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Meister Ng muss gehen


Die Hafenstadt George Town auf der malaysischen Insel Penang hat sich seit ihrer Gründung vor mehr als 230 Jahren wenig verändert. Bis die Unesco ihre Altstadt zum Welterbe erklärte.


Ann-Dorit Boy, George Town 


Wer die Werkstatt von Meister Ng sucht, landet vor der Glasfront eines Cafés. Vom Laden des einzigen Siegelgraveurs von George Town gibt es keine Spur mehr in dem weiss getünchten Haus an der Carnarvon-Strasse, seiner letzten im Internet verzeichneten Adresse. Einer der älteren Chinesen, die schwitzend in der nahen Garküche auf ihre Muschel-Omelettes warten, weist gen Osten.


Man muss die ruhige Acheh-Strasse entlangspazieren, im schattenspendenden Arkadengang den Blumentöpfen und parkierten Motorrädern ausweichen, die alte Moschee rechts liegen lassen und am Ende abbiegen. Auf der Lebuh Pantai, der Strandstrasse, sitzt er dann doch, Meister Ng, an einem klapprigen Tisch vor seinem neuen Geschäft.


Aus dem Taschenradio tönen buddhistische Gesänge; ein rostiger Ventilator bringt Bewegung in Ngs grauen Haarkranz. "Ich bin drei Mal umgezogen", sagt Ng Chai Tiam, so sein vollständiger Name, lächelnd in behäbigem Englisch. Es ist eine freundliche Umschreibung dafür, dass die Besitzer seiner früheren Läden den 78 Jahre alten Kunsthandwerker zur Räumung zwangen, weil sie ihre Häuser renovieren und teurer neu vermieten wollten.


Mieterschutz ist keine Priorität in Malaysia. Die Betreiber der vielen neuen Cafés, Boutique-Hotels und Souvenirläden, die in jüngerer Zeit in George Town eröffnet haben, konnten sich aussuchen, in welche historischen Häuser sie einziehen wollten, solange der Preis stimmte.


Nicht greifbares Welterbe

Als die Unesco im Jahr 2008 die Altstadt von George Town zum Welterbe erklärte, kürte sie ausdrücklich beides: das greifbare Erbe, die einzigartige Architektur der kolonialen Hafenstadt, und das sogenannte nicht greifbare ("intangible") Kulturerbe. Damit ist das Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Ethnien in einem südostasiatischen Handelszentrum gemeint samt ihren Bräuchen und Künsten. Man könnte also sagen, dass die Unesco auch Ng ausgezeichnet hat.


Jedenfalls findet sich sein gebräuntes Gesicht in den Broschüren der örtlichen Welterbe-Behörde gemeinsam mit dem letzten indischen Blumengirlandenflechter, dem letzten malaiischen Songkok-Hutmacher, dem letzten Fahrradrikscha-Konstrukteur, den Rattan-Möbelbauern und all den anderen älteren Herren, die hier unverdrossen ihr Handwerk pflegen, solange sie noch können.


Meister Ng lädt seinen Besuch ein, auf einem Hocker Platz zu nehmen. Er öffnet eine Plastikdose und zeigt ein Sammelsurium an scharfen Werkzeugen, die entfernt an altertümliche Zahnarztbohrer erinnern. Mit ihnen graviert Ng über eine grosse Lupe gebeugt winzige Schriftzeichen, Namen, manchmal auch Tierfiguren in die kleinste Seite schlanker Stifte oder Würfel aus Speckstein, Achat, Tigerauge und Jade.


Es ist ein mehr als 3000 Jahres altes chinesisches Handwerk, das Ng in Hongkong lernte. Die persönlichen Siegel sind mehr als Dekoration und Talisman. Die Händler von George Town haben wahrscheinlich Tausende Geschäfte mit ihnen legitimiert, denn ein Abdruck mit roter Stempelpaste gilt so viel wie eine Unterschrift. Ein paar neue Kunden, sagt Ng, habe er durch die Aufmerksamkeit rund um die Unesco-Ernennung bekommen. Vor allem aber blieben ihm seine Stammkunden treu.


Chinesischstämmige Malaien wie Ng prägen den Bundesstaat Penang und die Stadt George Town. Sie bilden die grösste ethnische Gruppe auf der Insel. Die meisten der 5000 Gebäude in der rund 2,6 Quadratkilometer grossen Welterbe-Zone sind sogenannte chinesische Shop-Houses: zweistöckige Häuser aus Holzbalken, Lehmziegeln und Kalkmörtel mit dem charakteristischen Arkadengang. Im Erdgeschoss findet sich oft ein Laden oder eine Werkstatt, oben der Wohnraum.


Das Shop-House, in dem Ng nun eingemietet ist, ist ein schlichtes Exemplar ohne die hübschen Stuckverzierungen und bunten Kacheln, die man an vielen anderen findet. Der Grundriss ist ganz typisch ein langer, schmaler Schlauch. Man kann im Lichthof hinten gerade noch die Götterfiguren erahnen, zu denen Meister Ng betet. Seine Tür steht trotz Hitze und Feuchtigkeit stets offen. Die Häuser sind so gebaut, dass Luft durch Zwischenwände ziehen kann. "Ganz so warm wie heute war es früher aber nicht", sagt Ng.


Bis jetzt ist er ganz gut über die Runden gekommen mit seiner Kunst. "Man muss Leidenschaft haben für diese Arbeit", so drückt er es diplomatisch aus. Seine beiden Kinder haben sich für lukrativere Karrieren in der Energie- bzw. der IT-Branche in der Hauptstadt Kuala Lumpur entschieden. Vielleicht hätte auch Ng nicht fast 50 Jahre durchgehalten, hätte er nicht während langer Zeit, in seinem ersten Laden, nur eine sehr kleine Miete zahlen müssen. Bis zum Jahr 2000 galt in George Town eine noch aus der Kolonialzeit stammende gesetzliche Mietpreisbremse für alle Gebäude, die vor 1948 erbaut wurden.


Altstadt im Dornröschenschlaf

Den eingefrorenen Mieten ist es zu verdanken, dass hier das grösste Altstadtensemble Südostasiens erhalten blieb. Während in Singapur, der späteren Kolonialgründung der Briten, oder auch in Hongkong Tausende von Shop-Houses abgerissen wurden und gläsernen Bürotürmen und Plattenbauten Platz machten, hatten die hiesigen Hausbesitzer keinerlei Anreiz, zu renovieren oder gar neu zu bauen. Wer wollte und konnte, zog aus in die komfortableren Wohntürme der Vorstädte. In den leerstehenden Häusern im Zentrum nisteten sich Schwalben ein, und ihnen folgten Leute, die mit Schwalbennestern - einer chinesischen Delikatesse - Geld verdienten.


Denkmalschützer sehen die schlagartige Aufhebung der Mietpreisbremse vor 20 Jahren heute als einen Fehler an. "Man hätte das Mietgesetz reformieren müssen", sagt Khoo Salma Nasution, eine Autorin, Verlegerin und Denkmalschutzaktivistin, deren Familie in fünfter Generation in George Town lebt. Sie empfängt uns in ihrem hübschen Buchladen an der Acheh-Strasse.


Khoo hat sich vor mehr als einem Jahrzehnt für die Bewerbung George Towns bei der Unesco eingesetzt. Sie wollte so die völlige Zerstörung der historischen Architektur verhindern. Ihr Ururgrossvater gehörte Mitte des 19. Jahrhunderts zu den Führungsfiguren des in George Town mächtigen Khoo-Klans. Im aufwendig verzierten Klan-Haus in der Nähe ihres Buchladens hat schon Hollywood gedreht.


Auf dem Papier hat die malaysische Regierung das Nötige getan, um die Unesco zu überzeugen. In einem 400-seitigen "Special Area Plan" ist das Management des Welterbes bis ins Detail ausgearbeitet. Doch Khoo macht sich wenig Illusionen, dass die historische Bausubstanz tatsächlich umfassend geschützt wird. Es gebe noch immer viele illegal und billig gemachte Umbauten, sagt sie. "Die Patina des Alten geht oft verloren."


Die wortgewandte Mittfünfzigerin spart ihre Kräfte mittlerweile für die grossen Schlachten auf. Mithilfe der Unesco ist es Khoo und ihren Mitstreitern vor Jahren gelungen, ein Verbot der Schwalbenfarmen zu erwirken. Sie hofft, auch den geplanten Bau eines neuen Verkehrsknotenpunkts mit Hochstrassen in Sichtweite der Altstadt verhindern zu können. "Die Stadtplanung ist in Asien vielerorts auf niedrigem Niveau", sagt Khoo abgeklärt. "Weil wir ein Welterbe sind, können wir uns wenigstens beschweren."


Als Kehrseite des Unesco-Ruhms ist das Leben in George Town für die alten Bewohner zu teuer geworden. Die Shop-Houses in der Welterbe-Zone waren 2008 plötzlich 2,3-mal so viel wert wie die ausserhalb, wie aus einem Bericht der staatlich finanzierten Denkfabrik Khazanah Research Institute hervorgeht. Allein zwischen 2007 und 2009 schrumpfte laut dieser Quelle die Zahl der Altstadtbewohner von gut 18 000 auf 10 000 Personen. Der Exodus der Mieter hat sich verlangsamt, doch er hält an.


Ausländische Investoren, oft aus Singapur und China, treiben die Preise weiter in die Höhe. George Town erlebt seine eigene Variante eines Phänomens, das der italienische Journalist Marco d'Eramo als "Unescozid" bezeichnet hat. Lebendige Orte, so mahnt er, verwandelten sich in tote Kulissen für Touristen.


Manchmal kommt die für Touristen gedachte Infrastruktur freilich auch den Anwohnern zugute. In der Sporthalle an der Ecke zur Armenian-Strasse sitzen an diesem Samstag einige Dutzend Menschen auf Plastikstühlen. Der Stadtrat hat Anwohner und Hausbesitzer zweier Altstadtstrassen eingeladen. Sie sollen mitentscheiden über Verschönerungsmassnahmen für die Gassen hinter ihren Häusern.


Der noch recht neue Bürgermeister Yew Tung Seang, auch er chinesischstämmig, verspricht auf Malaiisch und Englisch, die Stadt "begehbar, grün und nachhaltig" zu machen. Eine junge Frau zeigt, wie mit pixelig verlegten Bodenplatten, Bänken und Wandmalereien moderne Miniaturparks mitten in der Altstadt entstehen sollen.


Der Bürgermeister, begleitet von einem kräftigen Personenschützer, hat Zeit für eine Frage: Was macht er eigentlich gegen die fortschreitende Entvölkerung der Altstadt? "Wiederbevölkerung", sagt Yew. "Wir versuchen, die Altstadt wiederzubeleben." Dazu müsse man mit den Hausbesitzern reden und sie überzeugen. An der Kimberley-Strasse gebe es ein Pilotprojekt. Sechs Einheiten seien dort restauriert worden in einer "public private partnership", damit normale Menschen einziehen können.

Gebrochene Versprechen

Was der Bürgermeister nicht sagt: Die fraglichen sechs Einheiten an der Kimberley-Strasse stehen fünf Jahre nach dem Versprechen noch immer hinter einem Bauzaun. Sie sind zwar kostspielig renoviert worden, wurden aber kürzlich auf dem freien Markt ausgeschrieben und nicht an bedrängte Mieter vermittelt.


Das berichten Joann Khaw, eine langjährige Fremdenführerin aus George Town, und der Neuseeländer Mark Lay. Die beiden betreiben gemeinsam die jüngste und derzeit lauteste der örtlichen Denkmalschutzgruppen "George Town Heritage Action", formal eine Facebook-Gruppe mit 9000 Followern. "Wir hatten gehofft, dass Uncle Ng mit seiner Werkstatt in das Kimberley-Häuser einziehen kann", sagt Lay. Doch der Stadtrat habe wieder einmal seine Versprechen gebrochen.


Uncles und Aunties, Onkel und Tanten, so nennt man im Chinesischen respektvoll die älteren Leute. Khaw und Lay haben in den vergangenen paar Jahren viele von ihnen aufgeben sehen. Zuletzt verschwand der Rattan-Uncle, der so gerne noch weiter Möbel gebaut hätte. Er war wie Ng zwei Mal aus seinem Laden geflogen.


Ob Ng Chai Tiam, der letzte Siegelgraveur, noch eine Weile in seiner Werkstatt bleiben kann, hängt auch davon ab, ob die Zeit noch einmal ein bisschen stehenbleibt. Wegen einer leichten Wirtschaftsflaute hatten im vergangenen Jahr etwas weniger neue Geschäfte aufgemacht. Doch schon jetzt ist Ng seine neue Miete von 3000 Ringgit, umgerechnet 740 Franken, eigentlich zu viel. Das Gleichgewicht zwischen Einnahmen und Ausgaben stimme nicht mehr, sagt er, wie immer lächelnd. Wenn man Meister Ng dereinst auch an der Pantai-Strasse nicht mehr findet, wird er zu seinen Kindern nach Kuala Lumpur gezogen sein und Heimweh haben.


Koloniale Vielfalt 

boy. · Die Geschichte von George Town beginnt 1786, als der britische Kolonialverwalter Francis Light den vom Reich Siam bedrohten Sultan von Kedah überredet, ihm die sumpfige Insel Penang zu überlassen. Light gründet an der Meerenge von Malakka einen Handelsstützpunkt der East India Company und benennt ihn nach König George III. Als erste Pioniere kommen Malaien, dann tamilische Muslime, Bengalen und andere Gruppen aus dem Süden Indiens, Einwanderer aus verschiedenen Gegenden des südlichen China und Bewohner von Inseln des heutigen Indonesien. Sie alle bauen ihre Tempel, Clanhäuser und Kirchen. Zwangsarbeiter aus Indien konstruieren die strahlend weissen Prachtbauten der britischen Kolonialadministration. Chinesische Clans, die von Fischerei leben, setzen Holzhäuser auf Stelzen ins Wasser und bilden Stege oder Seebrücken, von denen mehrere bis heute existieren.


Gut zu wissen

Anreise: Mehrere Flüge täglich verbinden die Insel Penang mit Kuala Lumpur und Singapur. Sie wird auch von Jakarta, Bangkok und China aus angeflogen. 


Unterkunft: Das Flair des alten George Town können Reisende ohne Kinder besonders schön im historischen Boutique-Hotel "Seven Terraces" geniessen, für das eine Reihe von Shop-Houses aus dem 19. Jahrhundert umgebaut wurde. Die prachtvolle blaue Villa des chinesischen Geschäftsmanns Cheong Fatt Tze wurde in das Hotel "The Blue Mansion" umgewandelt. Wer dort nicht unterkommt, sollte das Haus im Rahmen der täglichen Führungen besichtigen.


Nicht verpassen: George Town ist für seine exzellenten und vielfältigen Garküchen bekannt, die man fast an jeder Ecke findet. Unbedingt Penang Assam Laksa probieren, eine reichhaltige, scharfe Fischsuppe mit Nudeln und Tamarindenmark. - Im Klan-Haus der Khoo, dem Khoo Kongsi (18, Cannon Square), erweckt am letzten Samstag jeden Monats eine Aufführung chinesischer Musik und Tänze den Innenhof zum Leben. - Auf dem protestantischen Friedhof erzählen die Grabsteine der Kolonisten und der europäischen Kaufleute deren bewegte Lebensgeschichten.


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