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"Gebt mir meine Schwester zurück!"

Rushan Abbas und ihre Schwester Gulshan

08.07.2019

Sie werden gegen ihren Willen in Umerziehungslager gesteckt und müssen Gewalt und Willkür durch die chinesische Polizei über sich ergehen lassen. Das Leid der muslimischen Uiguren bleibt von der Weltöffentlichkeit unbeachtet. Warum eigentlich? Die Aktivistin Rushan Abbas kennt die Antwort.

Von Anna Caterina Helm

Wien, in der Lobby des Hotel Bristol. Rushan Abbas ist müde. Als Zeichen schlafloser Nächte prägen tiefe Augenringe ihr Gesicht. Die 52-jährige Aktivistin ist viel unterwegs: Letzte Woche Tokyo, heute Wien, morgen Brünn. Aus dem Koffer zu leben macht ihr nichts aus, denn sie ist auf der Mission ihres Lebens. Sie will die Weltgemeinschaft auf das kaum beachtete Leid des eigenen Volkes aufmerksam machen. Die Rede ist von den „chinesischen Muslimen", den Uiguren, die von der chinesischen Regierung massenweise in Umerziehungslager gesteckt werden.

Abbas Heimat ist die uigurische Provinz Xinjiang im Nordwesten Chinas. Die 1,7 Millionen Quadratkilometer große Region hat eine Gesamtbevölkerung von 20 Millionen, darunter 11,5 Millionen Uiguren, ein Turkvolk mit islamischem Glauben. „Wir sind keine typischen Chinesen. Unsere Muttersprache ist nicht Mandarin, sondern Uigurisch. Sie klingt wie Türkisch und wird in arabischen Lettern geschrieben. Wir beten in Moscheen und fasten während des Ramadans. Ich bin eine typische Uigurin", sagt Rushan und zeigt auf sich selbst.

„Ich repräsentiere 90 Prozent meines Volkes. Wir sind liberal und pro-demokratisch und das mag die Regierung in Peking nicht." Deswegen, vermutet Abbas, sei Xinjiang ein Polizeistaat mit einem riesigen Sicherheitsapparat zur Überwachung der Uiguren geworden. „Die Bürger werden überwacht, wie in ‚1984'", vergleicht Abbas die Zustände mit denen des berühmten Buchs von George Orwell. „2019 ist aber schlimmer als ‚1984'", fährt sie fort: „Gesichtserkennungskameras, Checkpoints mit Ausweiskontrollen am Eingang der Moscheen, Handykontrollen, QR-Codes an den Haustüren mit digitalem Vermerk für Polizeibeamte: Lebt hier eine „gute" oder eine „böse" Uigurenfamilie?". Darüber hinaus würde die chinesische Regierung parallel auch die Landschaft Xinjiangs durch die Zerstörung von Moscheen und islamischer Architektur verändern. Abbas verließ Xinjiang nicht freiwillig. Der Grund für ihre Flucht in die USA waren politische Proteste gegen die Zentralregierung in Peking. Damals in den späten 80ern, so wie heute, ging es um Grundfreiheiten und Menschenrechte. Seit neun Monaten vermisst Abbas ihre Schwester, die in einem Umerziehungslager in ihrer Heimat vermutet wird. Sie macht China dafür verantwortlich.

Unermüdlicher Kampf

Um in Ruhe zu sprechen, fahren wir in den ersten Stock des Hotels. Im Aufzug erzählt mir die Aktivistin, sie habe noch mit dem Jetlag zu kämpfen. Beim Reden bleibt Abbas ernst und verzieht keine Miene, ihre Art ist höflich und freundlich. Ihr Auftreten gepflegt und elegant: eine schwarze Bluse, ein knielanger Rock, ein türkisfarbener Blazer. Hinter dem resoluten Blick verbergen sich aber Sorgeund Sehnsucht. Sehnsucht nach ihrer Heimat und Sorge um die Tausenden inhaftierten Uiguren. „Das sind moderne Konzentrationslager für Muslime", findet sie drastische Worte für die derzeitige Lage der Uiguren. Erzählungen, Satellitenbilder und Menschenrechtsorganisationen bestätigen die Aussagen der Aktivistin. Auch der Sinologe Sascha Klotzbücher von der Uni Wien spricht von einer ethnischen Diskriminierung: „Sie leben marginalisiert, finden keine Jobs und haben keine Chancen auf den sozialen Aufstieg", so Klotzbücher. Aus dem Mund der Aktivistin klingt das viel dramatischer: „Die Uiguren werden in Camps festgehalten. Sie müssen der kommunistischen Partei ihre Loyalität schwören. Ihnen werden Medikamente verabreicht, damit sie ihr Gedächtnis verlieren, sobald sie rauskommen", klagt Abbas. Diese Informationen habe sie von ehemaligen Inhaftierten erhalten. Als die öffentliche Aufmerksamkeit wuchs, stritt China zunächst die Existenz der Einrichtungen ab. Später kam eine offizielle Erklärung, das seien „berufliche Ausbildungszentren" für Terrorverdächtige. Eine Darstellung, die sich komplett von Abbas Berichten unterscheidet.

"Berufsausbildungseinrichtungen"

Mittlerweile zeigen auch Fernsehbilder der BBC, dass die Umerziehungsmaßnahmen der Chinesen keine erfundenen Märchen sind. Auf den Videoaufnahmen sind lächelnde Menschen, die traditionelle chinesische Tänze aufführen oder Chinesisch lernen, zu sehen. Die Szenen wirken gestellt, die Protagonisten verschreckt. Die Welt solle den Eindruck kriegen, in Xinjiang ginge alles mit rechten Dingen zu. Aber ist das tatsächlich so? Um das herauszufinden, stehe ich am nächsten Tag vor der chinesischen Botschaft in Wien. Pressesprecher Lin Chen empfängt mich in einem fensterlosen Raum. „Das Wort ‚Umerziehungslager' ist ein falscher Name. Es sind Berufsausbildungseinrichtunge für berufliche Fähigkeiten", weist er mich sofort zurecht. „Auszubildende" seien Terrorverdächtige oder Menschen, die „bereits terroristische Taten vollbrachten", fährt Chen fort. Neben Chinesisch und Rechtskunde würden die Menschen laut Chen „Gastronomie oder Handarbeit" in den Einrichtungen lernen. „Die Menschenrechte werden respektiert und die Menschen gut gepflegt", fügt er fast entschuldigend hinzu. Aber bei Menschenrechtsaktivistin Abbas hörte sich das am Tag zuvor ganz anders an.

Wo ist meine Schwester?

Im Hotel stockt Abbas Stimme, als sie über ihre ältere Schwester, Gulshan, spricht: „Ich habe seit neun Monaten nichts von ihr gehört. Sie ist Ärztin und braucht keine berufliche Ausbildung. In Xinjiang spricht sich alles herum. Aber keiner traut sich, was zu sagen", so Abbas, während sie versucht, ihre Tränen zurückzuhalten. Wo bleibt die Empörung des Westens? Eine schockierende Erklärung bietet Klotzbücher. Im Gegensatz zum buddhistischen Tibet, welches auch von China „okkupiert" wird, seien die Uiguren laut dem Politologen weniger „sympathisch" für den Westen. „Die Uiguren sind überwiegend Muslime und in unserer Gesellschaft setzten sich die wenigsten für Muslime ein. Der Aufschrei für Christen wäre größer gewesen", schätzt er. In der chinesischen Botschaft sieht man das anders. Laut Chen respektiere China die Religionsfreiheit. „Aber wir unterscheiden zwischen Muslimen und Terroristen", so der Pressesprecher. Als ich ihn frage, wie viele sogenannte Terroristen in den Internierungslagern stationiert sind, gibt er keine Antwort. Auch die Anzahl der Camps ist Chen nicht zu entlocken. Nur so viel: „Die Camps gibt es dort, wo es Bedarf gibt". Das klingt schwammig. Hingegen spricht die Menschenrechtsaktivistin von zwei bis drei Millionen inhaftierten Uiguren.

„Typisch Uigurisch"

Als ich den Pressesprecher der Botschaft damit konfrontiere, wird es im Nachbarraum plötzlich laut - als würde jemand staubsaugen. Chen scheint ungerührt und dementiert alles. Er sei persönlich in Xinjiang gewesen und habe dort „auch Moscheen, oder andere Orte, wo es Muslime gibt" besucht. Man könne einfach hingehen und beten, das sei nicht eingeschränkt. In China gelte das Sprichwort: „Hundertmal hören ist nicht wie einmal sehen", erzählt mir Chen und legt mir einen Besuch der Provinz nahe. Dass Journalisten dort von der Polizei verfolgt und aufgehalten werden, sei nichts Außergewöhnliches. Klotzbücher berichtet von einer antimuslimischen Stimmung in Xinjiang. Dort würden alle unter Generalverdacht stehen, „die ihren muslimischen Glauben offenbaren und paktizieren" , so der Sinologe. Der Präsident der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Ümit Vural, sieht auch Österreichs Politik in der Pflicht: "Zur Lage der Uiguren in China erreichen uns leider schreckliche Bilder und Berichte, aus denen hervorgeht, dass hunderttausende MuslimInnen regelrecht interniert und ihrer Freiheit beraubt werden. Das darf und kann nicht sein. Hier fordere ich insbesondere die österreichische Politik auf, gegenüber Peking und den dortigen Verantwortlichen klare Worte zu finden.", so der Jurist. Das Außenministerium ließ unsere Anfrage zur Lage der Uiguren unbeantwortet.

#NotoBeijing2022

Die Aktivistin Abbas wird in nächster Zeit nicht nach Xinjiang reisen, sondern weiter um die Welt touren, um den Menschen das Leid der Uiguren nahezubringen. Am Ende unseres Gesprächs macht sie kämpferisch den konkreten Aufruf: „Die Winterspiele in Peking 2022 dürfen nicht stattfinden, solange es die Lager gibt." Mit dem Hashtag #NoToBeijing2022 (Engl. für Peking) will sie Aufmerksamkeit auf die unzumutbaren Zustände in Xinjiang lenken.

Es ist ein ungleicher und scheinbar aussichtsloser Kampf, den Abbas gegen die chinesische Regierung führt. Er ist vor allem alternativlos. Abbas hat keine andere Heimat, keine andere Familie, keine andere Schwester. Jene Schwester, die sie seit neun Monaten nicht gesehen hat. Jene Schwester, die bald ihren Geburtstag feiern sollte, wäre sie nicht verschwunden und gegen ihren Willen eingesperrt worden. Abbas lächelt zum ersten Mal und wirkt erleichtert, als wäre sie nicht alleine auf ihrer Mission. Dann steht sie auf, verabschiedet sich und fährt zum Bahnhof. Die Geschichte muss weiter erzählt werden.

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