Noch immer zeigt das Kalenderblatt auf dem Schreibtisch des Berliner Arztes Klaus Eyrich 2013, das Jahr, in dem er starb. Nie sei es seiner Frau Rosemarie eingefallen, die Schubladen und Regale in seinem Arbeitszimmer zu durchstöbern. Auch jetzt, fünf Jahre nach seinem Tod, fällt es ihr schwer.
Die 88-Jährige tritt ans Fenster, durch das kurz vor Weihnachten 2018 fahles Winterlicht scheint, und schließt die Augen. „Ich bin froh, dass er das nicht mehr erleben muss", sagt sie.
Es - das ist die Aufarbeitung von all den Dingen, die Klaus Eyrich seiner Frau Rosemarie in fünfzig Jahren Ehe womöglich verschwiegen hat.
Über seine Jugend in Stuttgart und das, was seine Mutter, die Ärztin und Kinderbuchautorin Hedwig Eyrich, Kindern und Jugendlichen während der NS-Zeit angetan hat.
Drei Monate später, im Februar 2019, sitzt 650 Kilometer von der Villa der Eyrichs in Berlin entfernt eine zweite Frau in ihrem kleinen Wohnzimmer und drückt die schmalen Lippen zusammen. Vor Klara Häffelin auf der Blümchentischdecke liegt ein Blatt Papier, das sie noch nie gesehen hat.
Es ist das einzige Dokument, das Auskunft gibt, wer an der Ermordung ihrer Schwester vor 76 Jahren beteiligt war.
Kapitel I
Am 30. Januar 1948 schickt Psychiaterin Hedwig Eyrich einen Brief an die Spruchkammer 3 in Stuttgart...