Eine Nachricht überrumpelte gestern erneut die Wiener: Die Porträts der Holocaustüberlebenden der Luigi-Toscano-Ausstellung wurden in der Nacht auf Montag aufgeschlitzt. Mit der Initiative „Wir passen auf" organisierten die Young Caritas und andere Gruppen eine Dauerwache für die Schau. Biber war am Morgen nach der ersten Nacht vor Ort und checkte die Stimmung ab.
Es ist ein grauer Dienstagmorgen in Wien. Einige Minuten nach meiner Ankunft bei der Luigi Toscano Ausstellung am Wiener Ring fängt es an zu regnen. Gut, dass ich einen Schirm dabei hab. Die Organisatoren der Wache haben sogar ganze Zelte aufgestellt. Die Stimmung ist entspannt: Passanten spazieren an den zusammengenähten Bildern vorbei, viele sind mit Kameras unterwegs und machen Fotos von den Fotos. Die erste Nachtwache ist vorbei und ich weiß nicht genau, was auf mich zukommen wird. Sind alle zu müde um mit mir zu reden? Sind sie alle wütend? Hatten sie genug Decken und Essen dabei?
Schnell wird mir eines klar: Wer genau es gewesen ist, interessiert hier keinen. Der Hass, der die Ausstellung kurzzeitig überrollte, war schnell von überwältigender Solidarität abgelöst. Trotz des Wetters, der Müdigkeit und der unfassbaren Situation, zeigen sich Organisatoren und Teilnehmer voller positiver Energie.
Die BilderSie stehen alle auf dem Gehweg, nebeneinander gereiht und sind sogar von der Bim aus sichtbar. Die Ausstellung „Gegen das Vergessen" sollte eine Mahnung für zukünftige Generationen sein: Zweiundsiebzig Porträts von zweiundsiebzig Holocaustüberlebenden. Einfach so auf der Straße. Wie sie aufgestellt sind, vermitteln sie ein Gefühl von Zerbrechlichkeit und Einsamkeit - ist wohl Absicht. Auch Edith (22) hatte sich schon vor Wochen gewundert, wieso die Bilder ungeschützt seien. Als sie über Instagram erfuhr was geschehen war, war sie entsetzt. „Ich konnte es einfach nicht fassen.", sagt sie mit ernstem Blick. Sie sitzt mit einem weißen Regenschirm auf einem Klappstuhl und überwacht das Bild eines Mannes. Seit 07:30 ist sie da, bis 10 Uhr wird sie bleiben und am Nachmittag kommt sie dann vielleicht wieder vorbei. Wie Edith, will auch Sabrina (27) ein Zeichen setzen. Sie sitzt einige Meter weiter sogar mit Kinderwagen und bellendem Hund im Regen.
Jemand hatte einen Faden dabei und plötzlich nähten alleDie Muslimische Jugend Österreich (MJÖ) ist ein wichtiger Teil der Initiative. Letzte Nacht waren 10 MJÖ-Mitglieder bei der Wache und setzten somit ein deutliches Zeichen gegen Antisemitismus. „Wir brachen unser Fasten alle zusammen, noch vor Sonnenuntergang. Eine von uns hatte Datteln dabei und teilte sie an alle aus.", erzählt Edina (25), Mitglied der MJÖ. Sie erklärt, dass sich die MJÖ vor allem auf die Nachtschichten konzentriert, weil sie während des Ramadans „so oder so die halbe Nacht" wach sind. Damit können sie auch die anderen Wächter besser unterstützen. Besonders gerührt war Edina von einem Moment, der passierte, als sie gerade dabei waren, aufgeschlitzte Bilder zusammen zu nähen. „Ein älterer Herr näherte sich und sagte einfach ‚Danke'. Dass jemand, der das vielleicht miterlebt hat sich bedankt, hatte eine unglaublich große Wirkung auf uns", weiß sie. Wie das mit dem Nähen angefangen hat, kann sie nicht so genau erklären: „Jemand hatte einen Faden dabei und plötzlich nähten alle."
Die MJÖ setzte sich schon letztes Jahr mit dem Thema Antisemitismus auseinander und möchte mit dieser Aktion, Holocaustopfern die Ehre erweisen.
Random Acts of KindnessAgnesa (35) von der Young Caritas, ist erschöpft. Letzte Nacht habe sie vor Aufregung nur eine halbe Stunde schlafen können. Sie habe es nicht ganz geschafft runterzukommen und habe noch ihre Gedanken ordnen müssen, erklärt sie. Nun sitzt die junge Wienerin aus dem 10. Bezirk bereits wieder im Caritas Zelt und erzählt ihre Geschichte. Als ihr eine Kollegin am Montag mitteilte, was mit einigen Fotos passiert war, stiegen ihr die Tränen „ganz dick in den Augen". Bereits am Freitag hatte sie versucht, den Fotografen Toscano anzurufen, um von ihm die Erlaubnis zu bekommen, die Hakenkreuze runterzuputzen. Später wurde ihr klar: „Nix putzen, sondern herkommen und Bilder bewachen!" Sie spricht aus voller Überzeugung - das merkt man - und ihre Müdigkeit lässt sie nicht spüren. „Je mehr wir sind, desto besser.",
Schockiert waren selbst die Organisatoren der Ausstellung, wie Frau Löwberg (39) vom Künstlerverein Nestrevall, berichtet. Mit vier anderen Leuten sitzt sie auch unter einem Zelt im Regen, etwas weiter entfernt von der Caritas. Dicke Jacken, Decken und viel Kaffee - die Gruppe ist vorbereitet. Frau Löwberg erzählt, sie habe mit den Veranstaltern telefoniert als sie die Nachricht der Schädigung hörte: „Das ist jetzt zwar schon mehrfach passiert, aber es war diese Art (macht eine „Aufschneide-Geste")... Das war einfach extrem." Die Organisatoren hießen ihre Idee willkommen, eine Wache zu organisieren. Also teilten sich die Menschen aus dem Nestrevall-Netzwerk die Wachen in eine Whatsapp Gruppe auf und erschienen bereits am Montag um 12:15 vor Ort.
Die Wiener MelangeAuffällig ist bei der ganzen Sache das Land Österreich. Nirgendwo anders gab es solche Vorfälle. Drei Mal wurde die Ausstellung beschädigt. Online und auf Social Media sind viele entsetzt und fragen sich, was denn in Österreich los ist.
Auf der Wache merkt man von dieser Enttäuschung nicht so viel. Es ist die Nächstenliebe, die eindeutig stärker ist. Emil (22) hat tiefe Augenringe. Er war die ganze Nacht auf der Stelle und erzählt: „Es war sehr cool. Es sind viele Leute aus den verschiedensten Religionen, den verschiedensten Nationen und den verschiedensten Bezirken zusammengekommen. Wir waren - sozusagen - eine Wiener Melange!" Emil ist Mitglied der Gewerkschaft VIDA, die die Initiative auch unterstützt.
Es sind nicht nur die Mitglieder der Organisationen die mithelfen, sondern auch viele Freiwillige. Agnesa und Emil erzählen und zeigen mir, wie viel Essen sie schon von Leuten bekommen haben. „Eine Frau war krank und konnte deshalb nicht zur Wache kommen, aber sie brachte selbstgebackenen Kuchen", sagt Agnesa voller Begeisterung. Die Müdigkeit macht sich bei Emil langsam breit, sein Blick wandert in Richtung Ferne und Agnes mustert ihn: „Jetzt geh doch endlich schlafen!"
Warum passiert sowas?Das ist die Frage, die sich alle stellen und auf die jeder eine Antwort sucht. Keine der Personen, mit denen ich mich heute unterhielt, trug Hass oder Wut gegen den (oder die) unbekannten Täter. Vielmehr wünschten sich die „Wächter" eine aufklärende Konversation, in der sie solche Aktionen versuchen zu verstehen. Und das ist bemerkenswert, denn für mich ist eine solche Tat einfach unvorstellbar. Warum das gerade in Wien passiert, macht für mich auch keinen Sinn. Denn so wie die Organisatoren der Wache, die Teilnehmer und die Passanten, weiß ich es ganz genau: Das ist nicht Wien.