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Einundsiebzig

Parndorf. Es gibt dieses Foto, das eigentlich niemand hätte sehen sollen und das trotzdem bald jeder kannte. Eine dieser entsetzlichen Ikonen der Flüchtlingskrise, die sich eingebrannt haben. Nicht jenes mit dem Mädchen in einem jordanischen Camp, das aus Angst vor der Kamera die Arme in die Luft streckt, nicht jenes aus dem Mittelmeer mit dutzenden Menschen in Todesangst und Schwimmwesten, nicht jenes, das einen angeschwemmten syrischen Buben zeigt. Sondern das mit dem Kühllaster in einer Pannenbucht auf der Ostautobahn, auf dem das Konterfei eines riesigen Huhns prangt - und aus dem, fast unauffällig, braunes Leichenwasser tropft.

Dessen geöffnete Hecktür den Blick auf ineinander verknotete, aneinandergepresste, miteinander erstickte Menschen freigibt. Unverpixelt. Das schon beim Anblick nach Verwesung riecht. Ein Foto, mit dem genug gesagt war, dachte man damals, im August 2015, genug gesehen, genug geschockt, mehr musste man eigentlich gar nicht mehr wissen. Mehr wollte man nicht mehr wissen.

Während die heimische Medienlandschaft und der Presserat monatelang über die "Fotografie der Schande" stritten, die auf noch immer ungeklärte Weise ihren Weg in die "Kronen Zeitung" fand und dann um die Welt ging, während Politiker vom "schlimmsten Massenmord der Zweiten Republik" sprachen, begannen Journalisten vom "Spiegel" bis zur "New York Times" die Schicksale aller 71 Flüchtlinge, die in diesem Lkw ihr Ende fanden, zu rekonstruieren.

13 Quadratmeter Ladefläche

An diesem Freitag jährt sich ihr Todestag zum ersten Mal. Es war der 26. August 2015, als 59 Männer, acht Frauen und vier Kinder - das jüngste erst zehn Monate alt - aus Syrien, Afghanistan, dem Irak und Iran am frühen Morgen an der serbisch-ungarischen Grenze in einen Lkw stiegen. 13 dunkle Quadratmeter Ladefläche, die Türen zusätzlich mit Draht versperrt. Gequetscht in den luftdicht verschlossenen Raum, dürften sie nach nur drei Stunden erstickt sein.

Bei Parndorf ließ der Lenker den Lkw fahrerlos zurück. Wir wissen inzwischen sehr viel. Um das meiste davon kümmert sich die ungarische Staatsanwaltschaft. Denn fünf der sechs Schlepper, vier Bulgaren und ein Afghane, die im Zusammenhang mit der Tat stehen, sind dort in Untersuchungshaft. Sie schweigen. Zwar wurden die Leichen in Österreich entdeckt, doch weil sie bereits auf ungarischem Staatsgebiet erstickten, sind nun die Beamten jenseits der Grenze zuständig. Erst vor wenigen Tagen packte ein Mitglied des Schleusernetzes aus. Er belastet seine Komplizen schwer. Die Bande hat demnach etwa 30 weitere Fahrten organisiert.

Man habe auf Kastenbauten zurückgegriffen, weil Lkw-Planen bei Kontrollen zu gefährlich wurden - die Flüchtlinge hätten sich bemerkbar machen können. An der Todesfahrt selbst hätte die Bande 100.000 Euro verdienen sollen. Es dauerte mehrere Tage, bis die verkeilten, ineinander verhakten Leichen aus dem Lkw entnommen werden konnten, mehrere Monate, bis man sie identifiziert hatte. Ein Mann ist bis heute namenlos.

Im Herbst soll Anklage wegen Mordes erhoben werden, mit dem Prozess ist Anfang 2017 zu rechnen. Auch hierzulande wird noch ermittelt. Im Fokus: das Horror-Foto. Die Vermutung, dass es der "Krone" aus Polizeikreisen zugespielt wurde, hat sich erhärtet. 17 Polizisten seien im Visier der Staatsanwaltschaft Eisenstadt. Grundsätzlich stehen auf Verletzung des Amtsgeheimnisses bis zu drei Jahre Haft.

In diesen Tagen publizieren internationale Medien die Lebensgeschichten der Toten, ihre Würde bekommt wieder ein Gesicht, sie soll kein Bild zusammengepferchter Körperteile bleiben. Und in Österreich selbst? Es ist auffällig ruhig geworden. An einen Staatsakt dachte man noch letztes Jahr, ein Gräberfeld oder ein Mahnmal müsse her, forderten andere. Aus den vordersten Bänken des Stephansdoms blickten bei einem Gottesdienst betretene Staatsmänner und -frauen, von denen der Großteil heute gar nicht mehr im Amt ist. Bis dato wurde keine der Ideen umgesetzt. Allein in Parndorf arbeitet man die Katastrophe in einem Theaterstück auf. Es soll im Jänner nächstes Jahr uraufgeführt werden.

Anrufmarathon beim Bundeskanzleramt, beim Innenministerium, beim Kulturminister, bei der burgenländischen Landesregierung. Ratlosigkeit. Niemand fühlt sich für irgendeine Art von Erinnerung zuständig. Und es weiß auch niemand, wer sich zuständig fühlen könnte. Man nennt es europäischen Massenmord, doch man möchte sich nicht erinnern.

Nur 15 Tote in Wien bestattet

Nur 15 der Toten wurden tatsächlich in Wien bestattet, alle anderen zurück in ihre Heimat überführt. Die muslimische Tradition, Verstorbene so schnell wie möglich unter die Erde zu bringen, erschwerte ein gemeinsames Begräbnis. Es sei keine denkbare Alternative gewesen, die peu à peu von der Obduktion freigegebenen Leichname wochenlang dauerzukühlen, so die Sprecherin der Islamischen Glaubensgemeinschaft, Carla Amina Baghajati. Von den islamischen Vertretern heißt es zudem, die Zusammenarbeit mit den Behörden habe sich insgesamt als "sehr schwierig und chaotisch" erwiesen. Auch von der Politik sei wenig Interesse gekommen. Lediglich ein einziger Politiker, ein Mitglied der Wiener SPÖ, sei auf einer der Beerdigungen in Wien gesichtet worden.

Erst zwölf Monate, und doch scheint jenes Österreich des vergangenen Sommers einem anderen Zeitalter anzugehören. Die Tragödie von Parndorf ist eine Schwelle, an der sich vieles verschob. Hans Peter Doskozil, der damals noch Polizist im Burgenland war und für einen humanen Flüchtlings-Umgang an den Grenzen plädierte, sitzt heute im Verteidigungsministerium und schmiedet Obergrenzen- und Zaunpläne. Die damalige Innenministerin Johanna Mikl-Leitner, die nach dem Drama mit dem Schlagwort "Tempo, Tempo, Tempo" eine legale EU-Einreise für Flüchtlinge forderte und später die Balkanroute schloss, hat mittlerweile einen neuen Job in der niederösterreichischen Landesregierung. Christian Kern, der inmitten der großen Willkommenseuphorie als entschlossener ÖBB-Chef auftrat, ist dagegen heute Bundeskanzler. Und am Westbahnhof - damals kurzzeitig der bedeutendste Umschlagplatz zwischen Ost- und Westeuropa für Flüchtlinge, Teddys und liebevoll verpackte Manner-Schnitten - halten inzwischen nur noch Regionalzüge.

Parndorf aber bleibt: als Massengrab, nicht in Aleppo, nicht auf Lesbos, sondern hier, bei uns. Es ist der Moment, an dem die Tragik der Flüchtlingskrise zum ersten Mal direkt in Mitteleuropa angekommen war - und plötzlich fassbar schien. Und der irgendwann wieder verschluckt wurde. Wer aber heute Parndorf sagt, sagt den Lkw mit. Das Foto. Die 71 Leben. Und tausend Fragen, auch noch ein Jahr danach.


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