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Feature

„Erfasset, dass ihr Menschen seid!“

Lotte Pirkers Geschichtenkaleidoskop - Zwischenwelt Nr. 4/2014 



Ich sitze im Archiv und lese schreibmaschinenbetippte Zettel mit Bleistiftausbesserungen, blättere in bis auf die letzte Zeile vollgeschriebenen Notizheften, entziffere schnell hingekritzelte Einfälle auf Flugblättern. Es ist der Versuch, die Versatzstücke des Lebens und Schaffens einer Autorin zusammenzusetzen. Einer Frau, die dem kollektiven Gedächtnis abhanden gekommen ist, eine dieser vergessenen österreichischen Schriftstellerinnen, deren Werke nicht mehr verlegt werden und nur noch in Bibliotheken und gut sortierten Antiquariaten zu finden sind. Lotte Pirker: Sozialistin, Feministin, Pazifistin. Dichterin, Dramaturgin, Geschichtenerzählerin. Volksnah, zynisch, poetisch. Ein böhmisches Mädchen aus besserem Hause, das in der Wiener Arbeiterkultur heimisch wurde – und im Nationalsozialismus verstummte.

Die Quellen meiner Arbeit sind wie ein Flickenteppich über Wien verstreut. Von ihrem Leben ist wenig überliefert. Die handfesten Details hat sie selbst und später auf wenigen Seiten ihr Sohn aufgeschrieben. Die Mehrzahl an einschlägigen bibliographischen Bänden über österreichische Literatinnen verschweigt gar Lotte Pirkers Existenz. Mühevoll müssen Zeitungsartikel recherchiert, Korrespondenzen und Kulturprogramme aus den ersten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts durchgesehen werden. Bunt beklebte und beschriebene Tagebücher, Alben und Florilegien, Sammelsurien eigener und fremder Gedichte, mit Fiktionen, Witzen, Postkarten und Fotografien fügen sich wie Puzzleteile zu einem Bild zusammen.

Die am 11. August 1877 geborene Karoline „Lotte“ Schneider wächst in einem großbürgerlichen Umfeld auf, die Familie hat adlige Kontakte. Ihre Kindheit beschreibt Lotte als glücklich. Mit sechs Jahren zieht die Familie nach Karlsbad, wo der Vater Landesgerichtsrat wird – eine der Sprossen auf seiner juristischen Karriereleiter. Backfischschwärmereien für Leutnants oder andere militärische Dienstgrade, die durch Verkupplungsaktionen ihres Vaters sogar noch befeuert werden, bezeugen die familiäre Nähe zu den in Böhmen stationierten Truppen. Gemessen an damaligen Standards wird Lotte sehr liberal erzogen. Ihre Erinnerungen in „Mein buntbewegtes Leben“, deren Manuskript aus den frühen fünfziger Jahren im Bezirksmuseum Wien-Hietzing lagert, lassen vermuten, dass die Eltern zwar nach außen hin den Anschein einer strengen Erziehung der Tochter wahren wollten, doch scheint es, als sei es ihnen in Wahrheit nicht allzu ernst mit den Konventionen gewesen. So kommt Lotte in den Genuss von Privilegien, die wohl den wenigsten Mädchen zugänglich waren. Sie lebt frei, reist in jungen Jahren auf eigene Faust ins Ausland, raucht schon als Mädchen. Ihre Eltern achten zwar auf Privatunterricht, aber auch auf künstlerische Bildung und sportliche Betätigung. So bestreitet sie Tennisturniere und legt sogar die Schwimmmeisterprüfung ab – für eine Frau Ende des 19. Jahrhunderts mehr als untypisch. Bei Theateraufführungen sitzt sie in der ersten Reihe (was wohl einige Überredungskunst gekostet hatte) und besucht Literaturkurse. Sie schildert sich als selbstbewusstes und extrovertiertes Mädchen, deren Abenteuerlust und Wissbegierde sie oft genug zur Gruppenanführerin machten: „Tatsache ist, dass damals viele Menschen nach meiner Pfeife tanzten.“

Lotte geht an die Münchener Akademie der Bildenden Künste, um Malerei zu studieren. Dort hat sie erste Kontakte mit der Frauenbewegung, lernt Rosa Luxemburg kennen. Wilde Atelierfeste werden gefeiert, Lotte hat sogar eine weibliche Verehrerin und gemeinsam demonstrieren die Frauen für das Recht, den Männern gleichgestellt in Lokalen rauchen zu dürfen. Nach zwei Jahren gibt sie die Malerei auf: „Ich konnte zu wenig, um es beruflich, zu viel, um es dilettantenhaft auszuüben.“ Stattdessen entdeckt sie ihre Liebe zur Schauspielerei. Ein Angebot, am Münchener Gärtnerplatztheater vorzusprechen, schlägt sie aus – und geht zurück nach Pilsen, dem neuen Standort ihrer Familie. „Das Leben war für mich in dieser Zeit ein buntes Kaleidoskop“, fasst sie die Zeit in ihrer unveröffentlichten Autobiographie zusammen.

Zurück bei den Eltern beginnt sie zu schreiben, veranstaltet Lese- und Theaterabende. Bei einer dieser Veranstaltungen lernt sie den Offizier Friedrich Pirker kennen. Er ist anders als die anderen Verehrer – er kritisiert sie. Das macht ihn interessant. Heimlich verloben sie sich in der Schweiz. Das Paar streitet oft. Man habe Kompromisse eingehen und beide Lebenseinstellungen in Zusammenklang bringen müssen, schreibt Lotte später. Ihre Familie rät ihr, das Verlöbnis zu lösen. 1902 heiraten sie. Die Hochzeitsreise führt sie in die Vereinigten Staaten – Eindrücke, die Lotte später schriftstellerisch verwerten wird. Nach einer nicht geglückten Bewirtschaftung eines Gutshofes in Böhmen und der Geburt eines Sohnes zieht die junge Familie 1908 nach Wien. Friedrich wird Beamter im Eisenbahnministerium, Lotte besucht eine Schauspielschule. Sie beginnt sich mit Politik zu beschäftigen, schreibt lyrische Kompositionen für die Arbeiter und für Frauen, tritt in Wirtshäusern und Vereinslokalen auf. Mit ihrer feministischen Kritik propagiert sie Frauenbilder, die sich keinen gesellschaftlichen Zwängen unterwerfen. Später wird Lotte Pirker schreiben, dies seien die ersten Jahre ihres Daseins gewesen, in denen sie sich „nutzbringend betätigen konnte“. Und sie geht viel spazieren, ihr ganzes Leben lang.


Seit endlosen Jahren leiden sie,

Seit endlosen Jahren beugen sie

In stiller Demut ihr Haupt.

[…]

Die Ketten klirren an ihren Gelenken,

Die hindern ihr Schreiten, fesseln ihr Denken,

Und machen sie müde, verdrossen und dumm.

[…]

Frauen erwacht!

[….]

Erfasset, dass ihr Menschen seid.

Menschen mit Sehnsucht nach Liebe und Glück,

formt euch selber euer Geschick!

(Aus: „Frauen“, undatiert)

 

Lotte Pirker verfasst zahlreiche Gedichte voller Lokalkolorit, die sie in der Arbeiter-Zeitung, Der Unzufriedenen und anderen Blättern publiziert, sowie Märchen, Possen und Dramen. Heitere Ehegeschichten und Lebensweisheiten wechseln sich in ihrem Werk ab mit seitenlangen Balladen. Oft vermischen sich die Genres. Markant ist ihre Abneigung gegen den technischen Fortschritt sowie Waffenlieferanten und Kriegsprofiteure, die aus dem Leid und der Zerstörung ihr Kapital schlagen. Sie verarbeitet dies in verschiedensten Stücken – zum Beispiel in dem Gedicht „Kriegsgewinner“ (1924). Es beschreibt Generationen solcher „Kriegslieferanten“, die die Weltkriege mehr oder minder versehrt überstehen und jedes Mal reicher daraus hervorgehen. Das Ende lautet folgendermaßen:


Solange Kriegsgewinner leben

Wird es auf Erden Kriege geben.

Erst wenn der letzte stirbt hienieden,

Dann hat die Menschheit ihren Frieden.

(Aus: „Kriegsgewinner“, 1924)

 

Nach dem Ersten Weltkrieg tritt Lotte Pirker der Sozialdemokratischen Partei bei. Bis zu den Februarkämpfen 1934 bekleidet sie ehrenamtlich das Amt der Bezirksrätin in Wien-Hietzing. Sie verschreibt sich besonders der literarischen Volksbildung und der Förderung junger Künstler. Vor den einfachen Leuten hält sie Vorträge, zumeist über ihre Reisen, die sie in regelmäßigen Abständen unternimmt. Die Affinität zum öffentlichen Reden ist vielleicht ein Relikt aus den Debattierklubs ihrer Jugendzeit, sie tritt ausgesprochen gern vors Publikum. Wenn sie von fernen Ländern und Kulturen berichtet, versucht sie ihre Zuhörer durch bildhafte Beschreibungen in ihren Bann zu ziehen.

Doch nicht alle waren angetan von Lotte Pirkers enttabuisierten Vorträgen. Einem Artikel vom 4. Jänner 1928 im Vorarlberger Volksblatt ist zu entnehmen, dass man im äußersten Westen Österreichs – wohl nach einem Referat über die japanische Kultur – daran dachte, das Publikum künftig „vor dem Besuch derartiger Veranstaltungen öffentlich warnen zu müssen“. Die Vortragende hätte „die Anstoß erregenden Stellen auslassen“ und ihre „Bildungsarbeit auch dem Volkscharakter“ des Bundeslandes anpassen sollen, heißt es in der Vorarlberger Zeitung.

Aus heutiger Perspektive muss insbesondere ihre Analyse afrikanischer Stammesfrauen kritisch betrachtet werden, die sie mehrmals darbietet – Kindern und Jugendlichen bleibt der Zutritt zur Veranstaltung verwehrt. Im Lichtbildvortrag „Unsere dunkelhäutigen Schwestern in Afrika“ aus den frühen dreißiger Jahren beschreibt sie minutiös Erscheinungsbild, Gebaren und Eigentümlichkeiten afrikanischer Frauen. Dabei typologisiert sie diese – ein wissenschaftliches Phänomen der Zeit. Über Venedig und Süditalien war Lotte Pirker 1930 zusammen mit einer Konzertpianistin gen Süden gelangt. Blättert man in ihrem Reisetagebuch mit dem Titel „Zwei Wienerinnen in Afrika“, wird klar: Weiter als nach Tunis und Tripolis an der Nordküste ist sie nicht ins Innere des Kontinents vorgedrungen. Dabei stellt sich die Frage, auf welcher Grundlage sie die Ethnien derart detailliert beschreibt, und ob es sich nicht vielmehr um die Wiedergabe von Klischees und phantasievollen Interpretationen handelt. Dadurch bleibt sie den Rassentheorien der Jahrhundertwende und deren Terminologie verhaftet, in denen „Hottentotten“ als Wilde gelten, „Eskimos“ wie Zootiere ausgestellt werden. Auch Lotte Pirker betont in ihrem Bericht die Andersartigkeit der Naturvölker, der „fettleibigen Weiber“ mit entstellten Schamlippen und ihrer „Negerkinder“. Dies irritiert. Dennoch müssen ihre zahlreichen Reisevorträge und Rezitationen als Mittel der Völkerverständigung gesehen werden, als Versuch, die Hürden zwischen den verschiedenen Kulturkreisen abzubauen.

1997 wird Lotte Pirker in der Reihe „Vergessene Autoren der Moderne“, herausgegeben von der Universität Siegen, in der 68. Ausgabe der Serie ein Nachdruck eines ihrer Werke gewidmet: „Das geraubte Ich und andere Grotesken“, ein ursprünglich 1925 im Bugra-Verlag erschienener Kurzgeschichtenband. Es sind Parabeln und Persiflagen, durchtränkt von Zeit- und Kriegskritik. Geschichten des kleinen Mannes und der hauptstädtischen Stimmungslage der Zwischenkriegsjahre reihen sich aneinander – Bilder also, die Lotte Pirker wachen Auges nachzeichnet und ins Absurde steigert. Im militärbegeisterten und waffenbesessenen Grundkonsens der Zeit drücken sich ihre pazifistische Überzeugung und ihre Kritik am Kapitalismus vor allem durch zynische Pointen aus. Die Ironie muss als eine Art Flucht verstanden werden: als Ausdruck der Resignation vor dem Zeitgeist.

Ihr Stil zeichnet sich auch durch den fortwährenden Dialog mit dem Leser aus. Immer wieder wendet sich Lotte Pirker direkt an ihr Publikum, interagiert mit ihm, fragt, antwortet – und lässt es dann vor den Kopf gestoßen zurück. Der Humor ist rabenschwarz, bitterböse Pointen runden die Grotesken ab. Die Enden sind schroff, oft drastisch, die Protagonisten fratzenhaft überzeichnet. Dies kontrastiert die eher einfach gehaltenen Handlungsstränge, so manches Zwiegespräch findet im Wiener Dialekt statt. Dabei sind diese tiefgründigen Geschichten häufig aus der Froschperspektive erzählt: Gespräche zwischen einem Telegraphendraht, einer Sardinenbüchse und einer Puderdose oder die Memoiren einer Bettwanze sind Zeugnis einer Liebe zum Detail, zu den kleinen, unscheinbaren Beobachtungen. Überhaupt wirken die Erzählungen oft drehbuchhaft, Pirkers Nähe zum szenischen Schreiben ist immer wieder spürbar.

Neben all den bizarren Schilderungen und der stets inhärenten Gesellschaftskritik werden auch intime Gedankengänge erkennbar und stimmen den Leser nachdenklich. Obgleich fiktionalen Protagonisten in den Mund gelegt, klingen sie wie eigene Reflexionen.


„Mein Ich, wer gibt mir mein Ich wieder? Man hat mir mein Ich geraubt. Bin ich nicht mehr ich? …. Ja, wer aber bin ich dann? Wer? Wer? Soll ich ichlos den Rest meiner Tage vertrauern? Oder bin ich ich? Bin ich es noch oder bin ich es wieder? O, wer löst mir dieses furchtbare Rätsel? Wer ? ? ?“

(Aus: „Das geraubte Ich“, Das geraubte Ich und andere Grotesken, 1925, S. 11)

 

1933 wird die „Vereinigung sozialistischer Schriftsteller“ gegründet. Im Vereinsstatut heißt es, man versammle sich auf Basis einer gemeinsamen sozialistischen Weltanschauung „zur geistigen und materiellen Förderung (schriftstellerischer) Arbeit“. Die Unterstützung der von den Nationalsozialisten verfolgten Autoren gilt dabei als essentiell. Lotte Pirker tritt bei, es werden regelmäßig Lesungen und Dichterabende veranstaltet. Zusammen mit anderen Schriftstellern leistet sie Aufklärungsarbeit zu den NS-Bücherverbrennungen. Auch an Autorenabenden der Künstlervereinigung „Der Turm“ wirkt sie mit.

Einen ihrer größten Erfolge erreicht sie noch im Jahr 1934 mit der Adaption des „Struwwelpeter“ für die Theaterbühne. Das Stück wird nicht nur im Wiener Varieté Leicht und in der Urania, sondern auch landesweit aufgeführt.

Besonders Wien und seinen Bewohnern und Jahreszeiten widmet sie viele Poesien. Diese Großstadtdichtung, die vom Alltag der kleinen Leute erzählt und die Stimmung in der Stadt einfängt, erinnert an die die jüdische Dichterin Mascha Kaléko („Das lyrische Stenogrammheft“), die sich in den zwanziger und dreißiger Jahren in Berliner Bohème-Cafés herumtreibt. Die beiden Frauen verbinden einige Parallelen, was sie jedoch entscheidend trennt, sind die Kriegsjahre. Während Kaléko 1938 nach New York emigriert, bleibt Lotte Pirker in Wien. Es ist das Jahr, in dem ihr – im Ersten Weltkrieg schwer verwundeter und bis 1918 in russische Gefangenschaft geratener – Ehemann stirbt und sie zur Witwe macht. Er war schon Jahre zuvor alleine nach Chicago zu Verwandten ausgewandert. Viele ihrer Wiener Künstlerfreunde, darunter Juden und Linke, fliehen in diesen Jahren aus Österreich. Ihr Bekanntenkreis lichtet sich.


Heimat

Heimat ist wie ein Spinnennetz,

In dem wir zappelnd hängen,

Wenn auch alle Gedanken in uns

Weit in die Ferne drängen.

 

Haben endlich wir uns befreit

Aus den hauchzarten Fängen,

Sehn wir zu unserem größten Schreck

Ein Stück unseres Herzens drin hängen.

(Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 6)

 

Vielleicht liegt in diesen Gedichtzeilen die Antwort auf die Frage, wieso sie in Wien verharrt, während ihre Kollegen aus Angst vor der Haft oder dem Tod fortgehen. Naheliegend ist überdies Lotte Pirkers tief verwurzelter Glaube an eine bessere Zukunft. Es ist anzunehmen, dass sie diese Flucht nach Innen, auch als Innere Emigration bezeichnet, als Protest und Widerstand gegen das Regime auffasst, das sie so sehr ablehnt, und das Bleiben gewissermaßen als Aufgabe begreift.


Friedlos rinnen die Tage

In Kälte und Dunkelheit hin,

Was ist aus dir geworden

Mein schönes, mein sonniges Wien?

Klaffende Wunden zerfleischen

Die stillen Straßen der Stadt,

So müde sind deine Menschen

So kraftlos und so matt.

(Aus: „Armes Wien!“, 1945)

 

Sie wirft sich den Mantel der Unauffälligkeit über. Ihre Wohnung in der Missindorfgasse im heutigen Wien-Penzing bleibt ihr erhalten. Wie sie die Kriegsjahre verbracht hat, kann aus den bis dato vorliegenden Quellen nicht abgelesen werden. Nach der Auflösung der Sozialdemokratischen Arbeiterpartei 1934, dem damit verbundenen Verlust ihrer politischen Ämter und dem Anschluss ans Deutsche Reich 1938 zieht sich die Schriftstellerin aus dem öffentlichen Leben zurück und stellt alle Publikationen ein. Ihre Stimme ist zum Schweigen gebracht worden.


Stiller Kampf

Immer schon, mein ganzes Leben,

Kämpfte ich für Menschenrecht,

Für ein starkes, tapfres, freies,

Lebensfreudiges Geschlecht.

 

Und ich werde weiter kämpfen,

Wenn auch nur im engen Kreis.

Selbst wenn niemand, außer diesem,

Von dem Kampfe etwas weiß.

(Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 46)

 

„Wieso ich Friedenskämpferin wurde“, heißt es im von Lotte Pirker verfassten Vorwort zu den Friedensgedichten, einer Lyrikanthologie verschiedenster Autoren, darunter auch Bertolt Brecht. Schon in der Münchener Akademie hatten sie die pazifistischen Reden aus dem Munde Rosa Luxemburgs fasziniert – ein Schlüsselmoment, Träume von einer besseren Welt. Aber erst später, „als wir den zweiten Weltkrieg durchlebten und durchzitterten, kam uns zum Bewusstsein, dass man Kriege weder durch Bilder, Worte und Gedichte Einzelner, noch durch die stillschweigende Duldung der Massen aus der Welt schaffen kann, sondern nur durch eine großzügige weltumspannende Friedensorganisation“, so die einleitenden Worte. Der Band enthält zwei lyrische Werke aus ihrer Feder. In dem Gedicht „Wie wir Wiener Kinder den Krieg erlebten“ wechseln sich Schilderungen von kriegsgebeutelten Einzelschicksalen aus der Bevölkerung und die Zeitungsberichterstattung über Kampfhandlungen und Blutvergießen an der Front ab. Die Rufe eines Sprechchors – „Extraausgabe! Extraausgabe!“ – schleichen sich rhythmisch zwischen die Strophen. Das zweite Gedicht trägt den Titel „Kriegsjugend“ (in einem älteren Entwurf noch „Die Jugend des ersten Weltkrieges“). Es stellt eine Art sozialistisches Manifest in Reimform dar, ein Appell, nicht auf rechte Gesinnungen hereinzufallen. Letztendlich ist es ein Abbild ihrer eigenen politischen Anschauung.


„Jugend glaubt nicht diesen Worten,

Die euch locken allerorten!

[…]

Glaubt nicht an das Dritte Reich,

Wo dem Schlotbaron ihr gleich.

Glaubt nicht, dass man Wunder schafft,

Glaubt nur an die eigne Kraft,

An den Aufstieg aller Klassen,

ohne Unterschied der Rassen,

[…]

Lasst uns nicht auf Phrasen hören,

Die uns Herz und Sinn betören,

Haltet fest an unsern Rechten,

Lasst uns für den Frieden fechten,

Jugend euch gehört die Erde,

Macht, dass sie euch Heimat werde!“

(Aus: „Kriegsjugend“, Friedensgedichte, nach 1945)

 

Nach dem Zweiten Weltkrieg engagiert sich Lotte Pirker in der kommunistischen Partei für kulturelle Angelegenheiten und leitet zeitweise das Penzinger Kulturheim. Ihre öffentlichen Auftritte reduziert sie. Zu ihrem achtzigsten Geburtstag veröffentlicht sie 1957 im Europäischen Verlag den Gedichtband „Blüten vom Lebensbaum“. Es scheint, als ob sie – die ja einer Generation entstammte, die beide Weltkriege überlebt hatte – ab diesem Zeitpunkt den Kampf für den Frieden den Generationen nach ihr überlässt.


Doch nun hab ich endlich mich gefunden.

Mir, nur mir, gehöre ich fortan.

Keinen Menschen gibt es hier auf Erden,

Der mein Ich mir wieder rauben kann.

(Aus: „Gefunden“, Blüten vom Lebensbaum, 1957, S. 41)

 

Am 16. Dezember 1963 stirbt Lotte Pirker 86-jährig. Sie war beim Ordnen alter Erinnerungsstücke und Fotografien in ihrer Wohnung eingeschlafen und nicht wieder aufgewacht. Sie hinterlässt ein Stück österreichischer Literaturgeschichte: Worte von einer, die gegen den Strom dachte.

Es sind nur Mosaiksteinchen, die ich in den Archiven zusammengesetzt habe. Lücken gibt es noch viele. Bunt und stark zeichnen sich jedoch die Konturen dieses Bildes ab.

 

 

Lotte Pirker: Das geraubte Ich und andere Grotesken. Wien 1925.
Lotte Pirker: Blüten vom Lebensbaum. Gedichte. Wien 1957.

Lotte Pirker: Das Leben war ein buntes Kaleidoskop. In: Hannes Stekl (Hg.): Höhere Töchter und Söhne aus gutem Haus. Bürgerliche Jugend in Monarchie und Republik. Wien 2000, S. 127-144.

 

 

Anja Melzer, geb. 1989 in Niederbayern, lebt seit 2009 in Wien. Sie studierte Kunstgeschichte und Publizistik und arbeitet als freie Journalistin.