen und verdiente sein Geld als Reinigungskraft. Dort absolvierte er eine dreijährige Ausbildung zum Gebäudereiniger und arbeitete anschließend vier Jahre als Fensterputzer.


Mit 28 Jahren wieder in die Schule

Weil seine Freundin ihn ermutigte, ging er mit 28 Jahren wieder zur Schule. „Ganz allein aus mir heraus hätte ich es vielleicht nicht gemacht, weil mir damals das Selbstvertrauen fehlte.“

Die Zeit am Kolleg Schöneberg sei zunächst nicht einfach gewesen: Schule hatte sich ihm durch seine frühere Erfahrung als großes Scheitern eingebrannt. Drei Jahre später erlangte er, als Jahrgangsbester, die allgemeine Hochschulreife. Sein Lehrer Wilhelm Hansen, ein promovierter Physiker, hatte Cihan Ayaz‘ Interesse für Physik bemerkt und ihn gefördert: „Bei Herrn Hansen habe ich Physik mögen gelernt.“ Dass man mit einer Gleichung einen Zustand erfassen und etwas vorhersagen kann, was dann auch eintritt, habe ihn begeistert. Wilhelm Hansen machte ihn auch auf das vom Bundesministerium für Bildung und Forschung finanzierte Aufstiegsstipendium für ein Studium aufmerksam, half seinem Schüler bei der Bewerbung – und ist bis heute ein guter Freund.


Angst, es nicht zu schaffen, trieb ihn an

Für jemanden, der sich selbst als „couch potato“ bezeichnen würde, hat Cihan Ayaz erstaunlich viel in kurzer Zeit geschafft: Mit 31 begann er an der Freien Universität Berlin sein Bachelor-Studium der Physik. „Das Fachliche hat mir keine Probleme bereitet, aber es war schon sehr gewöhnungsbedürftig, als 31-Jähriger zwischen so jungen Leuten.“ Nach dem Bachelor-Abschluss schloss er direkt ein Masterstudium an.

Für den besten Masterabschluss in diesem Jahr wurde er vor wenigen Wochen mit dem mit 1000 Euro dotierten Studienpreis der Physikalischen Gesellschaft zu Berlin ausgezeichnet. Wie er das alles so erfolgreich hinbekommen habe? „Ich hatte immer Angst zu versagen“, sagt Cihan Ayaz. „Deswegen habe ich alles so konsequent durchgezogen. Das war natürlich sehr stressig, weil ich alles sehr gründlich gemacht habe.“

Etwas nicht zu verstehen motiviere ihn – keine schlechte Voraussetzung für einen Naturwissenschaftler. Im Studium sei er fasziniert gewesen von Themen, die manche vielleicht „komisch oder unverständlich“ fänden, wie beispielsweise Quantenphysik. Seit seiner Bachelorarbeit beschäftigt sich Ayaz mit der Physik weicher Materie, in seiner Masterarbeit untersuchte er die Dynamik von Proteinen. Daran wird er auch im Rahmen seiner Promotion weiterarbeiten. „Wenn ich mich mit einem Thema lange beschäftige, finde ich es auch interessant. Und wenn ich es interessant finde und es mir gefällt, sehe ich keinen Grund, etwas zu verändern.“ Man könnte das auch als die Vorzüge einer „couch potato“ bezeichnen.


Kein Druck, sich etwas beweisen zu müssen

Ayaz würde gerne in der Forschung bleiben, „aber mal sehen“. Seine Erfahrungen vor der Universität will er nicht missen, sie hätten seinen Charakter geformt. „Ich hatte nach jedem Schritt das Gefühl aufzusteigen: nach dem Abitur, dem Bachelor, dem Master. Deswegen empfinde ich keinen Druck, mir noch etwas beweisen zu müssen. Schon nach dem Abi dachte ich: ist doch jetzt schon toll.“

Im Studium habe er unter seinen jüngeren, beruflich nicht erfahrenen Kommilitoninnen und Kommilitonen oft Konkurrenz bemerkt. „Ich hatte eine ganz andere Haltung: Ich hatte keine Angst, schlechter als andere zu sein – ich hatte Angst zu scheitern. Bestanden zu haben, reichte deshalb immer.“


Freut sich aufs Reisen: „Ich kenne die Welt noch nicht.“

Ob er sich im Rückblick wünsche, dass manche Strukturen des zweiten Bildungswegs für Menschen wie ihn besser eingerichtet würden? „Bei mir lief es zu gut, ich habe meinen Frieden mit meinem Weg gemacht. Ich hatte immer riesiges Glück, die richtigen Menschen zu treffen. Nach dem Abitur war ich sehr dankbar, die Schule dank des Schüler-Bafögs ohne Schulden beendet zu haben. Und auch das Studium habe ich dank des Stipendiums ohne Schulden abgeschlossen.“

Er freue sich darauf, mehr zu reisen: „Ich kenne die Welt noch nicht.“ Ein schöner Nebeneffekt der Forschung sei ja, dass man an Konferenzen im Ausland teilnehmen könne. Bisher kenne er nur Deutschland und die Türkei, aus der er als Neunjähriger mit seiner Familie nach Deutschland migriert ist.

Seine alte Ausrüstung als Fensterputzer besitzt der Physiker noch: „Den Abzieher, den Köcher, das pflege ich alles und kaufe nach, wenn etwas kaputtgeht.“ Manchmal würden ihn Freunde anrufen und fragen, ob er ihre Fenster putzen könne, er erledige das doch so schnell. „Kein Problem“, sagt Cihan Ayaz dann.

Anne-Sophie Schmidt


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