Omi ist eben doch ne Umwelt-Sau
Es war der Aufreger vor Silvester. Der Westdeutsche Rundfunk (WDR) hatte auf den sozialen Netzwerken ein Video von einem Kinderchor gepostet. In diesem haben sie das alte Kinderlied mit der Oma, die im Hühnerstall Motorrad fährt, in einer umgedichteten Fassung zum Besten gegeben.
In der neuen Version singen die Kinder dann unter Anderem: „…
meine Oma ist ne alte Umwelt-Sau“. Und das ist völlig richtig. Denn wenn man im
Hühnerstall Motorrad fährt, dann ist diese Bezeichnung nichts, als eine
Feststellung. Das gilt im Übrigen auch für alle weiteren Strophen.
Ich gebe zu: Es wird hier eine Referenz zu aktuellen
Geschehnissen und so manchem Klima-Leugner aufgebaut. Doch das war nicht nur
richtig, wichtig und gut: Damit hätten die Schöpfer des Videos und die sprichwörtlichen
„getroffenen Hunde“ leben sollen. Denn das ist genau das, was ein Kunstprodukt
machen muss. Es muss den Finger in die Wunde legen. Es muss zeigen, wie viele
„Umweltsäue“ wir da draußen haben. Künstler haben bereits vor über 100 Jahren Gesellschaftskritik
abgebildet, und das müssen sie auch weiterhin tun. Das Zeigt uns auch der Blick
auf ein konkretes Beispiel aus der Vergangenheit.
Der heute berühmte Künstler George Grosz hat mit seinem Bild
„Stützen der Gesellschaft“ aus dem Jahr 1926 ebenfalls bewusst provoziert.
Anstatt eines Gehirns der von ihm abgebildeten Regierungspersönlichkeiten und ebenso
hochrangigen Offiziere, hat er ihnen Fäkalien unter die (nicht vorhandene)
Schädeldecke gemalt. Ein klares Statement, was er von der Intelligenz der
Regierung hielt. Das eckte an. Das provozierte.
Dasselbe passiert auch heute. Kunst eckt an. Kunst
übertreibt. Kunst spitzt zu. Kunst hält der Gesellschaft den Spiegel vor. Das darf, nein, das muss sie sogar. Denn Kunst
muss frei sein, um seine gesellschaftliche Rolle übernehmen zu können. Wenn
bestimmte Themen nicht aufgearbeitet werden dürfen, wie sollen sie Gegenstand
einer Debatte in einer freien Demokratie sein?
Wenn ein Kinderchor eine Oma als „Umwelt-Sau“ besingt, dann
passiert das im Rahmen eines künstlerischen Ausdrucks. Es verarbeitet
zeitgenössische wichtige Themen und bildet diese mit modernen Stilmitteln wie
dem Bewegtbild ab. Würden wir in den 20er Jahren leben, wäre es wohl wieder ein Bild geworden.
Es zeigt auf, wie gedankenlos und geradezu gleichgültig manche Menschen die Meinung vertreten: „Das war schon immer so, also muss das so bleiben“. Würden wir nach diesem Motiv operieren, hätten wir Menschen nie die Apartheid hinter uns gelassen. Wir würden noch immer in einer Monarchie leben und hätten keinerlei gesellschaftlichen Fortschritt.
Vor diesem Hintergrund ist es äußerst bedenklich, dass der
WDR das Video nach der Kritik von ein paar lauten Querulanten, die nicht
begriffen haben was Kunstfreiheit bedeutet, zurückgezogen hat. Die
Entschuldigung des WDR-Intendanten ist da beinahe nur das traurige Nebenspiel,
wenn auch der letzte Akkord einer traurigen Sonate.
Das letzte Mal als sich Künstler wegen ihrer Kunst
entschuldigen mussten, zu Kreuze krochen und sich für alles und jeden
rechtfertigen mussten, war in der Zeit vor der größten industriellen Tötung der
Menschheitsgeschichte. Und der Rückzug des WDR war ein weiterer bedenklicher
Schritt in diese Richtung. Denn wenn Kunst nicht mehr anecken und provozieren
darf, wofür brauchen wir sie dann noch?