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Russische Entziehungskur: Na sdorowje!

Spätestens als sie die Wodkaflasche vom Sockel holten, machte sich auch im Städtchen Glasow die bange Ahnung breit, dass in Moskau wieder jemand den Beginn einer neuen Ära beschlossen hat. Am Ufer des Flüsschens Tschepza, vor den Toren der alten Spirituosenfabrik hatte 13 Jahre lang eine silberne, drei Meter hohe Flasche auf einem Betonsockel gethront. Die Stadt hatte sie zu Ehren des 100. Jubiläums der Brennerei aufstellen lassen. Am letzten Januartag dieses Jahres haben sie das Denkmal gestürzt und auf den Fabrikhof geschleppt. Die Flasche störe den Kampf der Regierung gegen den Alkohol, teilte die Stadtverwaltung mit. Immerhin hat es die 95.000-Einwohner-Stadt an Kilometer 1.163 der Transsibirischen Eisenbahn dank des gestürzten Denkmals in die überregionalen Nachrichten geschafft.


Der Flaschensturz von Glasow ist ein Sinnbild für die Entziehungskur, die Präsident Wladimir Putin seinem Volk verordnet hat. Der nüchterne Mann im Kreml, den man fast nie mit einem Glas Wodka und nur höchst selten mit einem Krug Bier gesehen hat, will nicht länger tatenlos zuschauen, wie ihm sein Russland unter den Händen wegstirbt. Die Geschwindigkeit, mit der sich das Land seit den neunziger Jahren selbst vernichtet, ist schwindelerregend. Vor drei Jahren schätzte die russische Gesellschaftskammer - vom damaligen Präsidenten Dmitrij Medwedjew handverlesene Vertreter der Zivilgesellschaft - die Zahl der unmittelbaren und mittelbaren Todesfälle durch Alkohol auf 500.000 im Jahr; weitere 400.000 Tote schrieb man den Zigaretten zu.


Sucht ist unübersehbar

Die Vereinten Nationen haben 2009 hochgerechnet, dass es im Jahr 2050 statt 142 Millionen Russen nur noch 116 Millionen geben wird - wenn es so weitergeht. Das kettenrauchende Volk im Wodkataumel ist nicht nur ein Klischee. In Europa trinken nur die Bewohner der Republik Moldau, die Ungarn und Tschechen noch mehr Alkohol pro Kopf und Jahr. Wodka bleibt das beliebteste Getränk der Russen, an zweiter Stelle folgt Bier, das internationale Großkonzerne im Lande brauen. Zwischen Kaliningrad und Wladiwostok erstreckt sich auch der - nach China - zweitgrößte Tabakmarkt der Welt. 40 Prozent der Russen rauchen die kratzigen Zigaretten für etwas mehr als einen Euro pro Schachtel.


Russische Verbraucherschützer klagen regelmäßig, dass internationale Tabakkonzerne in ihrem Land nicht dieselben Standards einhalten wie in Westeuropa. Die Sucht ist in Russland unübersehbar. Wer in den Großstädten mit der U-Bahn fährt, sieht die Trunkenbolde auf den Bänken liegen. Wer aufs Land reist, in die ausblutenden Dörfer, trifft dort oft schon vormittags keinen Mann mehr nüchtern an. Wer die Lokalnachrichten nach dem Wort „pjanyj" (betrunken) filtert, liest binnen weniger Tage Dutzende Schauergeschichten von Vätern, die im Suff ihre Kinder, Frauen, Nachbarn, Freunde oder Feinde erschlagen, sich selbst umbringen oder verunglücken.


Im Sommer ertrinken die Benebelten zuhauf in den Seen und Flüssen des weiten Landes, Autounfälle unter Alkoholeinfluss haben ganzjährig Saison. Russische Männer werden nach Daten der Weltgesundheitsorganisation von 2011 durchschnittlich 63 Jahre alt. Die Frauen trinken und rauchen weniger und werden immerhin 75. Trotzdem hat Putin sich Großes, eigentlich Unerreichbares, vorgenommen, als er nur wenige Stunden nach seiner Amtseinführung im Mai vergangenen Jahres einen Erlass unterzeichnete, mit dem er die Regierung verpflichtete, die durchschnittliche Lebenserwartung für beide Geschlechter bis 2018 von derzeit knapp 70 auf 74 Jahre zu heben.


Den Plan, das Volk umzuerziehen, verfolgt Putin schon länger. Während seiner ersten Präsidentschaft, die sich an Boris Jelzins legendäre Vollrauschregentschaft anschloss, ließ er die Werbung für Alkohol und Tabak einschränken. 2010 zählte Putin – damals Regierungschef – vor laufenden Kameras, wie viele seiner Minister rauchten. Er kam auf sechs. „Das ist viel zu viel“, befand Putin und befahl den Mitgliedern seines Kabinetts, mit gutem Beispiel voranzugehen und die Zigaretten aufzugeben. Im selben Jahr schwor Putin auch, den Alkoholkonsum im Land bis 2020 zu halbieren. Das Tandem Putin-Medwedjew brachte ein umfangreiches Gesetzespaket zu Alkohol und Tabak auf den Weg.


Bier ist kein Nahrungsmittel mehr

Einzelne Regeln, wie das nächtliche Verkaufsverbot für Schnaps und Wein und die Null-Promille-Grenze für Autofahrer, traten schon in den vergangenen Jahren in Kraft. Der schmerzlichere Teil der Ausnüchterungskur und die erste Stufe eines weitgehenden Rauchverbots sind jedoch erst in diesem Jahr über das Land hereingebrochen. Seit Jahresbeginn ist Bier in Russland ganz offiziell kein Nahrungsmittel mehr, sondern ein alkoholisches Getränk, weshalb die Verkaufsbeschränkungen nun auch dafür gelten. Bier darf nicht mehr in Zeitungen, Zeitschriften oder im Internet beworben werden. Schon im vergangenen Jahr war Alkoholreklame im öffentlichen Nahverkehr und in Innenräumen untersagt worden, in denen kein Alkohol verkauft wird.


Von den Wänden der Bahnwaggons wurden die Aufkleber mit den Bierflaschen abgekratzt. Gleiches gilt für die Tabakwerbung, die nach dem Wunsch der Regierung vollständig verschwinden soll. Nachts darf nun auch kein Bier mehr verkauft werden. Die Kühlregale in den 24-Stunden-Supermärkten von Moskau werden verbarrikadiert wie zuvor schon die Wein- und Schnapsabteilungen. Jugendliche Putin-Anhänger hatten die neue Gesundheitsinitiative hier und da mit kleinen Demonstrationen bejubelt. „Nachts soll man Kinder zeugen und kein Bier trinken“, stand, ganz im Sinne des Kremls, auf einem ihrer Transparente. Es ist auch tagsüber schwerer geworden, eine Dose Bier zu bekommen, denn die unzähligen Kioske und Stände in Unterführungen und an Straßenrändern, die ihr Geld vor allem mit Alkohol und Zigaretten machten, dürfen keines mehr anbieten.


Als Nächstes sollen die vergilbten Zigarettenschachteln aus ihren Fenstern verschwinden, wenn es verboten sein wird, Tabak in Läden mit weniger als 50 Quadratmeter Grundfläche zu verkaufen. Mehr als 160 000 Kioskbesitzer wehren sich dagegen, vermutlich vergeblich. Teurer ist die Sucht schon geworden: Den Minimalpreis für Wodka hob die Regierung im Januar von 125 auf 170 Rubel (4,26 Euro) pro halben Liter an. Zigaretten müssen mindestens 50 (1,18 Euro) statt früher 22 Rubel kosten. Und das ist erst der Anfang. Bis auf 220 Rubel (5,20 Euro) könnte der Preis pro Schachtel nach Meinung vieler Fachleute noch steigen. Seit 1. Juni ist das Rauchen in Schulen, Kultur- und Sporteinrichtungen, Krankenhäusern, sozialen Einrichtungen, Verwaltungsgebäuden und an Arbeitsplätzen verboten.


Parks als rauchfreie Zonen

Das Verbot gilt auch in Regionalzügen, Bussen und Bahnen, an Bahnhöfen und Flughäfen. Überall dort wurde, auch anderslautenden Hausordnungen zum Trotz, oft und viel gequalmt. Am schwersten dürfte es fallen, das Rauchverbot in den heruntergekommenen Hausfluren und Treppenhäusern der Mietskasernen durchzusetzen, wo sich Nachbarn oft eine leere Konservendose als Aschenbecher teilen. Die Einrichtung spezieller Raucherkabinen mit Abzugsanlage wäre ihnen nach dem neuen Gesetz gestattet, nur kann sich das keiner leisten. Besonders eifrige Kommunen haben in vorauseilendem Gehorsam schon Parks und Grünanlagen zu rauchfreien Zonen erklärt. Einen Aufschrei der rauchenden Massen hat es bei Inkrafttreten des Verbots nicht gegeben. Nur wenige Nikotinfreunde organisierten Ende Mai winzige Demonstrationen, bei denen sie trotzig Kette rauchten.


Mehr Widerstand dürfte sich erheben, wenn zum Juni 2014 das Rauchverbot auch in der Gastronomie in Kraft treten soll. Russlands oberster Amtsarzt und Verbraucherschützer Gennadij Onischenko wünscht sich ein noch strengeres Gesetz. Wer unbedingt rauchen wolle, solle das eben „in der Sonne, im Regen oder im Frost“ tun. Das geht vielen zu weit: Der oberste Suchtmediziner Jewgenij Brjun warnte vor drohenden Erkältungswellen unter Rauchern, Gewerkschaftsvorsitzende pochen auf das Recht auf einen Raucherraum am Arbeitsplatz, und eine „Gesamtrussische Bewegung für Raucherrechte“ hat schon eine Million Unterschriften gesammelt. Inzwischen prüft die Duma, ob man den Rauchern nicht doch etwas mehr Raum lassen sollte. Beim Alkohol hingegen hat das Parlament noch einige Verschärfungen im Köcher. Auch über die Anhebung der Altersgrenze auf 21 Jahre wird diskutiert.


Nun werden Regeln in Russland gern umgangen oder gar nicht erst umgesetzt. Nur acht Prozent der Russen glauben einer Umfrage zufolge daran, dass es mit den Raucherzonen wirklich genau genommen wird. Und selbst wenn, so kann man mit einem Scheinchen für den Kontrolleur viele Probleme lösen. Manche haben aus der Not flink ein Geschäft gemacht. Bei nächtlichen Alkoholengpässen helfen Bringdienste, die Flaschen nicht verkaufen, sondern verschenken. Wer ein Feuerzeug für umgerechnet 15 Euro erwirbt, bekommt eine Flasche Wodka gratis dazu. Man kann Alkohol nachts sogar leihen. Wer die Flaschen dann am Morgen nicht voll zurückbringt, muss sie bezahlen. Der Kauf soll damit als tagsüber erfolgt gelten – und somit legal sein.


Rausch hat keinen Platz mehr

Andererseits gibt es, wie auch die Regierung gerne betont, grundsätzlich eine breite Zustimmung zu den meisten dieser Maßnahmen. Das nächtliche Alkoholverbot unterstützten in einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts Lewada von 2010 mehr als 70 Prozent aller Befragten. Selbst von den bekennenden Trinkern stimmte die Hälfte dafür. Das Rauchverbot in öffentlichen Einrichtungen befürwortet in Umfragen ebenfalls eine Mehrheit, nur den drohenden Zigarettenbann in Restaurants und Bars finden sie übertrieben. Im vergangenen Sommer hatte es einen kleinen Aufruhr gegeben, als die Medienaufsichtsbehörde die beliebte sowjetische Trickfilmserie „Nu, pogodi!“ („Na warte!“) auf den Index setzte, weil der alte Wolf, der darin stets vergeblich einen jungen Hasen jagt, raucht und trinkt. Die Serie darf nun weiterhin tagsüber gezeigt werden.


Im Jahrzehnt seit Putins Machtantritt ist mit dem Aufstieg der Mittelschicht auch eine Gegenwelt zum Volk im Wodkataumel entstanden. Gerade in den großen Städten trinken erfolgreiche und gesundheitsbewusste Berufstätige häufiger ein gepflegtes Glas Wein als eine ganze Flasche Wodka. In der Arbeitsmoral dieses neuen Mittelstands, die auch von den internationalen Konzernen geprägt wird, für die viele arbeiten, hat der Rausch keinen Platz mehr. Das tagelange Durchsaufen (der Sapoj), einst ein allgemein anerkanntes Privileg echter russischer Männer, wird nicht mehr akzeptiert. Und nicht nur Putin pflegt das Image eines sportlichen Saubermanns, auch sein bekanntester Widersacher, der oppositionelle Blogger Aleksej Nawalnyj, ist ein nüchterner Nichtraucher.


Solche Zustimmung hätte sich Michail Gorbatschow gewünscht. Als der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei Mitte der achtziger Jahre den Alkoholverkauf beschränkte, Verkaufsstellen schloss und Weinberge in der Republik Moldau und der Ukraine roden ließ, hasste ihn sein Sowjetvolk und spottete über den „Mineralsekretär“. Die Schwarzbrennerei nahm während dieser Jahre so stark zu, dass Zucker zur Mangelware wurde. Trotzdem hat die Kampagne, von der Gorbatschow inzwischen übrigens behauptet, seine Vorgänger hätten sie erdacht, durch die Senkung des Alkoholkonsums die Sterbezahlen gesenkt und nachweislich einen demographischen Sprung erbracht.


Nun warten Statistiker und Demographen auf die ersten Ergebnisse von Putins Kampagne. Im vergangenen Jahr ist der Alkoholkonsum leicht angestiegen – trotz des bereits geltenden nächtlichen Verkaufsverbots für Getränke mit mehr als 15 Volumenprozent Alkohol. In diesem Jahr meldeten die Bierhersteller schon nach wenigen Monaten deutliche Einbußen. Aber es gibt keine verlässlichen Zahlen über die Größe des Schwarzmarktes. In den vergangenen Wochen und Monaten häuften sich Erfolgsmeldungen von Ermittlern über ausgehobene Schwarzbrennereien, Methanolpanscher and sonstige Fälscher. Das sogenannte „Zentrum zur Untersuchung des nationalen und regionalen Alkoholmarkts“, das von einem Lobbyisten der großen Alkoholkonzerne betrieben wird, teilte unlängst mit, dass nur die Hälfte der Russen legalen Alkohol kauft.

Im vergangenen Jahr seien offiziell 106 Millionen Deziliter Wodka und Likör produziert worden, verkauft wurden aber 153 Millionen. Die Erhöhung der Mindestpreise könnte diese Diskrepanz vergrößern. Russen geben bereits jetzt sechs Prozent ihrer mageren Einkommen für Alkohol und Tabak aus, viermal mehr, als sie in Bildung investieren. Wenn die Preise steigen, könnten viele sich gezwungen sehen, auf gefährlichen und noch gesundheitsschädlicheren Fusel und gefälschte Zigaretten umzusteigen. Ökonomen bezweifeln auch, dass Putin seine Kampagne gegen die mächtigen Interessen der Alkohol- und Zigarettenkonzerne durchhalten kann, die mit ihren Steuergeldern auch den Staat alimentieren.


Die Trunksucht, mit der sich Putin herumschlagen muss, war einst von den Mächtigen des russischen Reiches zu ebendiesem Zweck gefördert worden. Zar Iwan der Schreckliche gründete im 16. Jahrhundert Wirtshäuser in Moskau, die sogenannten Kabaki, um Geld in die leere Staatskasse zu spülen. Bald flossen Steuereinnahmen aus Kabaki im ganzen Lande. Zar Peter der Große ließ ein Netz staatlicher und privater Brennereien errichten. Mitte des 18. Jahrhunderts war die Wodkasteuer mit bis zu 40 Prozent die wichtigste Einnahmequelle russischer Zaren. Kaiserin Katharina die Große erkannte noch einen weiteren Vorteil. „Ein betrunkenes Volk“, sagte sie, „lässt sich leichter regieren.“ Daran hat sich nichts grundlegend geändert.


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