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In der Gutachterfalle

Ein Mann verschickt wirre E-Mails und landet am Ende in der Psychiatrie - untergebracht auf unbestimmte Zeit. Maßgeblich verantwortlich dafür: eine Diagnose, die ohne persönliche Visite des Psychiaters entstand. Die Qualität forensischer Gutachten ist alarmierend

Peter H. hat ein Poster entworfen, es sieht aus wie eine Art Fahndungssteckbrief. "Gesucht" steht in großen Lettern darauf, darunter prangt ein Foto von einem der profiliertesten Gerichtspsychiater Österreichs, einem, den jeder kennt und der bei fast allen wichtigen Prozessen dieses Landes vorsprach: Manfred Walzl. Sogar ein Kopfgeld hat Peter H. auf den Herren ausgesetzt: "Belohnung: 10.000 Euro für seine Verhaftung". Er hat es kopiert, jedes einzelne Papier wie ein Kunstwerk nummeriert und mit seiner Unterschrift signiert. Seine limitierte Erstauflage, sagt er.

Der Urheber ist aber kein provokanter Streetart-Künstler. Peter ist eingesperrt. Nicht einmal er selbst weiß, wie lange, vielleicht für immer. Seit acht Monaten sitzt der 62-jährige Mann in der geschlossenen Station des Sigmund-Freud-Klinikums in Graz. Nervenheilanstalt. Zu Unrecht, behauptet Peter. Nicht nur er.

Auf den ersten Blick könnte man meinen, Peter H. sei ein Spinner, ein Irrer, einer, der skurrile Poster malt. Also offenbar einer, der zu Recht in der Psychiatrie ist. Peters Fall ist schwierig. Inzwischen beschäftigt er den Obersten Gerichtshof, das Oberlandesgericht Graz und sogar die Bundespolitik. Nicht wegen Peter, sondern vielmehr wegen der Gutachten, die ihn in die Forensik gebracht haben. Gutachten, für die besagter Grazer Gerichtspsychiater Walzl verantwortlich zeichnet.

Manfred Walzl gilt als Monopolist im Einzugsgebiet Graz. Der nach offiziellen Maßgaben eigentlich mittlerweile pensionierte Gutachter ist noch immer einer der meistbeauftragten Sachverständigen der steirischen Staatsanwaltschaft. Er bekommt fast jeden Fall zugeteilt. Das räumt ihm eine womöglich tonangebendere Rolle ein, als viele öffentlich eingestehen wollen. Ein einziges Gutachten kann ein Urteil fast allein beeinflussen. Psychiatrische Beurteilungen wie im Fall Peter H. bestimmen so am Ende über Menschenleben.

Gewichtige Expertenmeinung

Niemand, der eine Straftat aufgrund einer Krankheit begangen hat, kann dafür verurteilt werden. Richter im Strafprozess sind aber keine Ärzte, sie haben wenig Ahnung davon, wie forensische Untersuchungen überhaupt ablaufen. Sie brauchen Expertenmeinungen, wenn Zweifel an der psychischen Gesundheit ihrer Angeklagten besteht, um zu entscheiden, ob jemand überhaupt als zurechnungsfähig eingeschätzt werden kann. Und hier zeigt sich: Auf diese Gutachten forensischer Sachverständiger verlassen sich die Gerichte auch ausnahmslos. "Fast blind", heißt es, "unkritisch", wenn man sich in der Branche umhört.

Sind Psychiater also womöglich die eigentlich Mächtigen, die heimlichen Richter im Strafverfahren? Oder - wie auch bei Peter H. - besser formuliert: die unheimlichen?

Betrachtet man Peters Geschichte genauer, wird klar: Sein Schicksal symbolisiert wie fast kein anderes die vorherrschende Gutachter-Misere in Österreich. Bemängelt wird seit Jahren schon in erster Linie die schlechte Honorierung und auch die mangelhafte Ausbildung der Sachverständigen. Im ganzen Land gibt es keinen forensischen Lehrstuhl. Das hat zur Folge, dass sich hierzulande die Situation dieses Metiers so dunkel darbietet wie in fast keinem andern europäischen Staat. Für die Betroffenen bleibt das nicht folgenlos. Allerdings: Die Justiz weiß das. Seit 2014 liegen Empfehlungen einer hochkarätig besetzten Expertenkommission vor, die auf die Gutachterproblematik im Rahmen des Maßnahmenvollzugs hingewiesen hat. Verändert aber hat sich bis heute nichts.

Im Jahr 2011 veröffentliche sogar eine deutsche Uniklinik im baden-württembergischen Ulm eine umfassende Studie zu österreichischen Gutachten bei Sexualstraftaten -gefördert vom hiesigen Justizministerium. Die Ergebnisse fielen verheerend aus. 40 Prozent der untersuchten forensischen Stellungnahmen ließen keine wissenschaftlichen Methodiken erkennen, die Gutachter verließen sich lieber auf den "gesunden Hausverstand". Als alarmierend angeführt wurde darüber hinaus auch das von Gerichten häufig angewandte Prinzip von dauerbeauftragten "Hausgutachtern".

Stephanie Krisper, Nationalratsabgeordnete der Neos, bewertet die derzeitige Lage in Österreich als bedenklich: "Die Gutachtertätigkeit erreicht nicht die Qualität, die dem Rechtsstaat Genüge tut. Wir sehen uns hier einer menschenrechtlich höchst problematischen Situation ausgesetzt." Sie wird in wenigen Tagen eine parlamentarische Anfrage zur Thematik einreichen.

Keine Medikamente

Peters Welt reicht im Moment nur bis zur Stationstür. Er darf nicht hinaus, er hat weder Handy noch Internet, und inzwischen darf er auch keine Faxe mehr verschicken. Er wurde in einem Acht-Betten-Zimmer untergebracht, fast alle seiner Zimmerkollegen haben ebenfalls Walzl-Gutachten in ihrem Akt eingeheftet. Manchmal, wenn ihnen langweilig ist, lesen sie sich gegenseitig die skurrilsten Passagen vor (siehe Faksimile). Peter verweigert nach eigener Aussage jegliche Medikation und besucht auch keine Therapie. Schließlich sei er ja gesund, betont er. Den Vorwurf an die Klinik, dass seine Gelenkschmerzen wegen seiner rheumatoiden Arthritis vom Spital ignoriert würden, lässt der Direktor des Sigmund-Freud-Klinikums, Michael Lehofer, nicht gelten: "Jeder, der körperliche Leiden hat, wird auch hier behandelt."

Warum also wird dieser Mann, Absolvent des Londoner King's College und Verfasser zahlreicher historischer Romane, seit Monaten in der Grazer Psychiatrie festgehalten? Umgangssprachlich nennt man die Anstalt auch "Puntigam links", aber das weiß er nicht, denn er ist britischer Staatsbürger und hat nie wirklich in Österreich gelebt. Trotzdem spricht er fast akzentfrei Deutsch. Und in diesem Deutsch verfasste er damals, im August 2013, als er sich gerade mit seiner Mutter in der Steiermark niedergelassen hatte, massenhaft Mails an österreichische Behörden, an Gerichte, die Polizei, Bezirkshauptmannschaften. Er ließ nicht locker. Unter prussian.blue1806@gmail.com warf er ihnen Korruption und Klüngelei vor. Peter entwickelte sich zum hartnäckigen Quälgeist, zum unangenehmen Querulanten. Irgendwann schritt die Justiz ein und klagte ihn wegen Verleumdung. Und dann kam Walzl. Ein psychiatrisches Gutachten von Peter nämlich müsse angefertigt werden, hieß es, um seinen geistigen Zustand und etwaige Problematiken zu erfassen. Peter, grundsätzlich misstrauisch eingestellt, googelte daraufhin den Sachverständigen. Er las, dass Walzl eine Koryphäe sei. Allerdings: eine umstrittene. Walzl hatte zum Beispiel den noch immer flüchtigen Mörder von Stiwoll begutachtet, den Amokfahrer von Graz, er hatte sich aus einem Missbrauchsprozess eines Arztes entbinden lassen, der international für Furore sorgte. Peter entschied daher: der nicht.

Gutachten auf E-Mail-Basis

Doch die Staatsanwaltschaft in Graz gewährte ihm keinen Ersatz, Walzl blieb der beauftragte Gutachter. Er verfasste zwei umfangreiche Stellungnahmen zur psychischen Gesundheit von Peter. Ohne ihn je persönlich getroffen und untersucht zu haben. Walzl nahm sich die E-Mails vor, auch er war von ihm im Vorfeld mit Anschuldigungen überschwemmt worden. Die Diagnose, die er dem Gericht nach Aktenanalyse vorlegte, fiel hart aus: Er attestierte dem Mann eine "schwere paranoide Persönlichkeitsstörung" mit "Psychosewertigkeit". Wegen einer Hausdurchsuchung, bei der man 15 VHS-Kassetten mit Kinderpornos beschlagnahmte, die Peter H. nicht gekannt haben will, fügte Walzl zudem den "dringenden Verdacht auf sexuelle Deviation im Sinne einer Pädophilie" hinzu. In der Hauptverhandlung im Februar steigerte der Sachverständige Walzl seine Diagnose sogar noch einmal und stellte eine "wahnhafte Störung" in den Raum.

Im Normalfall wäre das wohl niemandem aufgefallen, und vielleicht ist es auf Peter H.s Querulantentum zurückzuführen, vielleicht auf seine große Unterstützergemeinde (siehe Kasten Seite 36). Das Urteil jedenfalls, das Peter als unzurechnungsfähig für unbestimmte Zeit in die Psychiatrie einweisen sollte, wurde nicht rechtskräftig. Der bekannte Wiener Strafverteidiger Helmut Graupner übernahm vor Kurzem den Fall. Und er trägt diesen nun zur höchsten juristischen Instanz, die es in Österreich überhaupt gibt: zum Obersten Gerichtshof. Graupner sieht zum einen den Vorwurf der Verleumdung nicht erfüllt, die greift nämlich nur, wenn jemand wissentlich falsche Dinge verbreite. Auch die Begutachtung bewertet er als höchstgradig fragwürdig. Dass jemand auf Basis einer aufgrund seiner Krankheit nicht als Straftat zu wertenden Tat und eines oberflächlichen Gutachtens in die Psychiatrie gesteckt würde, halte er für eine Menschenrechtsverletzung.

Gegengutachten

Maßgebliche Grundlage dafür ist ein weiteres Gutachten, eingelangt aus Innsbruck. Verfasser ist just der ebenfalls bekannte Rechtspsychologe Klaus Burtscher. Doch im Fokus seiner Untersuchung aus den fernen Tiroler Bergen steht nicht, wie man meinen könnte, der Angeklagte Peter H. - sondern sein Grazer Kollege Walzl. Und diese Ausführungen sind ungewöhnlich kritisch. Es scheint ein mutiger Schritt zwischen Kollegen. Burtscher bescheinigt den Gutachten von Walzl ein unterirdisches Zeugnis.

In seiner ausführlichen Stellungnahme zählt er eine Reihe gravierender Mängel auf: Walzl bemächtige sich juristischer Termini und Schlussfolgerungen, was seiner Funktion im Prozess als Beweismittel widerspräche. Ein reines Aktengutachten, ohne ein vorheriges Gespräch, sei zudem wissenschaftlich weder anerkannt noch für eine derartig potenziell lebenslängliche Unterbringung haltbar. Verwundert zeigt er sich in seinen Ausführungen auch über die gleichzeitige Diagnose der "wahnhaften Störung" und der "paranoiden Persönlichkeitsstörung", diese schlössen einander -zumindest aus medizinischer Sicht, so Burtscher - gegenseitig aus. Anerkannte psychiatrische Instrumentarien zu zukünftigen Gefährdungsprognosen des Klienten seien nicht einmal für Experten nachvollziehbar. Daraus folgert er: Eine schlechtere Bewertung als ein "in sich widersprüchliches" Gutachten könne es in der Forensik eigentlich gar nicht geben. Befragt man weitere gerichtlich eingetragene Sachverständige sowie Vertreter diverser steirischer Beratungsstellen, die sich Patienten, Straftätern oder anderweitig Benachteiligter annehmen, bekommt man stets eine fast wortgleich lautende Antwort: Man verstehe nicht, weshalb Walzl noch immer im Amt sei, persönlich würde man den Psychiater nicht auswählen. Zitieren lässt sich aber niemand, zu groß ist die Angst vor Nachteilen ihrer Schützlinge und zivilrechtlichen Klagen.

Gutachten wie am Fließband

Von News konfrontiert, verneinte Walzl, von der Tiroler Einschätzung bis dato Kenntnis erlangt zu haben. Natürlich könne ein Aktengutachten niemals so akkurat sein wie die Beurteilung nach einem persönlichen Gespräch. "Aber es gibt natürlich Krankheiten, die so eindeutig sind, da gibt es dann nichts zu fackeln", so Walzl.

Durch eine parlamentarische Anfrage der Neos war Walzl angehalten, die Anzahl seiner jährlichen Aufträge offenzulegen. Ergebnis: 365, also im Schnitt ein Gutachten pro Tag. "Gutachten wie am Fließband", lautete umgehend die Kritik. Das ist tatsächlich bemerkenswert, bedenkt man, dass Walzl, der neben seiner psychiatrischen Tätigkeit lange Leiter der Grazer Schlafklinik war, mehr als 1.000 Vorträge hielt und zeitgleich sieben Bücher publizierte, das erfolgreichste trägt den Titel "Jungbrunnen Bier". Wie bewältigt Walzl dieses Pensum? Gegenüber News meinte er: "Es geht halt kein Hobby mehr und auch kein Wochenende. Aber ich müsste es ja nicht machen, es interessiert mich." Ob er sich doch irgendwann selbst in den Ruhestand versetzen wird, entscheide nicht er selbst, sondern "nur der liebe Gott".

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