Aus der kleinen Holzbude gegenüber dem Wagankowoer Friedhof faucht ein heiserer Bariton. Der alte Lautsprecher an der Verkaufsluke spuckt seine zornigen Worte wie Kirschkerne aus. Dazu schrammelt eine grausig verstimmte Gitarre. Hinter den Glasvitrinen des Lädchens vergilbt auf Büchern, Fotos und Plattencovern ein ernstes Männergesicht: lange Nase, helle Augen, aschige Haare über den Ohren. "Who's that guy?", fragt ein amerikanischer Tourist in Shorts. "Wladimir Wyssozkij", mault das junge Mädchen hinter der Luke. "He was a singer", setzt sie nach. Und schaut drein, als sei allein die Frage eine Beleidigung.
In muss man niemandem erklären, wer Wyssozkij war. Der Liedermacher, Schauspieler und Poet ist Legende. Ein großer Unbequemer, ein tragischer Held. Er liegt drüben, 50 Meter Luftlinie von der Holzbude entfernt, auf dem Prominentenfriedhof in erster Reihe. Die sowjetische Obrigkeit wollte ihn noch im Tod ignorieren, am liebsten sein Grab verstecken. Doch der Friedhofsdirektor, ein inniger Bewunderer, teilte seinem Idol den Platz am Eingang zu. Der Beamte wurde entlassen, Wyssozkij behielt ein Grab wie eine Bühne. Das Grabmal ist eine Skulptur des Sängers, den Leib von einem riesigen Tuch gefesselt.
Am schlimmsten, sagt Ljudmila, das Mädchen in der Holzbude, ist es am 25. Januar und am 25. Juli. Das sind der Geburtstag und der Todestag Wyssozkijs. Hunderte, ach, Tausende Moskauer kommen dann, kaufen die umliegenden Blumenläden leer, schleppen Gitarren an, singen, weinen und stürmen den Wyssozkij-Devotionalien-Kiosk. Zurzeit bereitet sich Ljudmila auf den größten Ansturm aller Zeiten vor. Wyssozkij ist vor genau 30 Jahren gestorben, im Juli 1980. Ihr Chef hat massenweise CDs, Bücher und Plakate nachbestellt, sogar die bronzefarbenen Gipsbüsten zu umgerechnet 23 Euro. Wyssozkij hat die Leute schon immer verrückt gemacht.
Nachdem sich der Sänger mit 42 Jahren zu Tode getrunken hatte, kamen Zehntausende zum Begräbnis und vor das Theater des Künstlers am Taganka-Platz. Die Nachricht von seinem Tod verbreitete sich wie ein Lauffeuer in , obwohl die Obrigkeit alles getan hatte, um sie geheim zu halten. Zwei winzige Todesanzeigen, die Beerdigung an einem Arbeitstag: Während der Olympischen Spiele wollte man jedes Aufsehen vermeiden.
Wyssozkij war 1938 in Moskau geboren worden. Der Offizierssohn brach ein Studium zum Bauingenieur ab, besuchte die Schauspielschule, fand Engagements zuerst am Puschkin-, dann am revolutionärsten Theater jener Tage, dem Taganka-Theater des später weltberühmten Regisseurs Jurij Ljubimow. Wyssozkij war ein besessener Schauspieler, doch die Dichtung wurde zu seiner Berufung. Nachts schrieb er wie im Wahn tragikomische und verstörend grimmige Texte über den Krieg, den Suff, die Arbeitslager, das Leben, die Liebe, den Alltag in der Enge der Sowjetunion während der Breschnew-Jahre.
Das Lied vom Denunzianten hat Wyssozkij 1964 gedichtet: "Er trank wie alle und schien froh zu sein; und wir, wir nahmen ihn auf wie einen Bruder. Aber er verriet uns am nächsten Tag, einen nach dem andern." 1968, als in Westeuropa die Studentenrevolte tobte, schrieb Wyssozkij die Wolfsjagd, eine Parabel auf die unbarmherzige Verfolgung und den Terror der Geheimdienste: "Die Wölfe werden gejagt, werden gejagt, die grauen Raubtiere, ausgewachsene und junge! Die Treiber brüllen, die Hunde bellen bis zum Erbrechen, auf dem Schnee Blut und die roten Flecken der Fähnchen."