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Multimediageschichte zu Familiennachzug: Geteiltes Leid

Die goldenen Vorhänge im Innern des Wohncontainers sind zugezogen, als würde die Familie abo Staiti nichts von draußen wissen wollen. Draußen, das ist das Flüchtlingscamp Nahr al-Bared im Norden des Libanons. Drinnen riecht es nach liegengebliebener Wäsche. Die Familie sitzt auf dem Teppich um einen Laptop: Der achtjährige Sohn, drei Schwestern, von denen zwei lautlos weinen, und der Vater starren auf den Bildschirm.


„Ich will Informationen über", tippt Ahad abo Staiti in die Google-Suche. Sein Gesicht ist verzerrt, als hätte er Schmerzen. „Wie heißt das Wort?", fragt er seine Frau, mit der er per Whatsapp telefoniert. „F-a-m-i-l-i-e-n-n-a-c-h-z-u-g" diktiert Fteim Almousa.

Seit mehr als drei Jahren wartet die 49-Jährige in Karlsruhe darauf, ihre Angehörigen nachholen zu können. In diesem Sommer könnte das Versprechen endlich eingelöst werden. Am 1. August tritt eine Gesetzesnovelle in Kraft. Rund 100.000 Ehepartner und minderjährige Kinder könnten dann ihren Familien nach Deutschland folgen. Zwei Jahre zuvor hatte die Bundesregierung den Nachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz ausgesetzt.


Zu dieser Gruppe gehören Bürgerkriegsflüchtlinge, die keine persönliche Verfolgung nachweisen können, trotzdem aber vorübergehendes Bleiberecht bekommen. Ihre Aufenthaltserlaubnis ist beschränkt, bis sie in ihr Heimatland zurückkehren können. Für Betroffene wie Almousa bedeutet die Gesetzesänderung ein erneutes Hoffen. Denn die Zeit arbeitet gegen sie. Was sie lange nicht wusste.


Fteim Almousa ist Rektorin einer Gesamtschule in einem Viertel am Rande von Damaskus, das im Frühling 2015 von Regierungstruppen und Oppositionellen bombardiert wird. Sie bekommt Morddrohungen, weil sie sich weigert, die Schule zu schließen. Die Generation ihrer Kinder soll nicht ungebildet heranwachsen.


Wie sagt man einem Vierjährigen, dass man geht? Ahmed ist der Jüngste in der Familie.

Im Juli 2015 flieht die sechsköpfige Familie in den benachbarten Libanon. Als dort wenige Tage später Bewaffnete vor ihrem Wohncontainer nach ihr fragen, weiß Almousa, dass sie auch hier in Lebensgefahr ist. Die damals 47-Jährige erinnert sich an Angela Merkels Satz im Fernsehen: „Es gibt keine Obergrenze für Asyl."


Drei Tage vor dem fünften Geburtstag ihres Sohnes Ahmed fällt sie eine pragmatische Entscheidung. „Todesreise" sagt man in Syrien dazu. „Wohin gehst du?", fragt Ahmed, als die Mutter ihn ungewöhnlich lange und fest drückt. Nur Geschenke besorgen, behauptet sie. Fteim Almousa und ihr Mann verabreden, dass sie vorgeht und hoffen, dass stimmt, was Bekannte aus Syrien erzählt haben. Es werde ein halbes Jahr dauern, dann würden sie einander wiedersehen. Wir müssen warten, tröstet Ahad abo Staiti immer wieder seine Kinder, bald hätten sie ein besseres Leben. Das bessere Leben kann er leicht erklären: eine gute Schule, ein Haus, vor allem Sicherheit. Warum das Warten so lange dauert, kann er nicht erklären.


Am 10. November 2015 erreicht Almousa Mannheim. Der Himmel ist grau, voller Wolken, die Menschen sind freundlich. Es gibt Bananen, Brot und Wasser. Hauptsache, sie ist am Leben, so steht es in der ersten Whatsapp-Nachricht an ihre Familie.

Die Bundesregierung diskutiert zu dieser Zeit über 800 000 Asylsuchende, von mehr als einer Million wird später immer wieder die Rede sein. Die Fernsehbilder der überfüllten osteuropäischen Bahnhöfe zeigen zum Großteil alleinreisende Männer. Dass eine Frau wie Almousa ohne Verwandte flieht, ist untypisch. Doch das Geld reichte nicht für ihre ganze Familie.


Angela Merkel wird wegen ihres Satzes „Wir schaffen das" in den folgenden Monaten hart angegangen. Am 5. November 2015 einigen sich SPD, CDU und CSU auf das Asylpaket II. Angesichts steigender Bewerberzahlen soll der Familiennachzug für Geflüchtete mit subsidiärem Schutz bis März ausgesetzt werden.


Es geht bis dahin um eine noch sehr kleine Personengruppe. Von Januar bis November 2015 bekamen nicht mal 60 Syrer diesen Status zugesprochen. Zu diesem Zeitpunkt erregt die Nachricht weniger Aufsehen als das angekündigte beschleunigte Asylverfahren.

Kurz danach wird der damalige Bundesinnenminister Thomas de Maizière mit der Aussage zitiert: „Andere Staaten geben in solchen Lagen auch nur eine Sicherheit für eine begrenzte Zeit, und das werden wir in Zukunft mit den Syrern auch tun." Verschiedene Medien greifen den Satz auf. Deuten ihn so, dass die Union künftig mehr Syrer unter dem Status „subsidiärer Schutz" einstufen - und so den Familiennachzug verwehren will.

Daraufhin verschickt das Bundesinnenministerium eine Pressemitteilung, dass eine entsprechende Änderung der Entscheidungspraxis des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge (BAMF) nicht erfolgt sei. Noch nicht, wie sich später herausstellen wird.


Im November 2015 kommt Fteim Almousa in eine Gemeinschaftsunterkunft in Mannheim: eine große Halle, 100 Betten, Zeltstoff als Trennwände. Während auf den Titelseiten das Thema Familiennachzug verhandelt wird, sitzt sie zwei Tage und Nächte auf einem Stuhl und weint. Sie weigert sich, zu schlafen. Die Betreuer ahnen, dass Almousa traumatisiert ist.

Was sie nicht wissen, ist, dass die Feldbetten in der Halle sie an die Tragen erinnern, mit denen sie die Toten in ihrem Viertel wegbrachten. Mit geschlossenen Fäusten läuft die Mutter durch die Gänge. Sie stellt sich vor, sie würde ihre zwei jüngsten Kinder rechts und links an den Händen halten. Nach ein paar Tagen bekommt sie ein eigenes Zimmer.


Im Februar 2016 streiten sich die Fraktionen im Bundestag bei der ersten Lesung zum Asylpaket II. „Zynisch" nennt Konstantin von Notz von den Grünen die Aussetzung des Familiennachzugs, SPD-Fraktionsvize Eva Högl dagegen eine „maßvolle Regelung". Die Einschränkung des Nachzugs wäre mit internationalem Recht nicht vereinbar, heißt es aus dem Familienministerium. Das erste Mal ist die Rede von einer Härtefallklausel.

Ein humanitärer Härtefall, das treffe auf alle zu, betont Dietmar Bartsch, Vorsitzender der Linksfraktion, der das Paket nicht nur unmoralisch, sondern auch unchristlich nennt. Das letzte Wort gehört der Union: Integration könne nur gelingen, wenn die Asylbewerberzahlen eingeschränkt werden. Im März 2016 tritt mit dem Asylpaket II die Aussetzung in Kraft.

In den folgenden Monaten ist Integration etwas, das Fteim Almousa täglich beschäftigt. Sie pflanzt Tomaten und Zucchini im Gartenverein, geht ins Frauencafé, zum Strickclub und hält Vorträge zum Thema Syrien. Sie lernt Frauen wie Birgit, Doris und Stefanie kennen. Sie nennen Almousa ihre Freundin, sie fühlt sich trotzdem vollkommen allein.


Almousa versucht, Deutsch mit ihnen zu sprechen. Während sie in den letzten Monaten auf einen Platz im Sprachkurs wartet, lernt sie mit einer App auf ihrem Smartphone. Sie sagt, sie fühle sich wie ein Orangenbaum, der aus seiner Erde herausgerissen wurde und sich mühsam an die neuen Bedingungen gewöhnen muss. An manchen Tagen glaubt sie einzugehen.


Bis zu zehn Mal täglich telefoniert Almousa mit den anderen Familienmitgliedern im libanesischen Camp per Skype. Über den Bildschirm bringt sie ihren Kindern bei, wie man Hummus zubereitet, beobachtet ihre älteste Tochter Riham beim Erledigen der Hausaufgaben. Am 30. Juni, dem Tag der Zeugnisübergabe, schickt Riham der Mutter ein Video. Es zeigt die 16-Jährige in einem pinken Kleid. Vor zwei antik anmutenden Plastiksäulen und Glitzervorhängen überreicht ihr der Lehrer das Zeugnis, das Mädchen wendet sich ab.


Früher war sie Klassenbeste. Ihrer Mutter erzählt sie zwar, dass es ihr schwer falle, sich zu konzentrieren, nicht aber, dass sie Schlaftabletten nimmt. Seit Almousa fort ist, kümmert Riham sich um den Haushalt: kocht, wenn die jüngeren Geschwister von der Schule kommen, putzt, tröstet. „Ich brauche dich nicht", sagt der sechsjährige Ahmed eines Tages zu seiner Schwester. Er gehe bald zu seiner richtigen Mutter. „Das wird noch sehr lange dauern", antwortet Riham.


Zur selben Zeit, im Sommer 2016, bekommen immer mehr Geflüchtete aus Syrien in Deutschland subsidiären Schutz. Waren es 2015 nur 0,1 Prozent aller Syrer, stieg der Anteil 2016 auf 16 Prozent. Pro Asyl kritisiert erneut, dass die Bundesregierung auf diesem Wege die Anzahl der Familiennachzügler senken will.


Aus dem BAMF heißt es, das Bundesinnenministerium habe die Behörde im März 2016 per Erlass angewiesen, jede Asylentscheidung wieder individuell zu treffen. Zuvor wurde der Status pauschal durch einen Fragebogen ermittelt. Mehr als 96 Prozent der Antragsteller bekamen so automatisch den Flüchtlingsstatus der Genfer Konventionen, drei Jahre Aufenthalt und das Recht, die Familie nachzuholen.


Den 23. Mai 2017 nennt Fteim Almousa den schlimmsten Tag ihres Lebens. Nach mehr als einem Jahr hält sie den Bescheid des BAMF in der Hand: subsidiärer Schutzstatus. Noch einmal erinnert sich Almousa an die Anhörung. Der Mitarbeiter, der sie kein einziges Mal ansah und nur Deutsch sprach, der Übersetzer, ein Kurde, vor dem sie sich fürchtete. Er könnte zu einer der Gruppierungen gehören, von denen sie zuvor Morddrohungen bekommen hatte. Von all dem erwähnt Almousa bei der Anhörung nichts. Es liegt keine individuelle Verfolgung vor, schlussfolgert das BAMF in dem Schreiben.


Subsidiärer Schutz - das hört sich für Fteim Almousa in diesem Moment an wie gar kein Schutz. Sie kann ihre Familie nicht sehen. Mit dem Brief in der Hand wird Almousa schwarz vor Augen. Als sie in der Gemeinschaftsunterkunft ohnmächtig wird, fällt sie auf die Hüfte. Sie muss operiert werden. Es bleiben Narben. Die Angst auch.


„Komm zurück, Fteim", fleht ihr Mann bei einem Telefonat am Abend. Sie antwortet: „Ich kann doch nicht, sie suchen nach mir, sie werden mich töten". Gemeinsam mit einem Anwalt reicht sie am nächsten Tag Klage gegen das BAMF ein. Wenige Tage später diagnostiziert ein Psychologe bei ihr eine Depression. Immer häufiger telefoniert sie nun auch nachts mit ihrer Familie. Auf beiden Seiten des Bildschirms herrscht Schlaflosigkeit.


Die ganze Geschichte in multimedia: https://interaktiv.tagesspiegel.de/geteiltes-leid/


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