Ronny Müller ist zurück, zu Hause in Guben, Niederlausitz. Seine Haut ist gebräunt. Elf Jahre lang war er weg aus Deutschland: Malawi, Namibia, Niederlande. Es gab ja keine Jobs in der Heimat. Wenn ihn jemand fragte, woher er komme, sagte er aber immer: Guben. Er erzählte dann vom Kartenspielen mit den Kumpels, vom Angeln, von den Brandenburger Seen.
Irgendwann hörte er, dass Guben Menschen wie ihn zurückhaben wolle. Dass seine Heimat um "Rückkehrwillige" werbe. Die Stadt versprach ihm einen Kita-Platz für seine beiden Kinder, eine Wohnung, einen Job. "Guben tut gut", stand in der E-Mail-Signatur der Gubener Rückkehrinitiative, die um ihn buhlte. Er glaubte das und besorgte sich Tickets für den Flieger. Das war schon Ende 2019.
So erzählt es Ronny Müller, an einem Stehtisch in der Bäckerei vor dem Gubener Netto. Seine Haare sind mehr grau als braun, platt gedrückt von einer Wollmütze in Jamaika-Farben. Er ist 48 Jahre alt. Wie kommt die Stadt ihm vor, auf den ersten Blick?
"Guben ist flacher geworden", sagt er. Die oberen Etagen der Plattenbauten seien Stück für Stück abgetragen worden. Und die Stadt sei irgendwie leerer.
Während er fort war, ist Guben Jahr für Jahr um 500 Menschen geschrumpft. Seit Müllers 18. Geburtstag, das war 1990, hat sich Gubens Einwohnerzahl halbiert. 17.021 Menschen leben noch hier. Es gibt keine andere Brandenburger Stadt, aus der im Verhältnis zur ursprünglichen Größe so viele weggegangen sind. Guben ist auch die Stadt mit dem zweithöchsten Durchschnittsalter Deutschlands. Guben, deutsch-polnischer Grenzort, einst bekannt für wasserfeste Filzhüte und Angelschnur aus Nylon, ging es nicht gut. Aber nun soll es ja aufwärtsgehen. Dank der Rückkehrer.
Direkt in der Innenstadt hat die Agentur "Guben tut gut" ihr Büro eröffnet. Die Stadtverwaltung erhofft sich viel davon. Die Einwohnerzahl, die Steuereinnahmen, die Geburtenrate sollen wieder steigen. Allein in Brandenburg gibt es 20 solcher Initiativen. Denn wo früher Arbeitslosigkeit herrschte, ist heute: Fachkräftemangel. Ronny Müller ist begehrt. Hofft er.
Was erlebt einer, der in der Welt war, und der nun zurück in seine Heimat reist - um zu sehen, ob er bleiben kann? Findet er tatsächlich sofort einen Job? Findet er eine Wohnung? Kommt er an?
"Alles verwuchert", sagt Ronny Müller. Er zieht an seiner Zigarette, während er an der alten Maschinenfabrik vorbeiläuft. Die Wanduhr ist stehen geblieben. Durch das rostige Tor ging es früher zum Werksgebäude, in dem Schrauben hergestellt wurden. Es ist der Ort, an dem Müller im Jahr 1986 eine Lehre zum Dreher beginnt. Dann kommt der Mauerfall. Die Facharbeiter-Ausbildung muss er nach der halben Zeit beenden. Müller sagt: "Wenn die Wende nicht gewesen wäre, wären wir noch hier."
Später arbeitet er in den Niederlanden auf dem Bau. Einer wie er ist dort gefragt. 2003 stirbt seine Frau bei einem Verkehrsunfall. Danach sei er abgerutscht, erzählt er. "Die Welt war vorbei."
Als
er beschließt, Europa zu verlassen, ist er 36, Witwer und für
unbestimmte Zeit krankgeschrieben. Er hat sich bei einem Fahrradunfall
die Schulter gebrochen. Und jetzt weiß er nicht mehr weiter. Bei Vox
läuft gerade die Reality-Doku Die Aussteiger. Im Internet
informiert Müller sich über Afrika und findet: Das wäre was. 2009 landet
er in Windhoek, Namibia. Er sagt, dort habe niemand gewusst, ob er
Gewinner sei oder Verlierer. Erst nach zwei Wochen ruft er seine Mutter
an und sagt: "Ich bin weg." Weil er keinen Job findet, zieht er weiter
nach Malawi und wird Hotelmanager der "Paradise Lodge". 54 Angestellte.
Elf Zimmer. Strand. Zwei Hektar Land. So müssen sich Könige fühlen, habe
er damals gedacht. Ein einfacher Arbeiter wie er plötzlich als Manager?
Das hat ihn selber verwundert. Aber er habe sich einfach beworben, sagt
er, und die Stelle angeboten bekommen.
Er hilft einer Frau auf
dem Markt, ihre fallen gelassene Dose Bohnen aufzuheben. Sie heiraten,
bekommen zwei Kinder. Er sagt, in seiner Urlaubszeit habe er mit seinem
Gehalt eine Grundschule und sich selbst das einzige Haus im Dorf, das
einen Keller hat, gebaut. Er will Bier lagern und eine Waschmaschine
aufstellen. Es sei ein gutes Leben gewesen in Malawi. Bis Unbekannte
einen Freund beim Geldabheben erschossen hätten, sagt Ronny Müller.
Eigentlich habe er nicht zurück nach Guben gewollt. Aber Sicherheit für
sich und seine Familie, die habe er gesucht.
Im Internet liest er von der Rückkehrer-Initiative. Es hört sich an, als könne man ein Rundum-sorglos-Paket buchen, wie einen Urlaub. Es gebe 5000 Euro Begrüßungsgeld vom Land Brandenburg, liest er. Also nimmt er seinen Sohn Niko, 6, und fliegt zurück nach Deutschland. Seine Frau soll mit der vierjährigen Tochter nachkommen, später, wenn alles organisiert ist. Aber sie habe Angst, erzählt Ronny Müller. In Guben gebe es schließlich nicht viele Schwarze wie sie.
Ronny Müller steigt vor der ehemaligen Hutfabrik aus dem Wagen. An der Backsteinfassade hängt ein Banner: "Rückkehrer-Tage". Mit den Händen in den Hosentaschen tritt er in den Saal. Wie bei einer Messe reihen sich Stände im Kreis: Das Chemiefaserwerk, die Deutsche Bahn, die Stadtverwaltung. Die Firmen kämpfen um Mitarbeiter. Auf Stellwänden am Ende des Saals hängen Ausschreibungen. Oberärzte, Fachärzte, Pfleger. Einen Facharbeiter mit unvollständiger Ausbildung, der mal ein Hotel geleitet hat, scheint aber niemand zu suchen.
"Ohne Arbeit kommt keiner zurück", sagt Linda Geilich. Sie leitet die städtische Rückkehrer-Initiative "Guben tut gut" und betreibt einen Stand auf den Rückkehrer-Tagen.
"Wie geht es dir?", fragt sie Ronny Müller. Müller und Geilichs Mann kennen sich seit ihrer Jugend. "Gut", sagt Ronny Müller, obwohl ihm das Ankommen schwerfällt. Drei Wohnungen habe er schon angeschaut. Aber er habe noch keinen Kita-Platz für seinen Sohn, keine feste Stelle und somit kein Geld, um ein Leben hier aufzubauen. Ja, viele Kitas seien zurückgebaut worden, erfährt er am nächsten Stand, an dem der Stadtverwaltung. Man könnte auch sagen: abgerissen. Von sechs Schulen sind nur noch drei übrig. Ist Guben überhaupt auf Rückkehrer eingestellt?
In einem leeren Restaurant klappt Fred Mahro seinen Laptop auf. Der Bürgermeister von Guben ist ein Mann, der schnell redet, an seinen Anzug hat er das Stadtwappen gepinnt. Er kommt rasch auf das zu sprechen, was er "Völkerwanderung" nennt. Die aktuellen Zahlen hat er dabei. Wegzüge 2019: 429. Sterbefälle: 330, bei etwa 100 Geburten. Altersdurchschnitt: 52,6 Jahre. Die Arbeitslosigkeit liegt bei zehn Prozent. Es gibt aber auch nur 5500 sozialversicherungspflichtige Arbeitnehmer. Das Problem sind die hoch qualifizierten Arbeitskräfte, die fehlen an allen Enden. Die Jugend zu halten, sagt Fred Mahro, sei daher seine wichtigste Aufgabe. Und Akademiker und Akademikerinnen zurückholen. Letztens haben sie eine Ärztin angeworben.
Ende vergangenen Jahres sei seine Sekretärin aufgeregt gewesen, sagt Mahro: ein Anruf aus dem Büro Horst Seehofer, Berlin. Er, der Bürgermeister von Guben, wurde zu einer Diskussion im Bundesinnenministerium eingeladen.
Das Innenministerium hat eine Kommission gegründet, für "Gleichwertige Lebensverhältnisse". Sie verspricht mehr Teilhabe, soziale Daseinsvorsorge, Innovation. Zehn Milliarden Euro stehen 2020 für Strukturveränderungen zur Verfügung. Dort sollte der Gubener Bürgermeister erzählen, wie es mit seiner Rückkehrer-Initiative läuft.
Mahro sagt, er habe eine
PowerPoint-Präsentation mit zwölf Folien mitgenommen. Die Menschen am
runden Tisch löcherten ihn mit Fragen: Ist die Veränderung spürbar?
Warum kommen, trotz aller Bemühungen, nur so wenige zurück? Danach hatte
er das Gefühl: Uns wurde zugehört. Manchmal habe er sich von Berlin
falsch dirigiert gefühlt. In der Stadt des knappen Wohnraums verstehe
man nicht, dass er sich den Kopf darüber zerbrechen muss, ob er
Häuserblöcke abreißen soll, weil sie seit Jahren leer stehen.
Zwei
Monate nach seiner Rückkehr bekommt Ronny Müller einen Schlüssel: Es
ist der Schlüssel für eine Wohnung. Ein alter Arbeiterblock, zwei
Stockwerke drunter lebt Ronny Müllers Mutter. Die Wohnung stand 15 Jahre
leer. Das Willkommensgeld, 5000 Euro, das ihn nach Guben gelockt habe,
habe er nicht bekommen. Das Förderprogramm war beendet, ehe er wieder in
Guben ankam.
"In Guben ist das mit
dem Ungewissen schwieriger auszuhalten", sagt Müller. Er trägt jetzt
Jogginghose und Flipflops. Seit er zurück in der Stadt sei, habe er
zwölf Kilogramm zugenommen, sagt er. In Malawi habe man sich immer
weiterhelfen können. Hier sei alles mit Geld verbunden. Die
Führerschein-Theorieprüfung: 30 Euro. Die Praxisprüfung: 90 Euro.
Meldebestätigung: fünf Euro. Erweiterte Meldebestätigung: 18 Euro.
Führungszeugnis: 13 Euro.
Für 1070 Euro vom Amt – ein Umzugszuschuss für Bedürftige – kauft Ronny Müller sich eine Wohnzimmergarnitur, einen verglasten Couchtisch mit Häkeltischdecke, zwei gepolsterte Stühle. Der Fernseher läuft stumm. Niko, der Sohn, spielt Fußball, das hallt in der noch immer ziemlich leeren Wohnung. Auf seinem T-Shirt steht: "Papas großer Held".
"Wann holst du mich
endlich?", fragt Ronny Müllers Tochter. Sie telefonieren dreimal die
Woche. Dann sagt er: "Wenn ich alles geregelt habe."
Jetzt im August
wolle er eine Umschulung zum Altenpfleger anfangen, sagt Ronny Müller:
"Damit kann man hier Karriere machen." Job-Angebote sind bislang
ausgeblieben. Einen Kita-Platz habe er nie gefunden, obwohl er jede
Woche anrief. Auch die Schule möchte Niko noch nicht aufnehmen. Sein
Deutsch sei zu schlecht. An regnerischen Tagen übe er mit seinem Sohn
deutsche Sätze, sagt Ronny Müller: Ich bin Niko, ich bin sechs Jahre
alt, ich lebe in Guben.
Am Supermarkt hätten zwei Jugendliche, als sie seinen Sohn sahen, gesagt: "Hier gibt es wieder Kohle." Noch verstehe Niko nicht, dass sie damit seine Hautfarbe meinten.
Erst kürzlich habe
sein bester Kumpel von früher gesagt: "Komm nach Augsburg." Dort wohne
der Freund jetzt. Er habe einen Job und eine Wohnung für ihn. In
Augsburg gebe es mehr Migranten an Schulen, das sei besser für Niko.
Ronny Müller sagt aber, er könne nicht: "Da würde ich noch einmal ganz
von vorne anfangen." In Guben habe er zumindest alte Freunde.
Jeden Freitag trifft er seine Kumpels
zum Skatspielen. Sie quatschen, fahren Fahrrad. Seinen besten Freund
kennt Ronny Müller seit der Schulzeit. Ob Afrika oder Guben, Gewinner
oder Verlierer, für den sei er immer derselbe geblieben. Er gehe zu
Bewerbungsgesprächen, erzählt er Linda Geilich von der
Rückkehrer-Initiative. Irgendwann bricht der Kontakt zu ihr ab. "Das
letzte Jahr war für uns auch schwierig", sagt die Leiterin der
Initiative im Juli. Ob das Programm im nächsten Jahr überhaupt noch
gefördert werde, sei gerade unklar.
Von dem Versprechen "Guben tut gut" fühlt sich Ronny Müller in diesen Monaten "übers Ohr gehauen. Ich habe mir das viel leichter vorgestellt."
Aber dann, sieben
Monate nach seiner Ankunft, ist Ronny Müller das erste Mal optimistisch:
Sein Sohn hat einen Schulplatz bekommen. Fast gleichzeitig mit dessen
Einschulung wird Müller seine Ausbildung anfangen. Im Oktober will er
nach Malawi fliegen, sofern die Corona-Pandemie das zulässt, um seine
Tochter zu holen. Seine Frau wird nachkommen: "Du musst erst mal Fuß
fassen", habe sie gesagt. Irgendwann hätte Guben vier Bewohner mehr.
In manchen Monaten
dieses Jahres gab es in Guben schon genauso viele Zuzüge wie Wegzüge. Im
März zum Beispiel waren es 14. Es klingt wie ein Erfolg. Aber noch
immer gibt es viermal so viele Sterbefälle wie Geburten.
Hanna
Es
gibt Menschen in dieser Stadt, deren Geschichte beweist, dass der Kampf
um Rückkehrer wie Ronny Müller das eine ist. Der Kampf darum, dass die
Jüngeren künftig bleiben, ist das andere.
Ein Mittwochabend bei
der Gubener Jugendfeuerwehr, Hanna Fahrentz, 18 Jahre alt, knallroter
Lippenstift und Feuerwehrmontur, begrüßt die "Feuerflitzer". Sechs- bis
Zehnjährige reihen sich um den Tisch, die gelben Helme vor sich. Sie
sitzen hier, wie Hanna selbst vor vielen Jahren hier saß. Hanna ist die
Ausbilderin, die Kinder lernen von ihr, was man tun muss, wenn man neu
ist bei der Jugendfeuerwehr.
Hannas Vater war Feuerwehr-Hauptmann. Hanna war Klassensprecherin, Schülersprecherin, Jugendbeirätin, "stellvertretende Jugendfeuerwartin bei den Feuerflitzern". Innerhalb von zehn Minuten ist sie jederzeit einsatzbereit, auch nachts. Sie gibt alles für Guben. Aber was soll nach der Schule kommen? Krankenpflegerin oder Justizvollzugsbeamtin würde sie gern werden, aber dafür gebe es in Guben keine Ausbildungsplätze. "Eigentlich will ich nicht weg."
Doch an diesem Abend
verabschiedet sie sich, von den Kindern, von ihrer Jugendfeuerwehr. Ich
werde Guben verlassen, sagt sie den Kindern. Sie werde, müsse anderswo
ihre Zukunft suchen.
Hanna Fahrentz und
Ronny Müller kennen sich nicht, aber sie ist auch ein Beweis dafür, dass
der Grund, aus dem er einst gegangen ist, noch längst nicht Geschichte
ist. Hanna Fahrentz sagt, sie sei sich sicher, dass sie eines Tages
zurückkommen werde. Ein Haus in der Innenstadt haben, in der Nähe der
Eltern, der Großeltern ihrer späteren Kinder. Das sei ihr Traum.
Hoffentlich, sagt sie, wird es später einen Job für sie geben in Guben.
Eines Tages.
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