Lumpi hält den Becher mit heißem Tee ganz fest in seinen Händen. Abwechselnd nimmt er einen Schluck davon und einen großen Bissen von seinem Wurstbrot. Jeden Tag steht er hier und wartet auf den Bus, der hoffentlich sein Abendessen bringt. Sein Gesicht ist komplett vernarbt. Narben, über die er nur ungern spricht. Stattdessen erzählt er von seinen Kindern, er kann sich nicht erinnern wann er sie zuletzt gesehen hat. Sie schämen sich für ihn, denn er ist berufsunfähig und schwerer Alkoholiker.
Es ist stockfinster, und die Kälte lässt den Atem der Menschen zu Rauchwolken aufsteigen. Es ist kurz nach acht, als der VinziBus im Augarten in Graz ankommt. Eine lange Schlange von Menschen unterschiedlichster Herkunft und Altersgruppen wartet bereits. Gerold Zima öffnet die Schiebetür des Busses. Darin übereinander gestapelte Kisten mit Wurst-, Butter- und Käsebroten sowie süße Mehlspeisen und große Kanister mit warmem Früchtetee. Nacheinander bekommt jeder der Wartenden ein Brot und einen Tee in die Hand gedrückt, manche stecken sich auch mehrere Brote ein. Der Hunger ist groß, und die Nacht kann lange werden. Eine Gruppe älterer Männer, unter ihnen auch Lumpi, unterhält sich. Lumpi ist der Entertainer der Runde. Er erzählt einen Witz nach dem anderen. Erst als die anderen langsam aufbrechen, zeigt sich Lumpi von einer anderen Seite. Ernst und nachdenklich fängt er an zu erzählen. In einem Stahlwerk in Bruck an der Mur, wo er vor gut 20 Jahren gearbeitet hat, gab es einen schweren Unfall. Bei einer Explosion bekam er heiße Schlacke ins Gesicht. Die Ärzte versuchten zu retten, was noch zu retten war. Aufgeregt holt Lumpi ein zusammengefaltetes altes Foto aus seiner Jackentasche: „So habe ich mal ausgesehen, gar nicht so schlecht, oder?" Er zeigt mit dem Zeigefinger auf die Person auf dem Foto. Das Lächeln ist noch dasselbe. Das Gesicht ist jedoch ein anderes, und die Narben lassen nur schwer die früheren Gesichtszüge und Feinheiten erkennen. „Sehen tu ich auch fast nichts mehr, aber so muss ich mir das Gesicht wenigstens nicht jeden Tag im Spiegel anschauen!" Lumpi überspielt die Situation mit Humor, das hat er sich antrainiert. Gerold Zima, der nicht nur den VinziBus fährt, sondern auch im VinziDorf ehrenamtlich arbeitet, weiß aber, was hinter dieser Fassade steckt. Lumpi, der eigentlich Werner heißt, hat ein Alkoholproblem. Es sind Menschen wie diese, die Gerold Zima berühren und ihn dazu bewegen, diese ehrenamtliche Tätigkeit auszuführen.
Seit 25 Jahren, also seit 1991, fährt der VinziBus, ein Projekt der VinziWerke Graz, täglich vom Augarten über den Jakominiplatz und schließlich zum Hauptbahnhof. Bei diesen drei Ausgabestellen werden dann bedürftige Menschen und Obdachlose mit Essen versorgt. Je nach Wetterlage sind das täglich um die 80-100 Personen, die auf Brot und Tee warten. Den VinziBus gibt es in Graz, Klagenfurt, Salzburg, Innsbruck und auch über Österreich hinaus in Bozen, Odessa, Antalya und Bratislava. Gerold Zima fährt den Bus in Graz seit vier Jahren. Er ist 22 Jahre alt und hat während seines Zivildienstes beim VinziDorf die Freude an der ehrenamtlichen Arbeit entdeckt: „Es ist schön, dass man den Menschen etwas geben kann, das sie gerade brauchen, ob Brot und Tee oder einfach nur zuhören.". Als ihm eine Kollegin anbietet, mit dem VinziBus mitzufahren, stimmt er zu, auch wenn der Grund dafür eigentlich ein trauriger ist: „Die waren eine Gruppe von vier Leuten und eine von ihnen hat dann Selbstmord begangen, dann haben sie halt wieder jemanden gesucht, der mitfährt." Gerold erzählt, dass es zwar eine schöne Arbeit sei, aber trotzdem auch eine Belastung, die man oft mit nachhause nehmen würde. „Darum fahre ich immer nur einmal in der Woche oder auch nur alle zwei Wochen mit dem Bus, um einen gewissen Abstand zu bekommen."
Eine Nacht mit dem VinziBus ist von vorne bis hinten durchgeplant und beginnt damit, dass erst einmal der Proviant abgeholt werden muss. Den ersten Stopp legt der VinziBus beim Krankenhaus der Barmherzigen Brüder ein, wo Gerold Zima die belegten Brote und den gezuckerten Früchtetee abholt. Beim VinziDorf holt er noch Brote und süßes Gebäck von der Bäckerei AUER ab, danach ist noch kurz Zeit für eine Zigarette und einen Kaffee.
Ein älterer Mann, gebückte Körperhaltung und ebenfalls einen Glimmstängel in der Hand, bleibt vor ihm stehen: „Ich komme gerade von einem Heavy-Metal Konzert, weißt du?", nickt ihm der Mann lachend zu und geht zurück zu seinem Container. Im VinziDorf können obdachlose Menschen in Baucontainern zu je 6 Quadratmetern schlafen und haben so ein Dach über dem Kopf. Gerold erzählt: „Das ist der Heli, Helmut, der macht immer die Führungen hier im VinziDorf, das ist wie in einem Kabarett. Der hat an der TU studiert, ist Diplomingenieur für Elektrotechnik und leidenschaftlicher Gitarrist. Hatte eine Familie und einen super Job, dann ist sein Bruder gestorben und sein Vater kurz darauf. Die Frau hat ihn verlassen, und das hat ihn komplett aus der Bahn geworfen." Gerold schüttelt betroffen den Kopf. Eine Geschichte, die ihm sehr nahegeht. Wenige Sekunden später packt er die Kisten mit den Broten ins hintere Abteil des Busses und ist wieder ganz auf seinen routinierten Ablauf konzentriert: „Es ist wichtig, dass man nicht zu früh, aber auch nicht zu spät zu den Ausgabestellen kommt, sonst ist entweder noch niemand dort, oder alle sind schon wieder gegangen."
Alle, die hier im Augarten in der Kälte stehen, sind bedürftig, und daher für die Hilfe besonders dankbar. Da ist Samir, der ursprünglich aus Ägypten stammt, aber seine große Liebe in Österreich, in der Steiermark, gefunden hat. Er trägt Sandalen ohne Socken bei eisigen Temperaturen, eine Jogginghose und dazu eine dicke Jacke. Aufgeregt erzählt er von seinem ersten Treffen mit seiner Frau: „Sie ist zu mir ins Taxi gestiegen, wir haben uns die ganze Fahrt lang unterhalten, dabei habe ich mir überlegt, wie ich sie fragen soll, ob wir uns wiedersehen. Ich habe zu ihr gesagt, du musst nicht ‚ja' sagen, aber möchtest du vielleicht einmal etwas Essen gehen, oder ich koche uns etwas bei mir zuhause?" Seine Augen leuchten, während er erzählt. „Kurz bevor sie aus dem Taxi ausgestiegen ist, sagte sie:, Ja, ich komme zum Essen vorbei', und dann habe ich für uns gekocht." Samir erzählt, sie hätten eine wundervolle Beziehung gehabt. Immer wieder betont er, dass er ihr sehr dankbar sei, vor allem für ihr Verständnis. Vor gut fünf Jahren ist Samir dann in die Spielsucht gerutscht. „Bei der Spielsucht ist das viel schlimmer als bei anderen Süchten. Du verlierst zusätzlich zu deinem Stolz auch dein ganzes Geld."
Der Bus hält beim Jakominiplatz. Es ist kurz vor 21:00 Uhr, noch sind nicht viele Menschen da. Gerold erklärt: „Der Hauptbahnhof ist eigentlich der Hotspot, gleichzeitig aber auch das Problemviertel. Da sind auch die meisten Leute. Da hab' ich schon alles gesehen, Prostituierte, Obdachlose, aber auch Studenten. Da siehst du den Menschen auch an, dass sie teilweise bei den niedrigsten Temperaturen draußen schlafen." Der Jakominiplatz ist hell beleuchtet und um diese Uhrzeit noch sehr belebt. Langsam trudeln auch die Menschen ein, die wegen der Essensspende kommen. Ein älterer Mann, er trägt einen alten Pullover und eine hochgekrempelte Cordhose, fragt nach einem Becher Tee: „Gibt es den nicht auch ungesüßt? Ich mag keinen süßen Tee." Gerold fängt an zu lachen: „Da darf man nicht so wählerisch sein Rudi, Hauptsache er ist warm, oder?" Rudi nimmt widerwillig einen großen Schluck vom gesüßten Tee, verzieht kurz das Gesicht und fragt dann nach einer Zigarette. Beim Rauchen fängt er an zu erzählen: „In meinem Job hab´ ich immer telefoniert, den ganzen Tag. Das war hektisch, aber es hat auch Spaß gemacht. Ich hab´ gerne gearbeitet, aber irgendwann hat mich dann der Krebs nicht mehr arbeiten lassen."
Die Vinzenzgemeinschaft Eggenberg in Graz ist eine ständig wachsende ehrenamtliche Organisation. 38 VinziWerke gibt es derzeit, darunter auch den VinziBus. Das Engagement kommt vor allem von den aktuell 750 ehrenamtlichen Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern. Gerold Zima kann über seine Fahrten unendlich viele Geschichten erzählen, nicht immer sind sie schön: „Es ist ein bereicherndes Hobby, die Leute sind immer nett, manchmal gibt es aber auch Besoffene, die einen anmaulen, aber da muss man drüberstehen." Während der Weiterfahrt zur nächsten und letzten Ausgabestelle, Hauptbahnhof Graz, erzählt Gerold von brenzligen Situationen. Zum Beispiel, als ein alkoholisierter Mann einmal bei der Essensausgabe wütend geworden ist und sein Messer aus der Jackentasche geholt und ihn damit bedroht hat. „Da darf man dann auch nicht den Helden spielen, da muss man sofort die Polizei holen und in der Situation versuchen ruhig zu bleiben", erklärt er.
Um 21:30 Uhr kommt der Bus schließlich beim „Hotspot" Hauptbahnhof an. Tatsächlich stehen hier mehr Menschen, als bei den vorherigen Stationen. Vielen von ihnen sieht man an, dass sie obdachlos sind. Die Kleidung ist abgenutzt und löchrig, die Haut im Gesicht rot und irritiert, vermutlich durch die Kälte. Reden möchten die Menschen hier nicht. Schweigend, höchstens mit dem Kopf nickend nehmen sie sich Brot und Tee. Oft kommen sie noch ein zweites Mal zum Bus, um sich eine Essensreserve für die Nacht mitzunehmen. Zwei junge Männer, beide mit einem großen Rucksack am Rücken, fragen zögerlich und mit gebrochenem Deutsch, ob das Essen hier zur freien Entnahme sei. Sie erzählen, dass sie vor ein paar Stunden direkt aus Kroatien hier angekommen seien, um ihren Bruder, der in Graz lebe, zu besuchen. Das Geld hätte gerade noch für die Busfahrt gereicht, Jobs hätten sie derzeit keine. Als Gerold ihnen jeweils zwei belegte Brote in die Hand gibt, bedanken sie sich freundlich: „Das ist ein sehr gutes Brot, Dankeschön."
Es ist kurz vor 22:00 Uhr, der Bus steht wieder eingeparkt vor dem VinziTel in der Lilienthalgasse 20a. Eine Kiste mit Broten ist übriggeblieben. Gerold Zima stellt die Kiste ins Foyer der Notschlafstelle. „Wenn etwas übrigbleibt, lasse ich das immer für die Bewohner da, die freuen sich."
Gerold Zima lässt zum Abschluss die Geschichten dieser Nacht bei einem Glas Bier noch einmal Revue passieren, das ist mittlerweile zu einer Art Ritual für ihn geworden.
„Diese Menschen sind für mich wie Freunde geworden", sagt Gerold Zima bevor er den letzten Schluck seines Biers nimmt. Dann zeigt er auf die Uhrenanzeige auf seinem Handy Display. „Auch wenn ich nachts heimgehe und wieder in mein eigenes Leben zurückkehre."