Ehrenamtliche Arbeit findet in Russland großen Zulauf. Freiwillige suchen nach Vermissten oder zertrümmern die Autos von Drogendealern - weil der Staat die Probleme nicht in den Griff bekommt.
Heute wird es wieder keinen Feierabend geben, weil so ein Typ nicht nach Hause gekommen ist. Weil er vielleicht einen Unfall hatte, sein Auto gestohlen wurde oder er nach einer Wodka-Orgie unter irgendeinem Tresen liegengeblieben ist. Weil er wahrscheinlich Hilfe braucht. Jedenfalls haben sie entschieden, diesen fremden Mann zu suchen. Deshalb sitzen sie in Kiras Jeep und schieben sich in der Schlange der späten Pendler an den Hochhauswüsten vorbei aus Moskau heraus.
Kira, die zierliche Eventmanagerin, sitzt am Steuer, ihr Freund Wadim auf dem Beifahrersitz, der bullige Rettungssanitäter Andrej auf dem Rücksitz. Hinten liegt ein Stapel Steckbriefe, die noch nach Farbe riechen. „Achtung!", steht oben in Rot. „Ein Mensch wird vermisst!" Der Mann auf dem Foto daneben heißt Pawel, ist 30 Jahre alt, hat raspelkurze Haare und ein weiches Gesicht. Auf dem Bild hält er ein Kind auf dem Arm, das aber abgeschnitten wurde. Zwei Tage vorher ist Pawel morgens losgefahren und nicht wiedergekommen.
Seine Frau hat erzählt, er sei mit einer teuren neuen Opel-Limousine unterwegs und habe eine Menge Bargeld bei sich. Business eben. Er könnte zu einem Örtchen namens Druschba ins Moskauer Umland gefahren sein. „Da fahren wir jetzt hin", meldet Andrej mit seinem großen Mobiltelefon an die Koordinatoren vom Stab. Der Krisenstab tagt im „Starlight Diner", einem kunstledernen Nachtasyl unweit des Kremls, in dem pulsierende Musik die Gespräche übertönt. Man erkennt die Freiwilligen an den Kapuzenpullovern und Augenringen, Cola-Gläsern und Notebooks. „Wir haben kein Büro", sagt Grigorij entschuldigend. „Deshalb koordinieren wir die Einsätze oft von hier aus."
Die Organisation, deren Vorsitzender Grigorij ist, nennt sich „Lisa Alert". Es sind Menschen, die in ihrer Freizeit vermisste Personen suchen. Rund 200 Aktivisten fahren in Moskau regelmäßig zu Einsätzen, manche mehrmals in der Woche. Im Internet und in den Regionen gibt es Tausende weitere Unterstützer. Grigorij verdient sein Geld, indem er im Internet russische Möbel verkauft. Mit 33 Jahren ist er der Älteste in der Runde und an diesem Tag der einzige Mann. Irina, die Pressesprecherin, arbeitet als Journalistin beim Radiosender Echo Moskwy, der als letzter unabhängiger Sender Russlands gilt. Eine sehr junge Zahnärztin und eine Jurastudentin sitzen auch dabei.
Angefangen hat alles mit einem Mädchen, das nicht nach Hause kam. Im September vor zweieinhalb Jahren ist die neun Jahre alte Lisa Fomkina verschwunden, 90 Kilometer östlich von Moskau. Sie war mit ihrer geistig behinderten Tante und zwei Hunden im Wald spazieren gegangen und hatte sich verlaufen. Grigorij las in einem Internetforum für Autofahrer den Hilferuf von Verwandten. Als er ankam, waren keine Polizisten zu sehen, nur wenige gutwillige Helfer, die Zeugen befragten und unkoordiniert riesige Waldstücke durchsuchten. „Am neunten Tag wurde die tote Tante gefunden und einen Tag später auch Lisa", sagt Grigorij so distanziert, als wäre er nicht dabei gewesen. Lisa war nur einen Tag vorher verdurstet...