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molos Geheimtipp: XXL-Pudding in der Wildeshauser Geest

Seit Corona ist der Spaziergang für viele nicht nur zu einer Strategie der Anti-Lockdown-Langeweile, sondern bereits zum Alltagsritual geworden. Bei dem Gang durchs Grüne, zwischen Wiesen und Wälder ist es möglich den vier immer gleichen Wänden zu entfliehen. Als Bremer:in fallen einem Ziele wie Bürgerpark, Knoops Park oder Dammsiel ein. Auch wenn sie in der Nähe des Zentrums liegen, haben sie häufig eine Gemeinsamkeit – Menschenmassen, die sich durch die Fußgängerwege schieben und einen mit ihren OP-Masken in das Hier und Jetzt zurück holen. Kindergeschrei oder Fahrradklingeln verdrängen die Stille. Aber bei einem kleinen Roadtrip über die Stadtgrenzen hinaus können die Gedanken wieder schweifen – weit weg von denen, die sich durch Corona-Nachrichten in Dauerschleife einkesseln lassen.


von Anne-Kathrin Oestmann


40 Kilometer südwestlich von Bremen liegt der Naturpark Wildeshauser Geest. Dieser erstreckt sich über eine Fläche von über 1,5 Hektar. Mit dem Auto fährt man eine halbe Stunde über die A28 und A1 Richtung Osnabrück. Über die Stefaniebrücke vorbei an Brauerei Becks & Co und seinen hunderten Bierkästen, die aufeinander gestapelt vor dem Industriegebäude stehen und von Stacheldrahtzaun umgeben sind. Vorbei an den Lärmschutz aus Plastik, der an der Leitplanke in die Höhe ragt und den Containern, die zu siebt neben der Autobahn als Werbefläche dienen - „Miet mich! 160 m²“. Nach der einen und anderen Weggabelung kommt man auf Landstraßen, die an grünen Flächen, Äckern, Bauernhöfen, neben Pferden und Kühen auf Wiesen vorbei führen. Der Verkehr beruhigt sich. Mit 40 Stundenkilometer folgt man einem Traktor. An den Straßenrändern stehen Holzbuden und Plakate, die mit „Kartoffeln und Spargel“ oder „Frische Eier und selbstgemachte Marmelade“ werben. Hin und wieder tauchen leere Blumenfelder auf. Mit einem kleinen Stand, an der eine Preisliste gepinnt, Metallbüchse mit Schlitz angekettet und Messer ausgelegt sind.


In dem niedersächsischen Landkreis Oldenburg südlich von Delmenhorst liegt die Gemeinde Harpstedt. Das Dorf hat alles was es braucht – ein Schwimmbad, eine Kirche, einen Italiener und Friseur. Zudem findet man hier auch einen Dönerladen. Mit zwei Kebab to go auf dem Rücksitz, in Alufolie eingewickelt, Schafskäse statt Hähnchenfleisch und Aioli-Soße geht es quer durch ein Waldgebiet, an einer Dachdeckerei vorbei zu der Kreuzung mit Parkbank und Mülleimer. Mit Blick über ein Kartoffelfeld unter Birken und Kiefern, von Feldern umgeben kann man mit Genuss in das Brot beißen – gefüllt mit Rotkohl, Zwiebeln, Tomaten und Petersilie. Nach dem Snack geht es los. Zu Fuß an den Feldern und Äckern entlang. Vereinzelt stehen Waldgebiete auf den Wiesen. In Reih und Glied wachsen die Tannen neben einander. So dicht, dass die Nadeln der Baumkrone kein Licht auf den von Moos und Geäst überdeckten Waldboden fallen lassen. Inmitten der 15 Meter hohen Baumstämme, dessen nackte Äste wie Arme herausstechen, ist es dunkel. Wie auf Watte geht man zwischen sie hindurch. Jeder Schritt gibt ein Laut von sich, wenn morsche Äste zerbrechen. Doch hält man inne und lässt den Kopf in den Nacken fallen, scheinen die Tannen zu sprechen. In der Höhe immer dünner werdend, bewegen sie sich mit dem Wind und knartschen wie Türen.


Mit Glück sind Rehe auf den Wiesen zu entdecken. Wenn sie merken, dass sie gesehen werden, stehen sie im ersten Moment wie eine Statue da. Bewegen weder Kopf noch Fuß. Bis sie entweder mit Sprüngen in das nächste Waldgebiet zu sprinten oder weiter zu Grasen. Einige Wege sind mit Asphalt überzogen und schlängeln sich um die rechteckigen Felder, wo Gemüse oder Süßgräser angebaut werden. Entlang laufen Wassergraben und Bäche, die im Gefälle über Steine plätschern. Unter Hochstühlen wachsen Himbeersträucher. Hinter zig Gabelungen verbirgt sich ein Sonnenblumenfeld. Wie Kartenhäuser, die bei dem nächsten Windstoß zusammen fallen könnten, steht der eine oder andere Schuppen am Wegesrand. Die Grundmauern sind mit Rissen übersät. Wände aus Holzplanken neigen sich zu einer Seite. Das Dach hängt durch. Eine Szenerie, die dem Familienhaus aus Charlie und die Schokoladenfabrik, der Neuverfilmung aus dem Jahre 2005 mit Johnny Depp in der Hauptrolle als Willy Wonka, ähnlich sieht.


Um den Feldern herum, lässt sich ein XXL-Pudding laufen. Aus der Ferne hört man das eine oder andere Auto, welches auf der Landstraße mit 100 Stundenkilometer durch die Kurven fährt. Ab und zu kommen Traktoren entgegen, die über den Acker fahren, den Boden pflügen und Saat aussehen. Oder Radfahrer:innen, die in einem Body, so eng wie ein zweite Haut und neongelb strahlend, gebückt über dem Lenkrad verharren. In der Geest ist die Stille zu Hause. Nur eines ist hier so laut, wie der Großstadtlärm – die Vögel. Sieben Arten singen ihre Melodien im Kanon. Und der Wind, wenn seine Böen durch die Tannen strömen oder verwelkte Blätter, wie ein Klangspiel beginnen lassen, zu musizieren. Nichts mehr als Weite ist zu sehen – eine Entspannung für die Augen. Aber nicht nur für die Augen. Von all den Reizen umgeben, einer kalten Brise um die Nase vergisst man förmlich, wie die vier immer gleichen Wände zu Hause ausgesehen haben und dass die Welt seit geraumer Zeit scheinbar zum Stehen gekommen ist.