Als Ayumi Saito zum ersten Mal nach Gerswalde kam, war es Winter. Am Berliner Hauptbahnhof hatte sie den Zug verpasst, weil sie das Gleis nicht fand. Sie war den Tränen nahe, als sie endlich im Regionalexpress saß. Als sie am Bahnhof Wilmersdorf ankam, war sie zwei Stunden zu spät. Ein großer, schlaksiger Mann wartete dort auf sie.
Im Auto sprachen sie nicht viel. Draußen vor dem Fenster zog die Landschaft vorbei, weißer Frost hatte das Braun der Felder überzogen wie ein Schleier, und zwischen den sanften Hügeln hing der Nebel. „In diesem Moment habe ich mich in die Uckermark verliebt", sagt Ayumi Saito.
Sie hielten vor einem rosafarbenen Gebäude in der Mitte des Dorfes, direkt vor der Kirche. Das ist das Café, sagte der Mann. Wir suchen jemanden, der es betreibt. Als Ayumi die Löwenstatue auf dem Dach entdeckte, wusste sie, dass sie bleiben würden. „Mein Sternzeichen", sagt sie, „ist Löwe." Es musste das Schicksal gewesen sein, dachte Ayumi Saito, das sie hierher geführt hatte.
Es ist ein weiter Weg von Tokio, wo sie zwei Jahre zuvor aufgebrochen war, um sich auf die Suche nach einem einfacheren Leben zu machen, nach Gerswalde, einem Ort mit neunhundert Einwohnern weit im Norden Brandenburgs. Von Berlin aus sind es knapp hundert Kilometer, nah genug also für einen Ausflug und gerade weit genug, um die Stadt für eine Weile zu vergessen.
Die Uckermark, ein SehnsuchtsortViele Jahre war es umgekehrt: Die Stadt hatte die Uckermark vergessen, hatte anscheinend einfach nicht gewusst, wie schön es hier ist, wie weit der Himmel und wie zauberhaft die Sonnenuntergänge über dem Oberuckersee. Eher war sie Synonym für die abgehängten Regionen Ostdeutschlands - die höchsten Arbeitslosenquoten, Neonazis, Landflucht -, aber zu dünn besiedelt, um wirklich ins Gewicht zu fallen. Die Uckermark interessierte niemanden, außer den einen oder anderen politischen Berichterstatter, der Angela Merkel nachspürte; die Kanzlerin wuchs in Templin auf, zwanzig Kilometer von Gerswalde entfernt.
Ein alter Film zeigt die Uckermark, wie sie lange war, Volker Koepp hat ihn Ende der 90er-Jahre gedreht. Vor seiner Kamera saßen Männer mit vom Wetter gegerbten Gesichtern, die dreimal ihr Land verloren hatten, im Krieg, in der Sechzigern, nach der Wende, wortkarg, verschlossen, und in der Uckermark verwurzelt wie die Kastanien, die die Landstraßen säumen.
Auch die von Arnims sind in dem Film zu sehen, die zweiundzwanzigste Generation, von denen ein paar zurückgekehrt waren, um die Güter ihrer Familie wieder aufzubauen; und Fritz Marquardt, einst Freund von Heiner Müller, Regisseur an der Volksbühne, der von Berlin auf einen Bauernhof gezogen war, um hier seinen Lebensabend zu verbringen.
Schon immer sind Menschen in die Uckermark gekommen, die mehr von der Welt gesehen hatten. In den Zwanzigern ließ sich ein bekannter Anthroposoph in Gerswalde nieder und eröffnete dort ein Kinderheim, nach 1945 kamen die Flüchtlinge, nach 1960 die Landarbeiter aus anderen Teilen Ostdeutschlands. Dann passierte lange nichts.
Die „Berliner Hamptons"Seit ein paar Jahren nun haben die Berliner die Uckermark entdeckt. Sie kaufen die verfallenen Höfe, richten sie her und gewinnen dafür Architekturpreise oder vermieten sie über Airbnb; Modedesigner, Filmemacher, Jazzmusiker, Tatort-Kommissare und Promiköche, sie alle zieht es hierher, aufs Land. In Böckenberg haben junge Leute einen alten LPG-Wohnblock gekauft und lassen dort Künstler residieren. Und im Frühjahr 2015 hat die Japanerin Ayumi Saito das Café zum Löwen in Gerswalde übernommen.
Die Uckermark ist ein Sehnsuchtsort für Stadtmenschen geworden. Und die Neuen machen es sich hier nett. Das hat sich herumgesprochen. Irgendwer hat die Uckermark die „Berliner Hamptons" getauft. Und Gerswalde ist dabei, so etwas wie das uckermärkische Montauk zu werden.
Nun ja, fast. Berlin ist nicht New York, und die Uckermark liegt nicht am Meer. Aber trotzdem: Die Großstädter suchen etwas in der Uckermark, ein Gefühl zwischen Naturverbundenheit, Ursprünglichkeit und Freiheit. Pur wäre das natürlich kaum auszuhalten. Deshalb brauchen sie jemanden, der diese Gefühl für sie portioniert und hübsch verpackt - als guten Kaffee im wilden Garten zum Beispiel.
Jeden Freitag steigt Ayumi Saito in Alt-Treptow in ihr Auto, das sie sich inzwischen gekauft hat, auf dem Beifahrersitz sitzt ihre Freundin Sayuri Sakairi, auf dem Rücksitz zwei weitere Freundinnen. Das letzte Stück Autobahn auf dem Weg nach Gerswalde ist gesäumt von Kiefern, deren schlanke Stämme das Sonnenlicht flirren lassen, es führt über kleine Flüsse und vorbei an Wiesen, auf denen Pferde grasen.
Hinter der Abfahrt Pfingstberg zieht sich die Landstraße über die Hügel, jetzt im Sommer wölben sich die Bäume zu einem Tunnel, dann wird der Blick weit, über den Kornfeldern hängen die Wolken wie gezupfte Watte am Himmel, und am Straßenrand blüht der Mohn.
Am frühen Nachmittag erreichen die Frauen Gerswalde. Dann stehen sie in ihrer Küche, sie backen und kochen bis in den späten Abend hinein, ein Dutzend Kuchen, zwei große Töpfe mit Curry, eines vegetarisch, eines mit Fleisch, Ayumi denkt sich die Rezepte aus, Sayuri behält die Uhr im Blick. Dann gehen sie schlafen, zu viert in einem kleinen Zimmer über dem Café.
Onigiri und CurryEs ist ein Samstagmorgen im Mai an einem dieser Wochenenden, für das der Wetterbericht schon seit Montag Sonne und dreißig Grad vorhersagt. Hinter den Scheiben des Landmarktes Franz Gittel an der Kirche ist es dunkel, den Döner Istanbul nebenan gibt es schon länger nicht mehr, nur das Schild hängt noch, die Tür des Friseursalons Pretty Woman ist geschlossen.
In der Küche gießt Sayuri Kaffee in eine Glaskaraffe. Es ist ihr vierter Sommer in Gerswalde. Sie sind vom rosafarbenen Haus mit dem Löwen auf dem Dach in den Garten um die Ecke gezogen, der früher, als die von Arnims Herren über Gerswalde waren, zum Schloss gehörte.
Das Café liegt jetzt in einem alten Palmenhaus, ein einfacher Tresen, auf dem Sayuri eine Decke gebreitet hat, die mit roten Löwen bestickt ist, eine lange Tafel, über der ein Ast von der Decke hängt, der mit Robinienblüten geschmückt ist, ein offener Durchgang führt in die Küche.
Ayumi beugt sich über die Töpfe auf dem Herd, lässt eine Handvoll Korianderblätter hineinfallen, rührt, wischt sich die Hände in ihrer Schürze ab, darunter trägt sie ein braunes Kleid mit Puffärmelchen, ihre Füße stecken in ausgetretenen Reebok-Sneakern. „Wir sind sehr stolz auf unser Curry", sagt sie. „Wir bekommen viele Komplimente."
In den ersten Monaten hatten sie es mit Croissants und Zimtschnecken versucht. Es gibt keinen Bäcker im Dorf. Aber niemand kam. Da hatten sie die Idee mit dem Curry. Und den Onigiri, Bällchen aus klebrigem Sushireis, so groß, dass sie gerade in eine Hand passen - einfaches Essen, aber unverkennbar japanisch.
Sie brachten ein Stück ihrer Kultur nach Gerswalde, vermengten sie in ihren Töpfen mit der Uckermark, Kumin und Zimt, Fischsoße und Misopaste mit Zwiebeln und Zucchini aus dem Garten. „Curry", sagt Ayumi, „funktioniert überall auf der Welt, die Variationen sind endlos wie das Universum. Curry ist Unendlichkeit." Die Uckermärker würden es Eintopf nennen.
Von Tokio nach GerswaldeAyumi Saito wurde im Süden Japans geboren, sie wuchs am Meer auf, das dort die gleiche Farbe hat wie in der Karibik. Sie liebte die Tamagoyaki ihrer Großmutter, gerollte Omeletten, die mit Sojasoße und etwas Zucker abgeschmeckt werden. Als sie mit der Schule fertig war, ging sie nach Tokio, sie arbeitete in der Modebranche, ihre Tage hatten zwölf Stunden, so ist das üblich in Japan, ihr Geld gab sie für Kleidung aus.
Sie ging für zwei Jahre nach London, arbeitete weiter wie verrückt, ging zurück nach Tokio. „Irgendwann war ich so müde", sagt Ayumi, „und nach dem Erdbeben wurde die Stadt noch irrer als zuvor." Der rasante Wiederaufbau, die Lügen der Regierung über die radioaktive Strahlung in Fukushima. Als Freunde ihr aus Berlin schrieben, komm doch her, packte sie ihre Sachen in zwei Koffer und stieg in den Flieger.
In Tokio hatte sie am Ende für einen Cateringdienst gearbeitet, der Essen an alte Menschen lieferte; in Berlin fand sie anfangs einen Job in der Küche eines koreanischen Restaurants. Kochen bereitet ihr Freude. „Es ist für mich ein Weg, mich auszudrücken", sagt sie. In Japan wurde sie dazu erzogen, Gefühle für sich zu behalten, sie gehören ins Private, nicht in die Öffentlichkeit. „Also suchen wir uns andere, oft kunstvolle Wege, um Gefühle zu zeigen, und für mich ist Kochen einer der ehrlichsten und direktesten."
Sie lernte den philippinischen Künstler Pepê Dayaw kennen. Im Agora Collective, einem Kunstraum in Neukölln, traten sie zusammen mit einer Performance auf, die Essen mit Kunst verband, Ayumi kochte ein Gericht aus Lebensmitteln, die die Besucher mitbrachten, dann machte Pepê Musik. Die Idee war, dass Menschen Kunst anders wahrnehmen, wenn sie zusammen gegessen haben - verbunden durch das gemeinsame Mahl, statt jeder für sich. „Ein gutes Essen", sagt Ayumi, „kann den gleichen Genuss bedeuten wie ein gutes Buch oder eine Sinfonie."
Im Agora Collective traf Ayumi auch Sayuri, eine Haarstylistin, die Tokio kurz nach Ayumi verlassen hatte. Die Stadt hatte ihr auf ganz ähnliche Weise zugesetzt. „Alles in Tokio ist aus Plastik", sagt Sayuri, „ich war auf der Suche nach einem Leben mit echten Dingen." In Berlin kam ihr alles so unfertig vor, das gefiel ihr. Die beiden Frauen verstanden sich sofort. Sayuri schnitt Ayumi die Haare. Und Ayumi nahm Sayuri als Unterstützung mit, als die Filmregisseurin Lola Randl sie bat, das Catering bei der Premiere ihrer Dokumentarserie „Landschwärmer" zu übernehmen.
„Hier ist so viel los", sagt Lola Rand und blickt auf die windschiefen Gartentische vor dem Café, alle sind besetzt. „Dabei bin ich eigentlich mal aufs Land gezogen, weil ich meine Ruhe haben will."
Leute laufen durch den Garten die Terrassen entlang und zum Wald hinunter, staunend, fast ehrfürchtig - wie schön das alles ist, wie echt. Eine Familie hat ihr Baby auf eine bunte Decke gesetzt, die Mittdreißiger am Nachbartisch - die Männer in Chinohosen, die Frauen mit großen Sonnenbrillen - halten ihre Smartphones hoch, dabei ist es hoffnungslos, der Empfang reicht hier nicht für Instagram.
Eigentlich eine gute Nachricht für all die Großstädter, die hier Ruhe suchen. Aber das Café zum Löwen ist ein Ort, den man unbedingt teilen will. Und genau das wird langsam zum Problem. Ayumi und Sayuri tragen Teller mit Cappuccino und Käsekuchen auf riesigen Tabletts an die Tische, tippeln rein und raus, rein und raus.
„Irgendwie ist das ja alles meine Schuld", sagt Lola Randl. Sie ist eine große Frau mit langen Schritten, sie trägt eine Brille mit dickem Rand, dazu Budapester. Sie läuft vorbei am Verkaufstresen der Forellenräucherei Glut & Späne, die aus der Markthalle Neun in Kreuzberg hierher gezogen ist und die noch mal so viele Mittagsgäste hat wie das Café, durch das Tor zurück Richtung Marktplatz, wo die VW-Busse parken, direkt vor dem rosafarbenen Haus mit dem Löwen auf dem Dach. Dort wohnt Lola Randl, es ist ihr Haus, und es ist ihr Garten.
Wirbel in der UckermarkSeit vier Jahren wohnt sie in Gerswalde. Am Anfang wollte sie das Café noch selbst betreiben. Aber ihre Kinder waren klein, sie drehte die Dokuserie fürs ZDF, dann den Kinofilm „Fühlen Sie sich manchmal ausgebrannt und leer?". Und dann war da noch der Garten. Auch der ist jetzt in einem Film zu sehen, Lola Randl stellt darin die Frage, was passiert, wenn Utopien wahr werden, wenn die Sehnsucht gestillt wird.
Es ist ihre eigene Geschichte, die sie da erzählt, von ihrer Suche nach dem Glück auf dem Land und ihrer Liebe zu zwei Männern, dem Kameramann Philipp Pfeiffer, dem Vater ihrer Kinder, und dem Filmproduzenten Bernd Frauenholz, der Hüne, der Ayumi damals vom Bahnhof abholte. „Von Bienen und Blumen" hatte gerade auf dem Münchner Filmfest Premiere.
Der Film endet damit, dass Ayumi auf dem Marktplatz in Gerswalde steht und Fotos mit einem Smartphone in quietschbunter Hülle schießt. Die Japanerinnen kamen, als Lola Randl schon eine Weile für Wirbel in der Uckermark gesorgt hatte. An den Wochenenden hatte sie Freunde zum Arbeiten in den Garten eingeladen.
Musiker, die ihre Synthesizer ins Gras stellten und schräge Klänge über den Acker schickten, DJs, Journalisten, Künstler aus Berlin und von überall her; sie war für ihre „Landschwärmer"-Serie über die Dörfer gezogen und hatte die neuen Uckermärker beim Angeln gefilmt und die alten Uckermärker beim Hühnerrupfen. Auch Pepê, Ayumis Kochkunstfreund, ist in einer Folge zu sehen - wie er mit der Begeisterung eines Kindes ein riesiges Omelette aus einem Straußenei zubereitet.
Lola Randl hatte schließlich auch noch den alten Bahnhof in Wilmersdorf gekauft, als sie hörte, dass er versteigert werden sollte. Dort feierte sie die Premiere der „Landschwärmer". Und Ayumi kochte dazu ein knallpinkes Curry aus Roter Bete und die japanische Variation eines Lamm Stroganoff - für zweihundert Leute.
„Es hat mich damals beeindruckt, wie die beiden das durchgezogen haben", sagt Lola Randl, „mit was für einer Ruhe, mit welcher Disziplin." Auch deshalb hatte sie es für eine gute Idee gehalten, Ayumi und Sayuri das Café betreiben zu lassen. Auch weil sie diese Art haben, dieses Feine, Dekorative, das aus dem Rauen der Uckermark etwas Kunstvolles entstehen lässt wie ein Kalligrafiestrich auf Pergament.
Der Zauber des Ortes ist bedrohtIrgendwann ist das Café an diesem Tag so voll, dass Sayuri mit den Bestellungen durcheinander kommt. Sie schreibt alles in winziger Schrift auf Papierschnipsel, die sie sorgfältig auf dem Tresen aufreiht. Es dauert alles länger als in einem Café in Berlin-Mitte. Ein Mann wird wütend und schmeißt einen Teller mit Kuchen um.
Abends sitzen sie zusammen, die Japanerinnen, Lola, Michael von der Forellenräucherei. Sie reden darüber, dass es schwierig wird, wenn die Leute erwarten, hier eine professionelle Gastronomie vorzufinden. Der Hype droht, den Zauber des Ortes zu vertreiben, das Unperfekte, die Einfachheit, die Leichtigkeit.
Am Montag schreibt Lola Randl eine E-Mail: Sie haben zusammen beschlossen, dass sie erst mal keine Berichte mehr in den Brandenburgführern und Zeitungen wollen, diesen noch, aber dann brauchen sie eine Pause.
Es ist nicht so, dass es Lola Randl keinen Spaß macht, mitanzusehen, wie das, was sie vor ein paar Jahren begonnen hat, wächst. „Wie ein Garten", sagt sie. Sie muss dafür nicht mehr viel tun, es läuft von ganz allein. Ein Pärchen aus Berlin hat in den Räumen im rosafarbenen Haus eine Galerie aufgemacht, dazu haben sie eine Druckerei gegründet, an den Wochenenden geben sie Kurse für Risografie-Drucke, in der Woche nehmen sie immer öfter Aufträge aus dem Dorf an.
Die Bewirtschaftung des Gartens hat Johanna Häger übernommen - noch so eine Berlinerin, die in die Uckermark gezogen ist -, seit ein paar Jahren schon beackert sie einen Permakulturhof in Gerswalde, jetzt hat sie mehr als 25 000 Euro auf einer Crowdfunding-Plattform eingesammelt, damit will sie eine professionelle Gärtnerei aufbauen. Regelmäßig gibt es Ausstellungen, im Café und in der Galerie.
Es verändert sich etwas im Dorf, das auch unter der Woche zu spüren ist. Aber noch ist das nicht viel. Lola Randl ist damals in die Gemeinderatssitzung gegangen, hat den Gerswaldern erzählt, was sie vorhat, mit dem Café, mit dem Garten. Und die Gerswalder?
Die Bürgermeisterin„Ich sage den Leuten immer: Geht doch mal hin, schaut euch das an", sagt Monika Thomas. Sie ist seit knapp zehn Jahren die stellvertretende Bürgermeisterin von Gerswalde, eine kleine Frau mit festem Händedruck und kurzen blonden Haaren, die eher aussieht wie sechzig als wie siebzig. „Es kann ja nur den Blick öffnen, dass man hier auch andere Gesprächspartner hat, sich mal auszutauschen darüber, wie die Welt beschaffen ist. Aber das fällt so manchem Gerswalder schwer."
Es ist ein Freitagvormittag, Ayumi und Sayuri sind noch in der Stadt. Monika Thomas sitzt auf der Veranda oberhalb der großen Freitreppe des Schlosses. Im 19. Jahrhundert hatten es die von Arnims so hergerichtet, wie es heute noch steht, mit einem breiten Mansardendach und einem herrschaftlichen Balkon über dem Eingang, den eine lateinische Inschrift ziert: Nichts ist besser, nichts eines freien Mannes würdiger als Ackerbau.
Dem letzten von Arnim, der dort gelebt hatte, wurde allerhand nachgesagt: Glücksspiel, Frauen, Spekulationen. 1929 kaufte ein anthroposophischer Verein das Anwesen und richtete dort ein Heil- und Erziehungsinstitut für Kinder und Jugendliche ein, die in der damaligen Gesellschaft gemeinhin als „Bekloppte" galten. Die Anthroposophen nannten sie „seelen-pflegebedürftig". In Gerswalde hatten Andersdenkende schon immer ihren Platz.
Heute leben um die vierzig Jugendliche im Jugendheim, unter ihnen sind ein paar unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Vergangenes Jahr soll einer von ihnen in einer Whatsapp-Nachricht an seine Mutter vom „Dschihad" gesprochen haben, die Polizei holte ihn ab, ein paar Tage lang war Gerswalde bundesweit in den Schlagzeilen. Am Ende fanden die Behörden nichts.
Mit Terroristen hat es Monika Thomas sonst eher selten zu tun. Sie kümmert sich um das, was sie „Daseinsvorsorge für die Einwohner" nennt: um die Kita und die Schule, die Straßen und Wege, die Bürgersteige. Die Bürgersteige! Die sind den Gerswaldern wichtig, sie sind so eine Art Aufnahmekriterium für Neuankömmlinge. Die müssen auch mal gefegt werden, sagt der Bürgermeister gerne, der dafür bekannt ist, mit einem Trabi durchs Dorf zu fahren, auf dem hinten ein Schriftzug prangt: Na und?
Die Sterne am HimmelMan kann so etwas leicht unterschätzen, wenn man aus der Stadt kommt. Monika Thomas versteht das. Sie ist selbst so eine Zurückgekehrte. Sie ist in der Uckermark geboren, 1967 heiratete sie und ging mit ihrem Mann nach Berlin. Viele Jahre lebte sie am Alexanderplatz, bis sie von ihrem Fenster in der Memhardstraße aus die S-Bahn nicht mehr sehen konnte, alles zugebaut. Da beschlossen sie und ihr Mann, zurück aufs Land zu ziehen. „In der Uckermark siehst du so viele Sterne am Himmel", sagt Monika Thomas. In der Stadt kann man schon mal vergessen, dass es Sterne überhaupt gibt.
Sie hat in ihrem Leben vieles ausprobiert, in der Grundschule Musik und Kunst unterrichtet, nach der Wende noch mal studiert, Umweltbildung, dann ein Asylbewerberheim in Hohenschönhausen geleitet. Sie war in der FDJ, in der SED, in der PDS und ging dann in Gerswalde für die Linke in den Gemeindevertretung.
Heute kümmert sie sich um die Ein-Euro-Jobber in der Wasserburg, um die Bibliothek und neue Geräte für den Spielplatz, und wenn in Gerswalde ein Kind geboren wird, bringt sie eine Karte und einen Gutschein für das erste Paar Schuhe vorbei. Noch ziehen mehr Leute weg und es sterben mehr alte, als dass Kinder geboren werden und neue Menschen hierherziehen, sagt sie, aber es werde jedes Jahr besser.
Und seit immer mehr Neue kommen, wird Digitalisierung ein immer größeres Thema für das Dorf. Bis 2020 sollen in der Uckermark über vierhundert Kilometer Glasfaserkabel verlegt werden. Besonders stolz aber ist Monika Thomas auf die Broschüre, die sie jedes Jahr neu machen lässt, ein Verzeichnis aller wichtigen Adressen im Dorf.
Die Galerie, die Druckerei, das Café zum Löwen stehen jetzt auch darauf. „Schauen Sie mal", sagt sie und hält das luftig bedruckte Faltpapier hoch, „die haben jetzt sogar eine Bar, Paradieschen heißt die." Monika Thomas lacht. „Das ist vielleicht ein großes Wort, da gibt es einfach Wein, Bier und Musik." Sie war schon da. Mehr als ihren Dorfbewohnern Mut zu machen, es ihr nachzutun, kann sie nicht.
Vom Umgang mit UnterschiedenEin paar Wochen später, aus dem warmen Frühling ist ein heißer Sommer geworden. Die Felder sind blass und ausgedorrt. Die Robinienblüten über der langen Tafel im Gartenhaus sind längst getrocknet. Ayumi hat Karaffen mit Wasser neben den Tresen gestellt, in der einen Salbeiblätter und Limettenscheiben, in der anderen Johannisbeeren und Fenchelkraut.
Johanna vom Permakulturhof hat gerade eine Kiste mit Gemüse vorbeigebracht, Karotten und Lauchzwiebeln, bunter Mangold und violette Kartoffeln. Und auf dem Klavier in der Ecke liegt aufgeschlagen Yann Tiersens „La Valse d'Amélie".
Am Wochenende zuvor ist ein Sturm über Gerswalde gezogen. „Niemand kam", sagt Sayuri. Sie haben die Zeit genutzt, zu renovieren, das Gesundheitsamt war da, jetzt sind die Wände in der Küche nach Vorschrift gefliest und abwaschbar, der Boden gestrichen.
An diesem Julimorgen scheint die Sonne wieder. Draußen auf dem Marktplatz ist Feuerwehrfrühschoppen. Es gibt Bier und Streuselkuchen, dazu spielt die Schalmeienkapelle Rossow, zwei Dutzend Martinstrompeten und Trommler, im Repertoire Hits aus vier Jahrzehnten. Eine Hüpfburg versperrt den Weg zum Garten. Die Schalmeienkapelle spielt „The Final Countdown".
Im Garten verzieht Ayumi das Gesicht: „Ein bisschen zu laut, oder?", sagt sie. In der ersten Saison waren sie zu beschäftigt, um sich Gedanken über das Dorf da draußen zu machen. Inzwischen verkaufen sie ihr Curry im September auch auf dem Stoppelfest. Die Gerswalder kommen dann neugierig an ihren Stand. Ins Café kommen sie selten.
Und vielleicht ist das auch ganz okay so. Lola Randl sagt: „Ist es nicht gerade die Aufgabe eines Dorfes, mit Unterschieden umzugehen und den anderen zu akzeptieren?" Gerade weil man sich hier so nahe kommt, ob man will oder nicht; weil Unterschiede viel offener zutage treten, wenn es keine Anonymität gibt.
Für den Nachmittag hat sich eine Geburtstagsgesellschaft mit dreißig Gästen angekündigt. Es ist viel zu tun. Ayumis Tage haben an den Wochenenden noch immer zwölf Stunden, manchmal mehr, wie damals in Tokio. Sie ist abends erschöpft, aber anders, nicht im Kopf, sondern in den Beinen. Es ist ein gutes Gefühl.
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