Von Anna-Maria Deutschmann
Der französische Nationalfeiertag am 14. Juli war mit Konzerten, Feuerwerken und Veranstaltungen bis spät in die Nacht der wohl fröhlichste Tag des Jahres in Frankreich. Bis gestern. Wieder einmal wird die französische Nation von einem mit zahlreichen Toten erschüttert. Diesmal trifft es das Herz der Côte d'Azur, die beliebte Touristenstadt Nizza. Ganz Europa befindet sich in einer Schockstarre.
Rekonstruktion des TathergangsWährend Tausende Nizzarder und Touristen dicht gedrängt entlang der Strandpromenade das traditionelle Feuerwerk anlässlich des französischen Nationalfeiertages in der Bucht von Nizza bestaunten, bahnte sich ein weißer Lkw trotz einer Vollsperrung der Küstenstraße den Weg Richtung Innenstadt. Auf einem Video des ARD-Journalisten Richard Gutjahr, das seit vergangener Nacht in den sozialen Medien kursiert, ist zu sehen, wie sich der Lkw langsam nähert und schließlich gnadenlos in die panische Menschenmenge rast. Laut Medienberichten soll der Täter auf einer Länge von über zwei Kilometern Menschen in den Tod gerissen haben. Beim Schusswechsel mit den Einsatzkräften wurde der Täter schließlich getötet. Es soll sich um einen 31-jährigen Franzosen handeln, der den Lkw vor einigen Tagen in Nizza angemietet hat und bei der Polizei wegen diverser Gewaltdelikte bekannt war.
Das französische Innenministerium hat bisher offiziell 84 Todesfälle bestätigt, Dutzende weitere Opfer sollen noch in Lebensgefahr schweben, darunter zahlreiche Kinder. Laut Medienberichten sollen sich unter den Toten auch drei Deutsche befinden. Am frühen Freitagmorgen konnte Gerd Ziegenfeuter, deutscher Honorarkonsul von Nizza, im Gespräch mit unserer Zeitung aber noch keine deutschen Opfer bestätigen.
Der deutsche Tourist Azad Inan hat den Anschlag hautnah miterlebt. Er habe mitten in der Menschenmenge gestanden, als der Lkw fünf Meter entfernt an ihm vorbeigerast sei. „Hätte ich nur ein paar Meter weiter hinten gestanden, wäre ich jetzt tot", berichtet er. „Es war furchtbar. Um mich herum lagen überall Leichen."
Frankreichs Staatspräsident François Hollande hat seinen Besuch im südfranzösischen Avignon am Donnerstagabend sofort unterbrochen und ist in den Elysée-Palast nach Paris zurückgekehrt. In einem offiziellen Interview sprach er von einer Tat mit „terroristischem Charakter". Das ganze Land sei nun erneut in permanenter Terrorgefahr. Den seit dem 13. November 2015 über Frankreich verhängten Ausnahmezustand, der am 26. Juli hätte enden sollen, verlängerte Hollande um weitere drei Monate. Er kündigte außerdem außenpolitische Maßnahmen an: „Wir werden unseren Einsatz in Syrien und im Irak enorm intensivieren und all jene bekämpfen, die uns angreifen", sagte er. Der Staatspräsident wird im Laufe des heutigen Tages in Nizza erwartet.
Der französische Innenminister Bernard Cazeneuve verhängte für das Departement Alpes-Maritimes die höchste Terrorwarnstufe, Premierminister Manuel Valls rief eine dreitägige Staatstrauer aus. Christian Estrosi, Präsident der Region Provence-Alpes-Côte-dAzur und ehemaliger Bürgermeister von Nizza, spricht von der „größten Tragödie in der Geschichte der Stadt".
Soziale Medien: Segen und Fluch in der NotNach dem Anschlag herrschte in Nizzas Straßen Aufruhr und Panik. Viele Menschen wussten nicht, was passiert war, rannten durch die Straßen und versteckten sich in Restaurants und Bars. Einwohner und Touristen gaben den Flüchtenden Unterschlupf in ihren Wohnungen und Hotelzimmern.
Dank des von Facebook aktivierten Sicherheitschecks konnten Einheimische und Urlauber ihren Familien und Freunden via Internet mitteilen, ob sie sich in Sicherheit befinden. Über die sozialen Netzwerke breitete sich eine Welle der Solidarität aus: Taxifahrer boten kostenlose Fahrten an und Vermisstenmeldungen wurden in Sekundenschnelle von Tausenden Menschen geteilt. Eine verzweifelte Mutter fand auf diese Weise ihr verlorenes Baby wieder.
Facebook und Twitter waren an diesem Abend aber nicht nur Unterstützer der Hilfskräfte. Aufgrund der Verbreitung zahlreicher Falschmeldungen, beispielsweise über Geiselnahmen in Nizza und Cannes, wurde die Massenpanik noch verstärkt und die Arbeit von Polizei und Einsatzkräften unnötig erschwert. Das Innenministerium rief daher dazu auf, nur offiziell bestätigte Angaben zu verbreiten.
Ausnahmezustand in Krankenhäusern und am TatortAuf den Anschlag folgten Szenen des Chaos und der Verwüstung. Alle Krankenhäuser der Umgebung waren in Alarmbereitschaft, das Personal wurde aufgestockt, Schwerverletzte mit Hubschraubern in die Kliniken geflogen. Es herrschte Unklarheit über den Verbleib der Opfer, die auf der Strandpromenade verstreut lagen - lediglich mit Notfalldecken bedeckt. Laut lokaler Medien hätten die Ermittler gefordert, die Leichen 48 Stunden an Ort und Stelle zu belassen, um eine detaillierte Spurensicherung des Tatorts vorzunehmen. Durch den Widerstand von Christian Estrosi wurde dies aber nicht durchgesetzt und die Körper gegen 7 Uhr morgens abtransportiert. „Es wäre nicht nur gegenüber den Opfern und ihren Angehörigen respektlos gewesen, sondern auch sinnlos. Das Videomaterial der Augenzeugen gibt genügend Aufschlüsse über den Tathergang", so Estrosi. Auch die anhaltende Hitze hätte die verlängerten Ermittlungsmaßnahmen nicht möglich gemacht. Die Zahl der eingesetzten Beamten der Kriminalpolizei wurde aufgestockt, um die Ermittlungen zu bewältigen.
Es soll nun unter anderem geklärt werden, warum der Täter sich trotz der Vollsperrung einen Zugang zur Strandpromenade verschaffen konnte und ob es Lücken in den Sicherheitsvorkehrungen gab.
Die Zentrale für Opferhilfe im französischen Außenministerium hat eine Notrufnummer für Angehörige eingerichtet: +33 1431 75 646.
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