Richert Beil verbindet Berliner Underground-Vibes mit feinster Handarbeit.
"Mehr davon" ist die neue Kategorie auf VOGUE.de, um Talente vorzustellen, die uns mit ihrem Können und ihrer Vision überzeugen. Ob sie nun gerade erst gestartet haben, oder ein wenig Zeit brauchten, ihren Weg zu finden - wichtig ist nur, dass man sie jetzt kennen sollte. Für diesen Artikel haben wir mit Richert Beil gesprochen, einem Design-Duo, das gerade abseits der Berlin Fashion Week seine Kollektion gezeigt hat.
Richert Beil, Modelabel aus Berlin
Von wem und wann gegründet? Jale Richert und Michele Beil, 2014
Steht für? Mode, die authentisch Underground-Vibes mit hohem Qualitätsanspruch, Handwerkskunst und einem Bewusstsein für faire Produktionsbedingungen zusammenbringt; ohne sich Kategorien wie Geschlecht oder Größe unterzuordnen
Man sollte Richert Beil kennen, weil... es schon jetzt die Idee vorlebt, dass Mode ihre TrägerInnen akzeptiert und stark fühlen lassen sollte, wenn sie künftig noch Relevanz für sie haben will
Ein Industriegebiet in Berlin Prenzlauer Berg. Von einer Schnellstraße aus führen schlecht beleuchtete Wege zwischen niedrigen Hallen hindurch. Man ist zugleich mitten in der Stadt und fühlt sich doch abgeschieden vom Rest der Welt. Nur aus einem Tor scheint an diesem Abend im März noch Licht: Richert Beil hat zu seiner Show für Herbst/Winter 2020/21 in eine Textilreinigung geladen. Zwischen Waschmaschinen, dutzenden Bügelstationen und Metallschienen, an denen Kleidungsstücke durch den Raum transportiert werden, treten Models hervor, die man eher im Nachtleben als auf einem Laufsteg verorten würde. Sie tragen massive Mäntel, übergroße Nadelstreifenanzüge und grell-orangefarbene Pullover mit dem Aufdruck "Utopia" - dem Titel der Kollektion.
Look aus der Herbst/Winter-Kollektion 2020/21
Einige Wochen zuvor lassen in einem Atelier mit knarzendem Holzboden und hohen Decken in Berlin Treptow drapierte Stoffkonstruktionen auf Schneiderpuppen bereits erahnen, wie komplex das Ergebnis wird. Jale Richert und Michele Beil, ganz in Schwarz, erzählen von ihren Anfängen.
Ihr gemeinsamer Weg begann, als sie sich am ersten Tag ihres Studiums an der ESMOD Berlin kennenlernten, danach arbeiteten sie zwei Jahre lang für den Designer Patrick Mohr, der damals, als Diskussionen um Diversität und Geschlechtsneutralität noch nicht so allgegenwärtig wie heute waren, als eine Art enfant terrible der Berliner Modeszene galt. "Wir haben Patricks Vision geliebt", erinnert sich Beil heute. "Aber was uns immer gefehlt hat, war, dass die Kleidung wenig tragbar war. Deshalb haben wir beschlossen, unser eigenes Ding zu machen."
Michele Beil: Qualität, die auch international mithalten kann, war uns von Anfang an das wichtigste. Also haben wir uns auf die Suche danach gemacht, was in Deutschland an Modehandwerk überlebt hat - was leider nicht viel war. So sind auf den Trachtenbereich gestoßen. Nicht etwa, weil wir Dirndl oder Lederhosen herstellen wollten, aber in diesem Bereich existieren noch Kunsthandwerks-Techniken, die sich auch auf unsere Designs anwenden lassen, zum Beispiel wenn es um die Herstellung von Miedern geht.
Die Kulisse der “Utopia”-Show: eine Textilreinigung
Jale Richert: Zunächst wollten wir nur in Deutschland fertigen, aber weil die Möglichkeiten hier nicht ausreichten, lassen wir inzwischen auch in Italien und Polen produzieren. Immerhin ist alles in Europa geblieben, wir kennen die Produktionsstätten und können sie regelmäßig besuchen. Bis wir die richtigen Partner hatten, dauerte es seine Zeit, deshalb sind wir erst nur langsam gewachsen. Für die Frühjahr/Sommer-Kollektion 2020 haben wir zum ersten Mal im großen Stil unsere Lookbooks verschickt. Aber das ist ok, weil wir erst sicher gehen wollen, dass wir unseren Anspruch auch in größeren Stückzahlen umsetzen können, anstatt einen Senkrechtstart hinzulegen und dann schnell wieder zu verschwinden, weil wir die Erwartungen enttäuschen.
Jale Richert: Manchmal gibt es heute einen Widerspruch in dem, was von DesignerInnen gefordert wird: Am nachhaltigsten wäre es, Dinge für die Ewigkeit zu erschaffen, aber wir können ja nicht alle komplett aufhören zu konsumieren. Auch wir wollen etwas herstellen, das hochwertig und langlebig ist, aber wir glauben daran, dass es nicht bedeuten muss, dass man kein zweites Stück kauft, denn man will ja auch eine Auswahl haben. Natürlich würde man mehr Geld mit Wegwerfprodukten verdienen, weil die Herstellung günstiger und die Zielgruppe größer ist und man theoretisch nach kurzer Zeit wieder etwas verkaufen kann. Wir waren schon auf Stoffmessen unterwegs, bei denen uns Händler ganz offen gesagt haben: 'Den Stoff würde ich nicht nehmen, der hält ewig, nehmt lieber den anderen, da kaufen die Leute schneller nach'. Aber das wollen wir nicht.
Look der Herbst/Winter-Kollektion 2020/21
Niemand sollte etwas herstellen mit der Absicht, es bald wieder zu entsorgen. Am Anfang haben wir uns das Limit gesetzt, dass unsere Mäntel nicht mehr als 500 Euro kosten sollen. Aber dann macht man mit Stoffen herum, die man nicht wirklich will, und macht auch Abstriche bei der Verarbeitung. Das war in unseren Augen nichts Halbes und nichts Ganzes. Heute kosten unsere Stücke manchmal um die 2.000 Euro. Ja, unser Absatz ist dadurch kleiner, aber weil die Preise höher sind, geht das Konzept hoffentlich auf.
Was bedeutet Schönheit für euch?
Jale Richert: Niemand sollte das Gefühl haben, sich optimieren zu müssen. Für unser Label wollen wir echte Menschen zeigen, die wir persönlich schön finden, auch wenn die breite Masse das vielleicht anders sieht. Das passiert nicht, weil wir zwanghaft 'anders' sein wollen, sondern weil wir das aufrichtig so empfinden. Wir sehen Menschen nicht in einzelnen Teilen, sondern als Gesamtbild. Und je spezieller das ist, desto besser.
Models im Backstage vor der Show
Eines der Models aus unserem Lookbook haben wir über Ebay-Kleinanzeigen kennengelernt, als wir sehr kurzfristig nach einer Männer-Schneiderpuppe suchten und sein Inserat gefunden haben. Als wir zu ihm gefahren sind, um sie abzuholen, hat uns sein Freund ziemlich sexy mit offenem Hemd die Tür aufgemacht und wir waren sofort hin und weg. Als wir wieder draußen waren, haben wir beide gedacht: 'Ok, die müssen wir unbedingt noch mal anschreiben.' Über die beiden sind wir auch auf eine Freundin von ihnen gekommen, die ich auf einem Instagram-Foto gesehen habe und auch sofort toll fand.
Das heißt nicht, dass wir nicht auch professionelle Models buchen und toll finden. Aber wenn wir mit Menschen arbeiten, wollen wir auch ihre Persönlichkeit kennen lernen und uns mit ihnen beschäftigen. Dabei muss es nicht immer um Natürlichkeit gehen. Auch wenn jemand offensichtlich etwas an sich hat machen lassen, kann das toll wirken, solange es zu der Person passt und authentisch ist. Schlimm ist nur Gleichmacherei.
Neulich ist uns erst wieder aufgefallen, dass zwar alle über Diversität und Feminismus reden, aber die Bilder, die uns in der Werbung und auf Social Media umgeben, noch immer sehr klassisch sind. Was uns dort gezeigt wird, kann trügerisch sein: Das sind keine Mädchen von Nebenan, die uns auf Instagram Produkte vorstellen, sondern Profis, die ihren Job machen und in der Werbung arbeiten. Das hat in manchen Fällen nur noch wenig mit dem realen Leben zu tun, dahinter steckt auch viel Arbeit und Technik und wir sollten es nicht als Standard sehen, wenn wir selbst in den Spiegel gucken.
Model backstage vor der Show
Michele Beil: Menschen stärken. Die Standardantwort vieler DesignerInnen, wenn sie danach gefragt werden, für wen sie entwerfen, ist: ‚Ich entwerfe für selbstbewusste, starke Frauen/ Männer'. Aber wer macht eigentlich Mode für diejenigen, die das noch nicht sind? Dabei ist das genau das, was Kleidung kann - Menschen unterstützen, damit sie sich besser fühlen.
Jale Richert: Viele Menschen fühlen sich eingeschüchtert von Mode, weil sie das Gefühl haben, es gäbe eine Modepolizei, die ihnen etwas vorgibt, bei dem sie nicht mithalten können, und weil sie nicht das Selbstbewusstsein haben, auf ihren eigenen Geschmack zu vertrauen. Wenn sie Mode als oberflächlich abwerten, dann oft genau aus diesem Grund. Das macht mich traurig. Denn ich will, dass Mode etwas ist, was Menschen Freude bereitet und nicht etwas, was sie unter Druck setzt und hemmt.
Das Duo hinter Richert Beil: Jale Richert (links) und Michele Beil (rechts)
Michele Beil: Menschen sollten sich als erstes in ihrer Kleidung wohl fühlen. Wir werden von Bekannten oft gefragt: 'Und, sieht das in euren Augen gut aus?' Das ist aber schon die falsche Frage, weil es nicht wichtig sein sollte, was andere darüber denken und es viel wesentlicher ist, was einem selber gefällt und wie man sich sieht.
Jale Richert: Schon wenn man als DesignerIn an einer Modeschule anfängt, wird einem, bevor man den ersten Schnitt macht, beigebracht, eine Welt zu verkaufen, in der alles wahnsinnig schön kreativ und aufregend ist, aber das entspricht nicht immer der Realität und wir sollten dieses Muster aufbrechen. Man kann aber auch nicht alles von heute auf morgen auf den Kopf stellen. Vieles fällt uns als Marke leichter, weil wir ohnehin nischig arbeiten. Auf der anderen Seite ärgern wir uns manchmal, wenn in Artikeln behauptet wird, wir würden 'normale' Frauen doof finden. Das ist Quatsch und was heißt überhaupt normal? Wir wollen nicht einfach nur provozieren, es geht uns einfach nur darum, verschiedenste Persönlichkeiten in unserer Mode widerzuspiegeln.
Backstage bei der Herbst/Winter-Show 2020/21
Michele Beil: Jacken und vor allem Mäntel sind immer der Fokus unserer Kollektion. Das ist auch privat das, was uns am wichtigsten ist. Vermutlich steht auch kein Kleidungsstück so sehr für Berlin wie der Mantel, obwohl man schwer in Worte fassen kann, warum.
Jale Richert: Ich liebe Hybride aus Mantel und Kleid, weil ich normalerweise kein Typ für Kleider bin, aber wenn sie ein bisschen so aufgebaut sind wie ein Mantel, fühle ich mich in ihnen wohl. Vermutlich kommen wir da wieder zur Frage zurück, was Mode für Menschen tun kann: In nichts fühlt man sich so geschützt und gestärkt wie in einem Mantel.
Backstage bei der “Utopia”-Show
Jale Richert: Sich dem System völlig unterordnen, das will heute niemand mehr. Die Bindung zwischen den Menschen und einem Label wird wieder enger werden. Und wenn Leute gut finden, was du machst, sind sie auch bereit, zu warten, bis du ein neues Produkt zeigst, auch wenn du nicht dem klassischen Saisonkalender folgst. Und die Mode- und Kosmetikbranche wird realisieren, dass man nicht nur Geld damit verdienen kann, indem man Menschen schlecht fühlen lässt, sondern indem man sie zufrieden mit sich macht. Wenn wir dazu beitragen können, wäre das wichtiger als alles andere.